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Zwei Bronzen an einer geklinkerten Wand: Die Figuren (zwei ältere Männer) drücken ihre Ohren an die Wand.

„Die Lauschenden“ – Bronzeskulptur an der Hochschule für Musik Freiburg. Foto: Couleur, Pixabay (Content License)

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Kontemplatives Hören mit Arvo Pärt

Untertitel
Ein musikdidaktischer Ansatz wiederentdeckt
Vorspann / Teaser

Die Musik Arvo Pärts ist seit vielen Jahren fest im Musikunterricht verankert. Sein 90. Geburtstag bietet einen willkommenen Anlass, einen frühen didaktischen Rezeptionsansatz aufzugreifen und im Licht heutiger Perspektiven neu einzuordnen.

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Viele Unterrichtsmaterialien zur Musik des estnischen Komponisten konzentrieren sich auf seinen sogenannten Tintinnabuli-Stil und erschließen diesen meist über einen kognitiv-analytischen Zugang. Das ist naheliegend, denn die Regelhaftigkeit dieser Technik wirkt auf den ers­ten Blick schlicht und lässt sich bereits von Schülerinnen und Schülern der Mittelstufe gut nachvollziehen: Zwei Stimmen werden miteinander verknüpft. Die erste, die sogenannte M-Stimme, bewegt sich in strenger Auslegung als auf- oder absteigender Tonleiterausschnitt. Die zweite, die T-Stimme, beschränkt sich ausschließlich auf die Töne eines Dreiklangs, die – ähnlich einer Orgelregistrierung – nach einem festen Muster an die Einzeltöne der M-Stimme gebunden sind.

Gerade in der Phase zwischen 1976 und den 1990er Jahren hat Pärt einen umfangreichen Katalog an Werken geschaffen, in dem es ihm gelingt, diesem scheinbar restriktiven System eine erstaunliche Vielfalt an kompositorischen Lösungen abzugewinnen.
Diese Vielfalt macht zugleich deutlich, dass vor allem analytische Zugänge, so wertvoll sie sind, nicht das gesamte Potenzial von Pärts Musik erfassen. Indem sie die Einfachheit der kompositorischen Machart in den Vordergrund stellen, bleibt mitunter unberücksichtigt, dass es sich dabei um eine bewusste ästhetische Entscheidung handelt – getroffen, um eine Klangwelt von Schlichtheit, Ruhe und meditativer Tiefe hervorzubringen.

Kontemplatives Hören

Mitte der 1980er Jahre galt der estnische Komponist und seine Musik noch als Geheimtipp. Pärt war erst wenige Jahre zuvor in den Westen emigriert, und das Münchner Label ECM hatte mit der Platte Arvo Pärt: Tabula Rasa (1984) gerade erst einige bis heute kanonische Werke einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. In dieser Phase veröffentlichte der Musikpädagoge Wolfram Wallrabenstein mehrere Beiträge, die sich mit Pärts Musik befassten und dabei unter anderem den methodischen Ansatz des „kontemplativen Hörens“ empfahlen. 1991 beschreibt er diesen wie folgt: 

Im weiteren Sinn [verfolgt kontemplatives Hören] die Absicht, dem wachsenden gesellschaftlichen Bedürfnis nach Stille und Meditation von seiten des Musikunterrichts ... nachzukommen, und im engeren Sinne das Anliegen, die Kopflastigkeit der Musikpädagogik zu mindern und emotionale Qualitäten stärker in den Unterricht einzubringen. Kontemplatives Hören ist einfach, es braucht lediglich Vertrauen sowie eine entspannte Lernatmosphäre.1

Methodische Grundprinzipien

Grundlegend für diesen methodischen Ansatz ist Regelklarheit. Den Lernenden wird bei längeren Musikstücken freigestellt, diese in einer für sie bequemen Haltung zu hören – vorausgesetzt, sie stören niemanden. Zentral ist, dass während des Hörens Stille herrscht und die Schülerinnen und Schüler sich so ganz der Wirkung der Musik widmen können. Wenn möglich, sollte der Musiksaal während der Hörphase ganz oder teilweise abgedunkelt werden. Wallrabenstein betont, dass dieser Ansatz – wie jede Methode – eingeübt werden muss, hebt jedoch dessen affektiv-emotionales Potenzial besonders bei der Erstbegegnung mit einem Werk hervor: „Solche kontemplative Haltung gibt die größtmögliche Gewähr dafür, daß die Schüler vom Lerngegenstand von Beginn an [...] Wesentliches mitbekommen, daß sie darum verstehen wollen [...].“2

Im Anschluss an die Hörphase erweist es sich nach Wallrabenstein als gewinnbringend, den Schülerinnen und Schülern einige Minuten Zeit zu geben, ihre „Beobachtungen, Gedanken, Gefühle, Empfindungen, Phantasien, Einfälle usw.“3 aufzuschreiben. Entscheidend ist dabei, dass sie persönliche Empfindungen artikulieren und nicht sofort in ein analytisches Hören ausweichen. Der Autor begründet dies so:

Lehrer und Schüler lassen sich auf die Wirkung ein, welche Musik in ihnen hervorruft, im Vertrauen darauf, daß ihnen damit ein Zugang gewiesen wird, wenn nicht zum Musikwerk in seiner Komplexität, so doch als Stück einer verläßlichen Wegbeschreibung hin zu dessen Bedeutungsschicht.4

Ausgewählte Schüler:innen-Äußerungen können im Anschluss an diese Phase, in einer der Folgestunden oder zum Ende der entsprechenden Sequenz präsentiert und diskutiert werden.

Aktualität und Relevanz des Ansatzes

Wallrabensteins Ansatz erweist sich aus heutiger Sicht als aktuell und anschlussfähig. Nach wie vor gilt es als zentrales Ziel des Musikunterrichts, den Lernenden musikalisch-ästhetische Erfahrungen zu ermöglichen.5 Zugleich wird betont, dass diese sich kaum didaktisch planen lassen und schwer nachzuvollziehen ist, ob und in welcher Form Lernende tatsächlich ästhetische Erfahrungen machen.6

Das kontemplative Hören bietet in zweifacher Hinsicht Antworten: Zum einen stellt es einen konkreten methodischen Ansatz dar, um „ästhetische Erfahrungsräume“ zu inszenieren7; zum anderen eröffnen die schriftlichen Äußerungen der Schülerinnen und Schüler wertvolle Einblicke – sowohl für die Lehrkraft als auch für die Mitschülerinnen und Mitschüler –, wie ein bestimmtes Musikstück wahrgenommen wird beziehungsweise werden kann.

Auch wenn der Ausgangspunkt dieses Beitrags die Musik Arvo Pärts war, lässt sich das kontemplative Hören ebenso gewinnbringend auf andere Musik übertragen. Damit erweist es sich als ein Ansatz, der den Musikunterricht nachhaltig bereichern und die Erfahrungsdimension von Musik bewusst ins Zentrum rücken kann.

Anmerkungen

  1. Wolfram Wallrabenstein, „Schüler interpretieren die ‚Collage über B-A-C-H‘. Ein Gespräch mit Nora und Arvo Pärt“, Musik und Unterricht 2, Nr. 7 (1991), S. 31.
  2. Wolfram Wallrabenstein, „Analytisches und kontemplatives Hören. Ein kaleidophoner Beitrag zur Didaktischen Interpretation von Musik.“, Zeitschrift für Musikpädagogik 11, Nr. 35 (1986), S. 27.
  3. Wolfram Wallrabenstein, „Arvo Pärt: Cantus in memoriam Benjamin Britten. Zur Bedeutung der Assoziativität und Subjektivität im Erkenntnisprozeß - Beispiele aus der Unterrichtspraxis“, Zeitschrift für Musikpädagogik 10, Nr. 13–31 (1985), S. 15.
  4. Wallrabenstein, „Schüler interpretieren die ‚Collage über B-A-C-H‘. Ein Gespräch mit Nora und Arvo Pärt“, S. 31.
  5. zsf. Werner Jank, Hrsg., Musik-Didaktik: Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, 9., komplett überarbeitete Auflage (Cornelsen, 2021).
  6. zsf. Jens Knigge, „Transfereffekte, Kompetenzen oder ästhetische Erfahrung? Musikpädagogische Anmerkungen zur Wirkungsforschung in der kulturellen Bildung.“, Diskussion Musikpädagogik, Nr. 62 (2014), S. 45–50.
  7. vgl. Christian Rolle, Musikalisch-ästhetische Bildung. Über die Bedeutung ästhetischer Erfahrung für musikalische Bildungsprozesse. (Bosse, 1999).
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