Würzburg. Mit großen Namen startete das Studio für Neue Musik, das jährlich rund sechs Konzerte veranstaltet, ins Jahr 2019. Kein Geringerer als Irvine Arditti, Gründer und Primarius des bekannten Arditti Quartetts, präsentierte im eröffnenden Violin-Soloabend Musik namhafter internationaler Komponisten. Über Musik der US-Amerikaner David Felder und Roger Reynolds sowie des Engländers James Clarke steuerte das Konzert kontinuierlich auf seinen (Schluss-)Höhepunkt zu: die feinnervigen, virtuosen „6 Capricci“ des Italieners Salvatore Sciarrino. Dazwischen standen Werke von Christoph Wünsch und Robert HP Platz auf dem Programm – quasi als Gruß an die Hochschule für Musik Würzburg, die den Konzerten des Studios seit Langem eine Heimat bietet.
Der musikalisch-literarische Abend „Kafka hören“, konzipiert von Klaus Hinrich Stahmer, setzte das Jahresprogramm fort. Franz Kafka, der bekannte Unbekannte unter den Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, nannte sich zwar selbst unmusikalisch, seine Briefe und Texte jedoch regten eine ganze Reihe namhafter Komponist/-innen zu Vertonungen und nonverbalen Hommage an. In einem großen Spannungsbogen ohne Pause stellte der Abend den beziehungsscheuen Schriftsteller, der permanent mit sich selbst kämpfte, in all seinen Facetten vor: zweifelnd, depressiv, humorvoll. Ausführende waren Studierende der Hochschule für Musik Würzburg.
Das interessierte Publikum wurde optimal auf die verschiedenen Musiken vorbereitet, da Schauspieler Adam Nümm (engagiert bis überengagiert) alle Texte zunächst rezitierte. Auch die Sänger hatten sich eingehend mit Kafkas Texten befasst, sie vorher per Textanalyse quasi in sich aufgesogen – was ihren Interpretationen ungewohnte Intensität verlieh. Alexander Fleischer, pianistischer Betreuer und Korrepetitor der Würzburger Liedklassen, eröffnete mit zwei transparent gespielten Klavier-Solostücken des Tschechen Petr Eben, inspiriert von Kafkas „Briefen an Milena“. Die Journalistin Milena Jesenská hatte einige Texte Kafkas ins Tschechische übersetzt, was zu einer engen, überwiegend brieflichen Beziehung zwischen den beiden führte. Ebenfalls ohne verbale Zitate kommen Tzvi Avnis „5 Variations for Mr. K.“ für Schlagzeug und Zuspielband aus (konzentrierte Solistin: Jinyoung Hong). 1927 in Saarbrücken geboren und bereits als Kind nach Israel emigriert, macht Avni hier die innere Zerrissenheit des Schriftstellers hörbar. Als Reminiszenz an seine Heimatkultur flicht der Komponist dabei Zitate aus Bachs „Musikalischem Opfer“ und Mahlers „Auferstehungssinfonie“ ein, was anrührende Wirkung entfaltete.
Das Textbewusstsein, mit dem Sopranistin Yaewon Yun Ernst Kreneks „Fünf Lieder nach Texten von Franz Kafka“ sang, löste ein intensives inneres Nachlauschen und -sprechen aus. „Noch spielen die Jagdhunde im Hof, aber das Wild entgeht ihnen nicht, so sehr es jetzt schon durch die Wälder jagt.“ Diese und andere Worte brachte Kafka – mehr suchend als findend – während des Ersten Weltkrieges zu Papier.
Atmosphärisch dicht, mit existentieller Eindringlichkeit interpretierten Franziska Bader (Sopran) und Michiru Soeda (Violine) György Kurtágs „Kafka-Fragmente“. „Ich kann nicht eigentlich erzählen, ja fast nicht einmal reden“ bahnte sich mühevoll stammelnd und bruchstückhaft seinen Weg nach draußen. „Der Weg geht über ein Seil. Es scheint mehr bestimmt, stolpern zu machen, als begangen zu werden.“ Hier umschlangen sich Violin- und Sopranstimme gegenseitig, griffen über- und untereinander, rieben sich knirschend, um sich bald darauf wieder voneinander zu lösen.
Dass Kafkas Texte überlebt haben, ist allein der Indiskretion seines Freundes Max Brod zu verdanken: Während Kafka all seine Werke vernichtet wissen wollte, hat Brod sie aufbewahrt und an die Öffentlichkeit gebracht. Auf ausgewählte Texte komponierte er die zwei spätromantisch anmutenden Lieder „Tod und Paradies“. Im versöhnlichen „Paradies“ konnte Yaewon Yun ihre kraftvolle Stimme aussingen und Stärke auch in weiten Bögen beweisen.
Ruth Zechlins „Musik zu Kafka“ für Schlagzeug solo (Myeongjo Son) ist eine wortlose Umsetzung früher Kafka-Texte, die man sich – so man wollte – zur Musik hinzudenken konnte. Etwa den Monolog „Der Ausflug ins Gebirge“, der mit bizarrem Sprachwitz den Begriff „Niemand“ erforscht. Oder eine Skizze über Schein-Beschaffenheiten im Schnee („Die Bäume“). Mit gedämpften Becken, Gongklängen und dem silbrigen Glitzern der Wind Chimes spürten Komponistin und Solistin hier Kafkas Ahnungen nach.
Den grotesken Höhepunkt bildete der letzte Teil des Abends. Hier durfte man erstmals einen längeren Text Kafkas am Stück hören, in dem sein innerer Kampf (und Witz!) am greifbarsten zu Tage trat. Der Österreicher Peter Androsch hat seine Oper „Die Goldküste“ nach Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie“ erst letztes Jahr herausgebracht. In Würzburg stand die Opernszene „Eine Schulstunde“ auf dem Programm, in der Affe und Dompteur sich abmühen, dem Affen Menschendeutsch beizubringen. Bariton Elias Wolf brillierte hier sowohl als Sänger-Sprecher wie als Schauspieler, stammelnd und sinnverwirrend immer wieder ins Äffische zurückfallend. In Jan Müller-Wielands „Rotpeters Trinklied“ schließlich, dasselbe Sujet aufgreifend, warf sich Wolf mit äußerster Konsequenz und Kompromisslosigkeit hinein – ständig schwankend zwischen Mensch und Affe.
Immer wieder schien er in Körper und Geist eines streitlustigen Schimpansen hineinzuschlüpfen, gab dessen Kreischen und wilde Sprünge nahezu authentisch wieder. Fast zu erwarten also, dass Wolf mit dieser außergewöhnlichen Leistung polarisieren würde: Faszination, Befremdung, heftiger Applaus.