Zum wiederholten Male war der baden-württembergische Tonkünstlerverband gut beraten, die faszinierende Pianistin und Pädagogin Julia Goldstein zu einem Workshop einzuladen. Diesmal ging es um das Phänomen der „Russischen Schule“ aus pianistischer Sicht. Es dürften wohl schon die meisten interessierten Instrumentalisten und Ausbilder im Klavier- und Streicherbereich auf diesen Begriff gestoßen sein, beziehungsweise hat man vage Vorstellungen davon und so war das Interesse der Zuhörerschaft, die aus allen Teilen Baden-Württembergs, aber auch aus Augsburg und selbst Hannover angereist war, dementsprechend groß.

Workshop bei Steinway & Sons in Stuttgart. Foto: Ralf Püpcke
Musikalische Ausarbeitung steht im Vordergrund
Nach einer kurzen Begrüßung im Stuttgarter Steinway-Haus durch Geschäftsführer Ralf Püpcke und die Kursleiterin, gab es Gelegenheit für alle Anwesenden, sich kurz vorzustellen und eigene Vorstellungen zum Thema zu formulieren. Hier zeigte sich sehr schnell, wie unterschiedlich Wahrnehmung oder Vorurteil zum Thema „Russische Schule“ sein können. Begriffe wie „Drill“, „sportliche Virtuosität“, „charakteristischer Klang“, „großer Ton“ oder „immenser Krafteinsatz“ kamen auf, wie allgemein auch die Feststellung großer Unterschiede in der pädagogischen Situation der russischen Institute im Vergleich zu Einrichtungen in westlichen Ländern. Allgemein einig war man sich allerdings über den Erfolg dieses pädagogischen Systems und es wurden Erinnerungen an Namen wie Nikolai Medtner, Sergej Rachmaninov, Alexander Scriabin, Heinrich Neuhaus, Svjatoslav Richter, Vladimir Horowitz oder gegenwärtig Grigory Sokolov und bis hin zu Daniil Trifonov wach.
Was bedeutet nun eigentlich „Russische Klavierschule“? Ist es nur das bekannte Notenbuch in 3 Bänden? Oder steckt hinter diesem Begriff viel mehr? Gibt es auch eine „Französische oder Spanische Klavierschule“? Weshalb wird eine nationale Benennung für eine Klavierschule benutzt?
Julia Goldstein wies gleich zu Beginn darauf hin, dass es sich bei „russischer Klavierschule“ um ein Konglomerat handelt, gewachsen durch Einflüsse international angesehener Künstler aus ganz Europa, wie etwa den Iren John Field, der sich lebenslang in St. Peterburg niederließ. Für die vergangenen 100 Jahre erweiterte sie den Begriff um „sowjetische Schule“.
In einem detaillierten geschichtlichen Überblick ging sie nun weit zurück in das 14./15. Jahrhundert, wo portugiesische Priester und Mönche für ihre Gottesdienste ein erstes Tasteninstrument entwickelt hatten, für das sie Begleitungen komponierten, um Gesänge bei Gottesdiensten zu unterstützen.
Schon damals wurden Anweisungen zu Spielweisen schriftlich festgehalten, die heute noch am Klavier durchaus aktuell sind, wie „richtige Handhaltung“, „guter Anschlag“, „sauberes und deutliches Spiel“, „wie sollte die Handführung beim Spiel einer Tonleiter sein“, „richtiger Fingersatz“, „Ausführung von Trillern“, und „guter Geschmack beim Musizieren“. „Hier können wir die ‚Geburt‘ der Klavier-Pädagogik und Methodik sehen“, so Goldstein.
Der Gang durch die Geschichte zeigte weiterhin Einflüsse der französischen Meister des Clavecins, wie François Couperin und Jean-Philippe
Rameau und führte hin zu C.Ph.E. Bach, der als einer der ersten Wegweiser zur entscheidenden Entwicklung der emotionalen Interpretationen in musikalischen Darbietungen gilt. Nach Muzio Clementi, einem der ersten und herausragendsten „Pioniere“ des damals modernen Klavierspiels, mit seiner „Londoner“ Klavierschule, Louis Adam, der einer „Pariser“ Klavierschule ein Gesicht gab, und der Methodik des Tschechen Carl Czerny betrachtete sie die Entwicklung des Klavierbaus mit immer neuen Ausdrucksmöglichkeiten, etwa durch die Pedalisierung und der Entwicklung der Instrumente durch neue Klavierfabriken wie Blüthner, Bechstein und Grotrian-Steinweg, später auch Steinway & Sons in den USA.
Goldstein beschrieb nun die Konzentration vieler Komponisten und Musiker auf die neu gegründeten Konservatorien in Moskau und St. Petersburg durch die Brüder Rubinstein. Anton und Nikolai Rubinstein haben den Grundstein für die endgültige Tradition Russischer Klavierschule gelegt. Im Vordergrund stand immer die musikalische Ausarbeitung der gespielten Werke, jedoch wurde der technische Aspekt nie in den Hintergrund gestellt.
Anton Rubinstein hatte das Petersburger Konservatorium mit Theodor Leschetizky 1862 gegründet. Leschetizky gilt heute neben Nikolai Rubinstein als Ahnherr der sogenannten „Russischen Schule“ des Klavierspiels. Zu den bedeutenden Pianisten und Komponisten des frühen 19. Jahrhunderts gehörte John Field. Er war einer der herausragendsten Schüler von Muzio Clementi. Fast alle professionellen Pianisten wie auch Laien aus adeligen Häusern haben bei Field gelernt. Field widmete große Aufmerksamkeit der Dynamik; Tonleitern, Akkorden und Arpeggien wie auch besonderen Übungen. Sie waren ein wichtiger Bestandteil seiner pädagogischen Methode. Jede Passage sollte durchdacht und mit dynamischem Sinn gespielt werden. So bekamen auch schnelle Passagen interpretatorische Aussage, und waren nun nicht mehr belanglos nur aus den Fingern heraus gespielt.
Die Russische Klavierkunst des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts hat ihren hochangesehenen Ruf durch herausragende Künstler-Interpreten wie auch durch die immer fundiertere Pädagogik erlangt. Diese mehr als 100-jährige Entwicklung sollte in zwei Perioden gesehen werden. Die erste Periode ab dem Ende des 18. bis zu den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts brachte viele große Reformen wie auch den Beginn von bürgerlichen Kultureinrichtungen des Staates, wo nun das laienhafte Musizieren in Mode gekommen war.
Die zweite Periode der Entwicklung verdankt die Russische Klavierschule der Gründung der beiden Konservatorien wie auch von weiteren Ausbildungsstätten, also vergleichbar mit den heutigen Fachoberschulen, in St. Petersburg und in Moskau. Mit dem Ziel, auch dem bürgerlichen Volk eine allgemeine musikalische Bildung zu ermöglichen, wurde im 18. Jahrhundert in den allgemeinbildenden Schulen der Musikunterricht eingeführt.
In der Folge wurden in weiteren Großstädten Russlands Musikausbildungsstätten eröffnet, wo nicht nur Adlige Zugang hatten, sondern auch begabte Jugend aus dem bürgerlichen Milieu. Viele Instrumental-Schulen, Lehrmaterial und methodische Schriften über die „Regeln der Harmonik und Melodik“ aus dem Ausland, wurden in Russland veröffentlicht. So auch Klavierspiel-Schulen von Clementi oder Steibelt. Goldstein ging nun in vielen Bereichen in die Tiefe, schilderte Forderungen von Virtuosen wie Anton Rubinstein, Liszt oder Chopin, auch Schumann oder Busoni im 20. Jahrhundert, beleuchtete die durch das Virtuosentum weiter entwickelte Pianistik und berichtete von Schriften, wie auch Büchern zur Musiktheorie, die an den russischen Konservatorien von vielen Autoren ständig verfeinert wurden.
Zeitgleich wurden ebenso Klavierschulen von russischen Verfassern veröffentlicht, die mehr an die Bedürfnisse der Russischen Musik angepasst wurden. So begann die pianistische Erziehung der Russischen Klavierschule mit Stücken, in welchen viele Themen aus russischen Volksliedern verwendet wurden. Auch sollten die Übungen auf die Rhythmen, Artikulationen und den Klang der russischen Lieder abgestimmt werden. Natürlich kamen auch viele Klavierschulen aus dem Ausland in Gebrauch, aber das Bedürfnis, eine Klavierschule der eigenen Nation zu entwickeln, war groß.
Hier ging Julia Goldstein auch auf den Aspekt der „Sowjetischen Klavierschule“ ein: in erster Linie bezieht sich der Begriff auf die reformierte Struktur der Instrumental-Pädagogik und Methodik, die nach der großen Revolution in Russland stattfand. Diese reformierte Struktur sollte nun das breite Volk für die Kunst gewinnen und an Bildung heranführen. Für die Regierung der noch damals jungen Sowjetunion war es äußerst wichtig, alle kulturellen Einrichtungen und Bildungsstätten so schnell wie möglich wieder aufzubauen, damit eine breit angelegte Kultur und inzwischen noch im zaristischen Russland gebildete Traditionen weiter und ohne große Einbußen im kommunistischen System fortgesetzt werden konnten.

Praktische Vorführung mit Klavierschülern. Foto: Olga Brychkova
Nach der Mittagspause hatte Julia Goldstein, die selbst eine Exzellenz-Klasse am „FILUM“ in Filderstadt leitet, drei Schüler eingeladen, um den Unterrichtsansatz etwas zu demonstrieren. Zunächst die Zwillinge Ivan und Nikolai Brychkov. Mit flinken Fingern spielten sie kleine Stücke, wobei Goldstein im weiteren Verlauf eingriff, die Hände der Kinder führte oder ihnen Körperhaltungen nahelegte. Wer die Kinder schon vor einem Jahr bei einem vorangegangenen Workshop erlebt hatte, konnte sich von den enormen Fortschritten der Kinder überzeugen. Goldstein führte aus, dass bereits im zarten Kindesalter von 4/5 Jahren die breitgefächerte professionelle Ausbildung beginnt, zunächst in den Vorbereitungsklassen mit Solfege, Gehörbildung, Noten lernen, Singen, Rhythmus laufen und klatschen. Das Fach „Rhythmik“ ist der allererste Anfang für jedes Kind. Dort lernen die Kinder unter Musik bestimmte Schritte zu laufen, Sequenzen zu erkennen und diese mit bestimmten Handbewegungen hervorzuheben, Höhepunkt einer melodischen Phrase zu hören zu empfinden, Charaktere und Strukturen der Musik zu erkennen. Andere Eindrücke vermittelte die junge Pianistin Moe Kniewasser, die kurz vor ihrem Musik-Abitur stand und meisterhaft Chopins Etude Op. 25, Nr. 10 vortrug. Hier konzentrierte sich Goldsteins Ansatz auf Oktavtechnik, Phrasierung und klangliche Gestaltung.
Als Fazit gab Julia Goldstein folgendes Statement: „Die ‚Russische‘ beziehungsweise ‚Sowjetische‘ Schule zeichnet sich durch die sehr frühe solistisch ausgerichtete, pädagogisch professionelle Führung und intensive Förderung aus, unabhängig vom Talent eines Kindes. Talentierte Kinder können sich in allen angebotenen Bereichen einer solchen Ausbildung mit großem Tiefgang entwickeln; die ‚normalen‘ Kinder werden zu guten Klavierspielern ausgebildet, die nach allen Regeln der pianistischen und musikalischen Grammatik spielen können, jedoch nicht unbedingt ‚nach den Sternen‘ greifen. Wenn die jugendlichen Instrumentalisten die Musikschule absolvieren und in die weiterführende Institution, das Konservatorium oder ein Musikinstitut gehen, sind sie bereits fertig ausgebildete Pianisten. Auf diese Weise haben die Professoren und Dozenten ein ‚leichtes Spiel‘ mit den Studenten, und können tatsächlich vor allem musikalisch mit ihnen arbeiten, da die instrumentalen Grundlagen zu 100 Prozent in der Schulzeit ausgebildet wurden. Jetzt gilt es am Repertoire und gutem Geschmack zu arbeiten und die angehenden Musiker reifen zu lassen. Zu allen Zeiten war es so, dass die meisten konzertierenden Künstler ihre Erfahrungen in pädagogisch-methodischen Schriften festgehalten haben. Daraus resultiert das Vermächtnis der ‚Russischen Klavierschule‘, und sicher in variierter Weise auch alle anderen nationalbenannten und entwickelten Schulen.“
Unter großem Applaus beendete Julia Goldstein ihre Ausführungen, stellte sich anschließend noch lange den vielen Fragen aus dem Publikum. Eine überaus gelungene Veranstaltung, da man mit Julia Goldstein eine Künstlerin erleben konnte, die in Moskau aufwuchs und selbst das System „russische Schule“ durchlebt hatte und somit authentische Eindrücke vermitteln konnte.
Der Autor hat am Workshop teilgenommen.
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