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Das Hören in sein Recht setzen

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Zum Tod des Komponisten Gerald Humel
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Die Musik, die Neue zumal, mit der in diesem Fall auch die des 20. Jahrhunderts gemeint ist, werde als abstrakte Kunst wegen der Dominanz des Visuellen in unserer Kultur weniger akzeptiert als die Tonkunst vergangener Jahrhunderte. So hat Gerald Humel in Gesprächen wiederholt die aktuell eher marginale Rolle von Kunstmusik zu erklären versucht. Eine persönliche Antwort auf diese Problematik hat der am Freitag, dem 13. Mai, unerwartet verstorbene Komponist aus Berlin mit seiner Musik gegeben – mit einer Musik, durch deren subtile Ausformung Gerald Humel das Hören neu herausfordern und in sein Recht setzen wollte.

Vielleicht ist die Klangwelt des am 7. November in Cleveland/Ohio geborenen Komponisten insofern zu verstehen als die Reaktion auf die Erfahrungen, die er in der us-amerikanischen Gesellschaft machte, in der er aufwuchs und die von allen Kulturen der Moderne wohl am stärksten von der Dominanz des Visuellen (und des Konkreten) geprägt ist. Dabei ist sein Werk sowohl von Abgrenzung wie auch von der Anknüpfung an diese Kultur geformt. Was Irene Lehmann in einem Essay über das „amerikanische Erzählkino“ sagt, dass es nämlich die „Struktur des europäischen Dramas“ adaptiert und sich so gegen die von postmoderner Beliebigkeit propagierte „Zerstörung der Form“ gewendet habe, das gilt sinngemäß auch für die Musik Gerald Humels.

Das Spannungsverhältnis Europa – USA wird auch in der Biografie Humels deutlich, in der die Entscheidung, nach Berlin zu gehen, wo er 1960 als Fulbright-Stipendiat Schüler von Boris Blacher und Josef Rufer wurde, einen zentralen Punkt markiert. Zuvor hatte der Komponist ab 1943 am Oberlin-Conservatory, am Royal College of Music in London, an der Hofstra University und an der University of Michigan unter anderem bei Ellie Siegelmeister, Ross Lee Finney und Roberto Gerhard Komposition und Querflöte studiert. Von letzterem zeugt unter anderem das virtuose Flötenkonzert von 1961. Berlin war ab 1960 Lebensmittelpunkt des Komponisten, 1980 wurde Gerald Humel Mitglied der (damals Westberliner) Akademie der Künste.

Man könne seine Musik als eine narrative bezeichnen – diese Aussage von Interpreten und Kritikern hat Gerald Humel des öfteren als treffende Beschreibung seiner Tonwelt zitiert, und dieser Idee von Musik ist er sein Leben lang treu geblieben. Seine Kompositionen sind hochexpressiv und von Kontrasten bestimmt, voll Reichtum der Farben und Klänge, fast melodische, lyrisch-sensible Passagen wechseln mit solchen, in denen akkordische Brechungen und Akzentuierungen des Verlaufs aufstören, immer wieder finden sich überraschende Wendungen. Im Dienst dieser von Atonalität ausgehenden, dramatischen Welt steht die bis ins letzte Detail strukturierte Textur. In ihren kontrapunktischen Netzen und rhythmischen Irregularien, in der Vielfalt ihrer Variationsreihen, der Konsequenz ihrer motivischen Entwicklungen, in der Strenge der formalen Abläufe und der Proportionen, finden sich subtile Anspielungen und Anknüpfungen an die traditionelle Formenwelt. Die Unbefangenheit der Gesten, in denen dies geschieht, erinnert an jenen Effekt, den Klaus Theweleit anhand der Begegnung von Tschaikowskys „Nussknacker“-Suite mit der Bilderwelt von Disneys „Fantasia“ beschreibt: Die Musik verliere in ihr einen „mitkomponierten Ballast an Geschichts-Schwere“.

Anknüpfungen an die Tradition bedeuteten für Gerald Humel nicht, diese auf neoromantische Art zu reproduzieren, von postmoderner Beliebigkeit grenzte er sich scharf ab: Zuviel „Sound“, zuwenig Inhalt und Individualität. Dagegen setzte der Komponist so diffizile wie virtuose Strukturen, die Herausforderung für Interpreten wie für Hörer sind, Strukturen, die immer neue Aufmerksamkeit für das Detail erwarten. Darin gleichen sich die Oper „Heinrichs Fieber – Eine Kleist-Vision“ (1994, Libretto. Thomas Höft), der Zyklus „Universum“ für Klavier (1981-90), „Chiaroscuro“ für Violine solo (1982) oder das Klaviertrio „Herbst 95“. „Ich will keine statische Musik komponieren, sondern eine, die den Zuhörer ständig in ihrem Bann hält und ihn auffordert, dem Fluss der Ausarbeitung zu folgen“, schrieb der Komponist 1998 in einem Text über die Perspektiven Neuer Musik. Als Mittel, Aufmerksamkeit zu wecken, setzte Humel in seiner Kammermusik, die in den vergangenen Jahren den Großteil seines Schaffens ausmachte, häufig auch ungewöhnliche Besetzungen (etwa Trios für Flöte, Harfe und Violoncello) ein.

Einen besonderen Stellenwert im Werk Gerald Humel hat die Ballettmusik, Musik einer Gattung, der die Frage nach dem Verhältnis von Bild und Klang eingeschrieben ist. Zu nennen sind vor allem „Die Folterungen der Beatrice Cenci“ (1971) und „Lilith“ (1972), beide kürzlich auszugsweise wiederveröffentlicht. Die Choreographien für „Die Folterungen der Beatrice Cenci“ und „Lilith“ hatte Gerhard Bohner besorgt, dem Gerald Humel mit „glaube zu erinnern...“ für Violoncello solo (1985) ein bewegendes Epitaph geschrieben hat. Zwei weitere Ballette entstanden später in Zusammenarbeit mit Arila Siegert: „Othello und Desdemona“ (1988, ausgezeichnet mit dem Carl-Maria von Weber-Preis) und „Circe und Odysseus“ (1991).
Mit „Lilith“, vor allem aber mit den „Folterungen der Beatrice Cenci“ ist der Komponist einem größeren Publikum bekannt geworden. Die beiden Ballettmusiken sind von einer eigenwilligen Tonsprache, in der sich aus extremen Kontrasten zwischen einzelnen clusterähnlichen Klangereignissen, die von intensiver Farbigkeit geprägt sind, große, quasi melodisch funktionierende Spannungsbögen ent-wickeln. Mit diesen Mitteln stellen sie sich der Frage nach dem Verhältnis von Bild und Musik und erzwingen eine Gleichberechtigung beider. Humel selbst hat den Begriff des „symphonischen Balletts“ geprägt, um diesen Prozess zu beschreiben.

Diese Musik, in der Einflüsse Varèses und der Zweiten Wiener Schule aufscheinen, ist keine Musik einer heilen Welt. In ihr finden Gewalt und Aggression genauso wie tiefe Verzweiflung ihren Ausdruck. Und in dieser Zerrissenheit, indem sie sich einer falschen Versöhnung widersetzt, beharrt Gerald Humels Musik in einem Akt des „Trotzdem“ auf der aufklärerischen Idee des Subjekts als „selbstbewusst handelnden und deshalb auch selbstverantwortlichen Menschen“, auf dem Subjekt als dem „trotz seiner objektiven Fragmentiertheit einzigen Ausgangspunkt für jede Bemühung um Wahrheit“ (Irene Lehmann). Diese zentrale Stellung des Subjekts spiegelt sich in der Musik, indem diese auf der Priorität des (aktiven) Hörens vor dem (konsumierenden) Sehen insistiert.

Auch deswegen beharrte Gerald Humel darauf, dass Musik „eine Entdeckungsqualität“ haben müsse, wie er in einem Gespräch über die Kriterien sagte, nach denen die Gruppe Neue Musik die Programme zum Beispiel ihrer berühmt gewordenen „Großen Berliner Nachtmusiken“ gestaltete. Um Entdeckungen ging es auch in der nichtöffentlichen Arbeit der Gruppe, zu der nicht nur die sechs Komponisten gehörten, die sie 1966 gegründet hatten. „Jeder von uns“, sagte Gerald Humel darüber 1996, „hat sehr, sehr viel durch die Zusammenarbeit mit den Interpreten gelernt“. Die von gegenseitigem Respekt getragene Zusammenarbeit mit Interpreten zu pflegen, hat der Komponist auch später nie aufgehört.

Gerald Humel hat die Offenheit, Unbefangenheit und Neugier, die seine Arbeit in der Gruppe Neue Musik bestimmten und die von seinem amerikanischen Hintergrund mindestens so sehr geprägt sind wie von der Atmosphäre der 60er-Jahre, nie aufgegeben. Aus dieser Haltung setzte er sich für jene Neue Musik ein, deren ästhetischen Maximen er nicht folgte – nicht um Diskussion oder Streit zu vermeiden, sondern um sie zu ermöglichen. Offenheit bestimmte auch seine Haltung zum Publikum: „Wir wollten aus diesem Kunsttempel-Denken raus, die Angst vor neuer Kunst abbauen“, benannte er im Rückblick ein zentrales Anliegen der Gruppe Neue Musik. Dieses findet sich ab 1986 auch in der Tätigkeit des Komponisten als Leiter des Festivals „Schreyahner Herbst“ im niedersächsischen Lüchow-Dannenberg, an dessen Gründung er federführend beteiligt war. Im Jahr 2000 musste er die Leitung abgeben, knapper werdende (um nicht zu sagen verknappte) Finanzmittel des Landes hatten ihn zu diesem Schritt bewogen. Erst mit der Uraufführung des Liederzyklus „Visionen“ nach Gedichten von Nicolas Born im Vorjahr erklang wieder Musik Humels in Schreyahn. Seine Aktivitäten in der dortigen Region, wo er seit 1986 ein Haus hatte, setzte er in kleinerem Rahmen, etwa im halböffentlichen „Musiksalon Dünsche“, fort. Immer ging es dabei um die ganze Welt der Musik.

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