Der in Worms geborene und in Frankfurt aufgewachsene Komponist Friedrich Gernsheim (1839-1916) war zu Lebzeiten ein international hoch geschätzter Komponist, Pianist und Dirigent. Seine Werke wurden unter anderem von Hans von Bülow aufgeführt. Mit Johannes Brahms, Gustav Mahler, Max Bruch und Ferdinand Hiller war er befreundet. Rossini widmete ihm sogar ein Werk. Heute ist seine Musik kaum bekannt. Denn die Werke von jüdischen Komponisten – so auch Gernsheims Werke – wurden von den Nationalsozialisten verboten. Seine Biografie wurde den Flammen der Bücherverbrennung übergeben. Jetzt ist die zweite CD der Gesamteinspielung des Klavierwerks von Friedrich Gernsheim durch den Wiesbadener Pianisten Jens Barnieck erschienen.
neue musikzeitung: Was war der Impuls für die Auseinandersetzung mit dem Werk Friedrich Gernsheims? Wie sind Sie mit seiner Musik in Berührung gekommen?
Jens Barnieck: Bei einem Konzert in Mainz habe ich die Aufführung einer Sinfonie Gernsheims durch die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz mit GMD Bäumer gehört. Das hat mich sehr ergriffen und die Musik hat zu mir gesprochen. Unmittelbar nach dem Konzert habe ich mich auf die Suche nach Klaviermusik gemacht.
nmz: Wodurch zeichnet sich Gernsheims Musik aus? Was berührt Sie vor allem an seiner musikalischen Sprache?
Frische Note der Romantik
Barnieck: Gernsheims Musik ist für mich eine noch nicht gehörte, frische Note aus der Zeit der musikalischen Romantik. Man könnte Anklänge an Mendelssohn hören, an Brahms, ja auch an Beethoven oder Schumann, aber Gernsheim hat eine durchaus eigene Musiksprache. Einige haben ihm nachgesagt, dass er ein Epigone Brahmsscher Musik sei, aber die Sinfonie Nr. 1 von Gernsheim ist vor der ersten Sinfonie von Brahms komponiert worden und erschienen. Gernsheim war sicherlich kein Bilderstürmer, sondern ein Kind seiner Zeit. Es gibt aber einfach wunderschöne musikalische Einfälle und Verästelungen. Alles ist handwerklich sehr gut gemacht und durchgeführt.
Gernsheims Klaviermusik ist nie überbordend überschwänglich oder deprimierend, aber oft sehr dicht und voll. Stellen zum „Zurücklehnen“ gibt es eigentlich nie. Besonders schätze ich die Mittelsätze der frühen Sonaten. Sie zeigen seine melodischen Einfälle sehr gut und seinen Sinn für lange Bögen. Schon in diesen frühen Werken zeigt sich Gernsheims Sinn für Dramatik und Aufbau. Es überrascht daher, dass er keine Oper geschrieben hat. Die dramatische Gestaltungskraft hat er lieber in kammermusikalischen Werken komprimiert.
Notenbeschaffung
nmz: Wie haben Sie die Noten der Klavierwerke erhalten? Obwohl viele seiner Werke zu seinen Lebzeiten verlegt waren, sind sie heute doch kaum erhältlich.
Barnieck: Nach meinem ersten Eindruck von Gernsheims Musik und dem Wunsch, Klaviermusik zu finden, habe ich in der Tat wenig gefunden. Durch meine Suche bin ich dann auf das Archiv in der Israelischen Nationalbibliothek gestoßen. Die jüngere Tochter Gernsheims zog nach Israel und vermachte den gesamten musikalischen Nachlass der Nationalbibliothek. Von dort habe ich dann digitalisierte Versionen der Autographe erhalten und begann mit dem Abschreiben. Mittlerweile habe ich die drei frühen Sonaten abgeschrieben und eingespielt, außerdem einen kleinen „Geschwind-Marsch“, den Gernsheim wohl im Alter von fünf oder sechs Jahren nach dem Gehör aufgeschrieben hat, als er die durch die Straßen von Worms ziehende Militärkapelle hörte.
nmz: Im Booklet Ihrer jetzt erschienenen zweiten CD mit den Klavierwerken Friedrich Gernsheims gibt es Sketchnotes von Wormser Schülern, mit denen Sie ein Projekt gemacht haben. Können Sie uns etwas über Ihre Arbeit mit den Schülern erzählen?
Barnieck: Wie viele andere konnte ich im Sommer 2020 bei der Hessischen Kulturstiftung ein Arbeitsstipendium beantragen. In dem Projektantrag war von „Nachhaltigkeit“ die Rede, was auch eines meiner Anliegen ist. Wie konnte Nachhaltigkeit im Zusammenhang mit der Aufnahme der Klaviermusik von Gernsheim noch definiert werden? Eine CD aufzunehmen und das physische Produkt in Händen zu halten ist ja schon einmal nachhaltig. Aber das Wiederentdecken eines Komponisten und die Verbreitung der Musik dient auch der Nachhaltigkeit.
Zum Projekt mit den Wormser Schüler*innen: So, wie man sich Dinge besser merken kann, wenn man es einmal mit der Hand aufgeschrieben hat, erschien mir die Technik der Sketchnotes als geeignet, Jugendliche mit dem „großen Sohn der Stadt Worms“ noch enger, nachhaltiger vertraut zu machen, als es vielleicht herkömmlicher Musikunterricht zu leisten vermag.
Workshop mit Schüler*innen
Mit Unterstützung der Stadt Worms habe ich mit dem Lehrkörper des Wormser Rudi-Stephan-Gymnasiums einen Workshop organisieren können, in dem ich den Schüler*innen der 12. Klasse ein paar biografische Eckdaten zu Friedrich Gernsheim und zu der Arbeit an der Abschrift der Autographe erzählt habe. Dann habe ich etwas aus dem Klavierwerk gespielt und die Jugendlichen fingen sofort an zu zeichnen. Es war eine fantastische Atmosphäre. In den kommenden Kunst-Stunden wurde dann weiter an den Sketchnotes gearbeitet. Zu den Herbstferien konnte ich dann die Ergebnisse ansehen – und war begeistert, was die Schüler*innen geschaffen hatten.
Es waren aber zu viele Arbeiten, als dass sie alle in das schon umfangreiche Booklet hätten aufgenommen werden können. Martin Anderson von Toccata Classics hatte die glänzende Idee, alle Arbeiten im Blog auf der Homepage des Plattenlabels zu veröffentlichen. Eine schöne, nachhaltige Anerkennung finden die Jugendlichen aber nicht nur im Booklet oder im Blog: Auch der Israelische Rundfunk hat in einer Portraitsendung über Gernsheim die Arbeiten der Schüler*innen auf seiner Homepage veröffentlicht.
Noch etwas: Unlängst wurde mir aufgrund der Veröffentlichung der CD die Auffindung eines Schreibens an den zehnjährigen Gernsheim von der Firma Schiedmayer Celesta GmbH bekanntgegeben, die zu Lebzeiten Gernsheims Flügel herstellten. So geht die Forschung zu seinem Leben weiter. Auch ein Aspekt der Nachhaltigkeit.
nmz: Was sind Ihre weiteren Pläne bei Ihrem Gernsheim-Projekt? Wird es noch weitere CDs geben?
Barnieck: Eine dritte CD ist schon in Arbeit. Toccata Classics hatte mich angefragt, das gesamte Klavierwerk einzuspielen. Auch auf der dritten CD werden Stücke sein, die durchaus das Zeug zum „Ohrwurm“ haben.
Eigentlich ist so eine Entdeckung eines Komponisten nicht so schnell abgeschlossen, denn auch in der bisherigen Arbeit musste ich noch einmal korrigieren. So habe ich zum Beispiel die dritte der frühen Sonaten anfänglich für seine erste gehalten. Es hat sich erst durch Puzzle-Steine aus Biografie und Datenabgleich ergeben, dass es die dritte Sonate sein musste.
So ist die Beschäftigung und die Einspielung der Klavierwerke ein erster Anschub zum Bekanntmachen des Werkes, das hoffentlich einen festen Platz im Konzertprogramm findet.
Interview: Ute-Gabriela Schneppat
CD-Tipp
Die CDs „Friedrich Gernsheim – Piano Music“ Volume one und Volume two sind im Label Toccata Classics erschienen und im Handel erhältlich.