Als durchschnittlich musikwissenschaftlich Gebildeter kennt man natürlich den Namen Giovanni Paisiello (1740–1816), auch dass er der bedeutendste italienische Opernkomponist des 18. Jahrhunderts war und Mozart beeinflusst hatte, irgendwann hat man einzelne Nummern gehört – aber eine ganze Paisiello-Oper (von den mehr als 100)? Diese Seltenheit geschah dieses Jahr in Schloss Rheinsberg, eineinhalb Zugstunden nördlich von Berlin im Brandenburgischen Seengebiet gelegen.
Talente, historisches Ambiente und tolle Kulisse
Hier gab es in diesem Sommer gleich zehn Aufführungen von „La Molinara“ (Die Müllerin) auf das Libretto von Giuseppe Palomba (der rund 300 verfasst hatte). Sie fanden im Innenhof des Schlosses statt, dessen Säulen sich nach Westen zum Garten mit See und Ausblick auf einen fernen Obelisken mit Pyramide öffnen. Doch nicht dorthin war die Bühne ausgerichtet (wie früher), sondern diagonal im Hof positioniert mit Blick auf den Turm. Das beförderte die Konzentration auf die Bühne schon beim noch taghellen Abendlicht, ohne den seitlichen Ausblick in die arkadische Natur mit See und untergehender Sonne auszuschließen.
Vor allem aber führte diese diagonale Anordnung der Reihen für rund 500 Zuschauer zu einer erstaunlich guten Akustik, indem der Klang in den drei geschlossenen Schlosshof-Wänden gehalten wird, statt sich sofort durch die Säulen in den Garten zu verlieren. Die drei Sängerinnen und vier Sänger benötigten denn auch keine Verstärkung oder Mikroports, konnten auch mezza voce und piano singen und blieben dennoch verständlich – eine in Opernhäusern selten gepflegte Tugend! Und die seitlich postierten 17 Instrumentalisten der Akademie für Alte Musik Berlin waren klangvoll und transparent zu hören.
Historisches Ambiente
In diesem geradezu originalgetreuen historischen Ambiente des 18. Jahrhunderts präsentierte nun die Kammeroper Schloss Rheinsberg diese 1788 in Neapel uraufgeführte Paisiello-Oper, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in immer wieder neuen Versionen erfolgreich gespielt worden war. Die Rheinsberger zweiaktige Fassung basiert auf einer handschriftlichen Partitur aus dem Uraufführungstheater von 1789. Natürlich geht es in dieser Opera Buffa um verwickelte Liebeshändel und Intrigen. Die Handlung sei „völlig wirr, der Verlauf der Handlung unlogisch, die Charakterzeichnung undeutlich, die Beziehung der Personen zueinander unwahrscheinlich“, urteilt Silke Leopold in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Das Erstaunliche der Rheinsberger Aufführung ist, wie die in der geschickten Regie von Georg Quander virtuos schauspielenden Sänger*innen eine so überzeugende Präsenz in den anmutig und zweckmäßig ausgestalteten Kostümen und Bühnenbildern (Barbara Krott) entfalten und dabei den ganzen Schlosshof bespielen, dass Fragen nach der Stimmigkeit der Handlung gar nicht entstanden. Dazu trägt auch die Musik bei, denn diese „Commedia per musica“ sei „ein Musterbeispiel dafür, wie eine hervorragende Komposition die dramaturgischen Schwächen eines Librettos auffangen kann“ (Silke Leopold). Von der kurzen verspielten Ouvertüre an fesselt Paisiellos Musik das Ohr, indem sie sich einerseits in den vertrauten Bahnen der Klassik bewegt und andererseits mit neuen Wendungen in der Zeichnung der Figuren und Situationen mit unangestrengter Originalität überrascht. Der Wechsel zwischen Sologesängen, die zu Duetten werden, und größeren Ensembleszenen ist mit wirkungssicherer Dramaturgie spannend ausbalanciert. Megan Henry als die schöne Müllerin, die allen den Kopf verdreht, brilliert mit farbiger Wendigkeit und gut sitzenden Spitzentönen, Marta Fridriksdottir verleiht der Baronessa Eugenia in den Arien eher lyrische Züge, was ein finales hohes d nicht ausschließt, und Valerie Pfannkuch als ihr Kammermädchen entlockt ihrem Mezzosopran auch freche Töne. Bei den Männern besticht Friedemann Gottschlich als Notar Pistofolo mit temperamentvoll spielerischem Bass, Maximilian Vogler mit strahlendem Tenor als Don Calloandro, dagegen bleibt Don Luigino trotz des trefflichen Gesangs von Francis Ng in der Rolle des glücklosen Verehrers, während Johann Kalvelage als Gouverneur der Baronessa seiner wohltönenden Bassstimme auch kauzig komische Töne zu entlocken weiß. Die etwa 30-jährigen Sänger*innen fügen sich zu rund klingenden Ensembles, einfühlsam motivierend geleitet von Bernhard Forck, dem Konzertmeister der Akademie für Alte Musik Berlin.
„Große Talente vor grandioser Kulisse“
Dieser Slogan, mit dem sich Rheinsberg selbst feiert, trifft zu, denn sehr beachtlich ist, was sich im Sommer im „preußischen Musenhof“ entfaltet – die Prinzen Friedrich und Heinrich, deren zeitweiliger geliebter Wohnort das wunderschöne Schlossensemble am Grienericksee fernab von strenger Hofetikette war, hätten wohl ihren Spaß gehabt an dem munteren Vielklang, den Hunderte von jungen Musiker*innen und Musikbegeisterten produzieren. Sie treffen sich für Kurse, Wettbewerbe, Musiktheaterproduktionen und Experimente in unterschiedlichen Gruppierungen – alle unter dem gastfreundlichen Schirm der „Musikkultur Rheinsberg GmbH“, sei es als Landes- oder Bundesakademie, sei es als Kammeroper Schloss Rheinsberg, sei es als jeweils für ein Jahr benannte „Rheinsberger Hofkapelle“ (ein Artists in Residence Programm zur Förderung junger Ensembles für Alte Musik), sei es für besondere Produktionen. Es hat gedauert, bis die Struktur für dieses Musikunternehmen und deren verlässliche Finanzierung gefunden war, bis die Gebäude soweit instand gesetzt waren, dass sie – trotz Denkmalschutz - den Anforderungen an Bühnentechnik und Zuschauersicherheit entsprachen und doch den Charme von Sommerheater nicht verloren, und das richtige Leitungs- und Organisationsteam musste gefunden sein. Dass der fachlich und organisatorisch vielerfahrene, uneitle Georg Quander seit 2018 die künstlerische Leitung übernommen hat und nicht nur gut über die Corona-Zeit gekommen ist, sondern auch ein großartiges Händchen für Werk- und Künstlerauswahl beweist, das belegt aufs Neue der Jahrgang 2023 mit seinen Hauptproduktionen „La Molinara“ und „Fairy Queen“, die in ein ausgreifendes Gesamtprogramm mit Liederabend, Operngala, Jazz und sogar der „Müllerin“-Verfilmung von 1955 mit Sophia Loreen eingebettet sind.
Fairy Queen
Die „Fairy Queen“ von Henry Purcell, uraufgeführt 1692 in London, ist das diesjährige Ergebnis der Arbeit der Bundesakademie für junges Musiktheater (#BAJMT), in ihren Produktionsformen einzigartig und seit 2022 institutionell gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Das Prinzip: Eine Gruppe von jungen Sängern, Regisseuren, Bühnengestaltern, Technikern führen nicht das aus, was ihnen die Profis sagen, sondern sollen selbst das Material – in dem Fall Purcell und seine „Quelle“, den „Sommernachtstraum“ von Shakespeare – zu einem Musikdrama formen. Die Profis, die „Coaches“, stehen daneben und beraten und sind gespannt.
Der Regie-Coach, Sybrand van der Werf, sieht den Sinn in der Produktion, dass junge Künstler*innen, die an ihren Hochschulen viel zu wenig Möglichkeit zum Experimentieren haben, hier gemeinsam eine „frische Haltung“ zum Material finden – ganz anders als gewohnt, möglicherweise auch ganz verkehrt.
Es gelingt dem Team, das Chaos, das ja sowieso die Fairy-Queen-Geschichte bestimmt, noch weiter zu verwirren. Zwar trifft man liebe alte Bekannte, wie den hinterhältigen Puck, die Feenwelt mit Titania und dem eifersüchtigen Oberon, die immer die falschen liebenden Athener jungen Leute und die tumben Handwerker, die Pyramus und Thisbe sterben lassen, aber sie spielen auch noch Doppelrollen und tauschen Geschlechter: das Durcheinander ist komplett, die Handlung weicht einem Pasticcio. Dies bezieht sich auch auf die Musik. Purcell hat keine durchkomponierte Oper hinterlassen, sondern irgendwie geeignete Gesangs- und Musik-Nummern verwendet – als Gattung ist „Semi-Opera“ ausgewiesen; handlungstragend sind vor allem die gesprochenden Texte. Aber es gibt dennoch viel schöne Musik, von den grosso modo überzeugenden Sänger*innen und vom ausgezeichneten „Ensemble Mozaique“, der „Rheinsberger Hofkapelle“ von 2020/21, auf historischen Instrumenten vorgetragen, angeleitet von Clemens Flick.
Am Schluss des Abends meint man, Pucks Blumensaft erwischt zu haben und alles durcheinander und falsch zu sehen – oder auch nicht. Entweder man stürzt sich ins vergnügliche Chaos oder bleibt außen vor. Der Anspruch der „frischen Haltung“ ist erfüllt.
Jetzt werden die Tage immer kürzer, der Winter droht, doch danach kommt der nächste Rheinsberger Sommer: Was er genau bringen wird, ist in Planung und Vorbereitung, die in der Grundstruktur steht. Welche Besonderheiten 2024 möglich werden, hängt freilich auch davon ab, zusätzliche Geldgeber zu finden.
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