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Ein Foto einer Glaskugel, durch die die Welt hinter ihr gespiegelt gebogen in ihr sichtbar wird.

Blick in die Glaskugel. Foto: pixabay

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Unzufriedenheit und Sorge

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Ergebnisse einer Umfrage zur neuen Qualifizierungsstufe
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Seit dem Bekanntwerden der Pläne des Staatsministeriums für Unterricht und Kultus zur Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe erreichen den VBS regelmäßig Nachrichten, in denen Kolleginnen und Kollegen ihre Sorgen wegen möglicher negativer Konsequenzen zum Ausdruck bringen. Um uns ein umfassendes und differenziertes Bild zu dieser Thematik zu verschaffen, baten wir im Frühsommer dieses Jahres gymnasiale Musiklehrkräfte in ganz Bayern um die Teilnahme an einer Online-Befragung, in der diese uns die Situation an ihren Schulen schildern konnten.

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An der Umfrage, die von Ende Mai bis Mitte Juli lief, nahmen insgesamt 158 Lehrkräfte von 145 bay­e­rischen Gymnasien teil.1 Damit ist es gelungen, ein Stimmungsbild von etwa einem Drittel der gut 430 bay­e­rischen Gymnasien zu erfassen. Diese verteilen sich etwas ungleich auf die bayerischen Regierungsbezirke: Oberbayern (58 Schulen / 40 % der erfassten Schulen), Schwaben (22 / 15 %), Mittelfranken (19 / 13 %), Niederbayern (14 / 10 %), Oberpfalz (14 / 10 %), Unterfranken (10 / 7 %), Oberfranken (8 / 6 %). 25 der erfassten Gymnasien (17 %) verfügen über einen musischen Zweig, bei 112 Schulen (77 %) ist dies nicht der Fall. Bei 21 Schulen (14 %) fehlt hierzu die Angabe.

Leistungsfach Musik?

Auf die Frage, ob an ihrer Schule im kommenden Schuljahr ein Leistungsfach Musik eingerichtet wird, antworteten Lehrkräfte von 33 Schulen (23 %) mit „Ja“, 111 (77 %) mit „Nein“. Auf die Frage, mit wie vielen Schüler*innen an den betroffenen Schulen das Leistungsfach eingerichtet wird, reichten die Antworten von 4 bis 24, die durchschnittliche Kursgröße liegt bei 9. 

Ein klares Bild ergibt sich bei der Frage, ob Schulen mit musischem Zweig öfter ein Leistungsfach Musik einrichten als Schulen ohne musischen Zweig: 21 (64 %) der befragten Schulen mit musischem Zweig bieten im kommenden Schuljahr ein Leistungsfach Musik an, immerhin 12-mal (36 %) gibt es dieses Angebot an Schulen ohne musischen Zweig.2

Von den 111 Gymnasien ohne Leis­tungsfach Musik gaben 76 (62 %) an, dass es durchaus am Leistungsfach interessierte Schüler*innen gegeben hätte. Dabei reichte die Spannweite von 1 bis 12, im Schnitt handelte es sich um 3 Interessierte pro Schule. Vergleicht man dies mit den oben genannten Zahlen zu Kursstärken, für die Leistungsfächer eingerichtet wurden, sind insbesondere die Extremwerte auffallend: An einigen Schulen ist es möglich, das Leistungsfach auch mit einer kleinen einstelligen Zahl3 an Interessierten durchzuführen, andernorts ist dies nicht einmal mit zwölf potenziellen Teilnehmer*innen realisierbar. Welche alternativen Wege schlagen potenzielle Leistungsfach-Schüler*innen in Musik ein? Die Antworten fallen erwartungskonform aus: In 67 Fällen wurde ein anderes Leistungsfach gewählt, in 13 ein Schulwechsel vollzogen und in vier ermöglicht eine Schulkooperation die Teilnahme am Leistungsfach-Angebot einer benachbarten Schule.

Kaum Kooperationen 

Damit greifen die Schulen auf ein bewährtes Verfahren zurück: Bis zur Einführung des G8 wurden Musik-Leistungskurse häufig an musischen Gymnasien eingerichtet. Dabei waren auch Kooperationen mit anderen, teilweise auch deutlich weiter entfernten Schulen nicht unüblich.4 Auffallend an den aktuellen Daten: Nur drei der Schulen, die im kommenden Jahr ein Leistungsfach Musik einrichten, gaben an, dass es in diesem Zusammenhang zu einer Kooperation mit Schulen ohne Leistungsfach Musik kommen wird. Alle drei Schulen befinden sich in bay­erischen Großstädten beziehungsweise dem Ballungsraum München, die kooperierenden Schulen sind nur wenige Kilometer entfernt.

Landschulen im Nachteil

Die Umfrageergebnisse bestätigen eine Befürchtung, die Kolleginnen und Kollegen bereits im Vorfeld der Kurswahl geäußert hatten: Ein Leistungsfach Musik gibt es vor allem an musischen Gymnasien sowie an Schulen im mittel- und großstädtischen Raum. Knapp zwei Drittel der Schulen mit Leistungsfach Musik finden sich in Städten mit mehr als 50.000 Einwohner*innen. Nicht-musische und ländliche Gymnasien sind offensichtlich deutlich benachteiligt, trotz teilweise hoher gemeldeter Zahlen an interessierten Schüler*innen. Hinzu kommt die geringe Zahl an Kooperationen, die sich im ländlichen Raum wegen der größeren Entfernungen aber auch schwieriger gestalten dürften. Wenn am Leistungsfach interessierten Schüler*innen die Möglichkeit fehlt, ihre musikalischen Fähigkeiten zu vertiefen und als Schwerpunkt ins Abitur wie auch ins Schulleben einzubringen, schadet das vermutlich mittelfristig auch dem schulischen Musikleben. Unklar ist, inwieweit diese Entwicklung auch negative Folgen für das Interesse an Musik-Studiengängen, aber auch für das Laienmusikwesen im ländlichen Raum haben wird. 

Additum ja, Leistungsfach nein

Außerdem wurde erhoben, wie häufig es an den betreffenden Schulen in der Vergangenheit das Additum Musik gab. Knapp dreiviertel der Teilnehmenden antworteten hier entweder mit „immer“ (86 Nennungen / 59 %) oder „sehr häufig“ (21 / 14 %). Von den 33 Schulen mit Leistungsfach Musik hatten 30 hier die Option „immer“ angewählt. Insgesamt 76 der Schulen, die in der Vergangenheit „immer“ oder „sehr häufig“ ein Musik-Additum eingerichtet haben, können kein Leistungsfach Musik anbieten. 

Neben den bereits genannten Angaben wurden die Teilnehmer*innen gefragt, ob es in der Frage der Einrichtung von Leistungsfächern innerhalb der Schulfamilie zu Spannungen gekommen sei. Hierauf antworteten 24 Lehrkräfte mit „Ja“ (17 %) und 98 mit „Nein“ (67 %), 23 Personen (16 %) ließen diese Frage unbeantwortet.

Sorge um Ensembles

Die teilnehmenden Lehrkräfte hatten auch die Möglichkeit, in einem Freitextfeld weitere Eindrücke zur Einführung der neuen gymnasialen Oberstufe zu artikulieren. Fast alle Befragten machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Dabei kristallisierten sich drei zentrale Themenfelder heraus, welche die Lehrkräfte in Hinblick auf die Regelungen zur neuen Oberstufe besonders beschäftigen: 

Eine gemeinsame Sorge betrifft die künftig stark reduzierten Möglichkeiten für Schüler*innen, die Profilfächer Vokal- und Instrumentalensemble in die Abiturnote einzubringen. Etliche Kollegen erwarten einen dramatischen Schwund in den Ensembles, da kaum ein Anreiz gegeben ist, diese in beiden Jahrgangsstufen 12 und 13 zu belegen. So könnten in den Chören, Orchestern und Bigbands gerade die älteren und erfahreneren Musiker*innen fehlen. Viele Befragte sehen mangels spielfähiger Ensembles mittelfristig die Durchführung von Schulkonzerten in Gefahr. Zudem hat der mögliche Wegfall von Ensembles für die betroffenen Lehrkräfte negative Auswirkungen auf das Unterrichtsdeputat. Als Affront wurde diesbezüglich die Aufforderung von Mitarbeitern des KM verstanden, die neue Situation als Chance zu verstehen.

Die mit Abstand meisten „freien“ Beiträge drehen sich aber um das neue Leistungsfach Musik. Einige wenige Befragte begrüßen die Rückkehr zu einem dem ursprünglichen Leistungskurs ähnlichen Modell; die meisten bringen dezidiert Unzufriedenheit und Sorgen zum Ausdruck. Mehrfach hervorgehoben werden dabei die fehlende Bereitschaft der Schulleitungen zu Kooperationen und die fehlenden Möglichkeiten, jahrgangsübergreifende Kurse zu bilden. Es wird ein dauerhafter Budgetzuschlag gefordert, um jahrgangsübergreifende Kurse leichter zu ermöglichen. Aber auch Lehrkräfte von Schulen mit Leistungsfach blicken mit Sorge in die Zukunft, wie dieser beispielhaft ausgewählte Beitrag zeigt: „Wir haben im nächsten Schuljahr einen außergewöhnlich musikalischen Jahrgang mit diversen angehenden Musikstudenten, wodurch wir ein LF anbieten können. In den folgenden Jahrgängen werden die einzelnen musisch interessierten Schüler*innen an unserer Schule diese Möglichkeit nicht mehr haben.“

Herausforderung Lehrplan

Der dritte Bereich mit auffallend vielen Äußerungen betrifft die Gestaltung des Lehrplans in der neuen Oberstufe. Hier fallen die Einschätzungen heterogener aus. Nicht wenige Lehrkräfte begrüßen die diesbezüglichen Neuerungen (z. B.: „Der LP ist viel strukturierter als im G8 [...], wodurch die Themen vertiefter behandelt werden können.“; „Gut: Entschlackung des Lehrplans“). Kritische Stimmen hingegen beklagen vor allem den Wegfall traditioneller Themenfelder (z. B.: „...keine Behandlung der Musik des Mittelalters und der Renaissance mehr außerhalb des Leistungsfachs“), den fehlenden Musikbezug einiger Themen (z. B. „Musik und Architektur“ im Lehrplan der Jahrgangsstufe 11) und die fehlenden Vorbereitungsmöglichkeiten auf neue Themenfelder (z. B.: „Die bislang besuchten Fortbildungen hierzu helfen mir nicht wirklich weiter, sondern verstärken das Gefühl der mangelnden Kenntnisse. Die täglichen Herausforderungen des Berufs lassen mir keine Zeit, mich umfassend mit der Thematik auseinanderzusetzen...“).

„Sinnstiftender Musikunterricht“?

Das letzte Item des Fragebogens wagte einen Blick in die sprichwörtliche „Glaskugel“. Hierbei wurden die Musiklehrkräfte – die laut wiederholter Aussage der aktuellen Kultusministerin die „Experten vor Ort“ sind – gebeten, abzuschätzen, ob aus ihrer Sicht sinnstiftender Unterricht im Fach Musik in der Oberstufe in Zukunft „weniger möglich“, „in gleichem Maß möglich“ oder „besser möglich“ sei. Die Beantwortung dieser Frage war aufgrund ihres grundsätzlich spekulativen Charakters freiwillig. Bei der Auswertung ließ sich deutlicher und statistisch signifikanter Unterschied5 zwischen Lehrkräften an Schulen mit Leistungsfach Musik und solchen ohne feststellen. Während die erste Gruppe die Möglichkeiten zu „sinnstiftendem Musikunterricht“ im Rahmen der neuen Oberstufenregelungen im Mittel unverändert einschätzen (5x „weniger“, 12x „in gleichem Maß“, 6x „besser“), blickt die zweite Gruppe deutlich pessimistischer in die Zukunft (40 / 33 / 4).
 

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Fußnoten
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Anmerkung 1

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Da Angaben zur Schule fakultativ waren, und dieses Feld nicht von allen teilnehmenden Personen ausgefüllt wurde, handelt es sich hierbei um einen Schätzwert. Wenn mehrere Lehrkräfte einer Schule identifiziert werden konnten, wurden die schulspezifischen Angaben nur einmal gezählt. Persönliche Einschätzungen zur Einführung der neuen Oberstufe wurden aber von allen an der Befragung Teilnehmenden ausgewertet.

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Anmerkung 2

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Immerhin drei der erfassten musischen Gymnasien bieten im kommenden Schuljahr kein Leistungsfach Musik an. Von einem musischen Gymnasium gab es zu dieser Frage keine Angabe.

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Anmerkung 3

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Insgesamt gaben fünf Gymnasien an, ein Leistungsfach Musik mit fünf oder weniger Schüler*innen einzurichten. Keine dieser Schulen verfügt über einen musischen Zweig. 

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Anmerkung 4

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Der Verfasser dieses Beitrags pendelte beispielsweise in den frühen 1990er Jahren zweimal pro Woche mehr als 40 km an ein kooperierendes Gymnasium, um am dortigen Leistungskurs Musik teilnehmen zu können.

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Anmerkung 5

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Hierzu wurden die drei Antwortmöglichkeiten in die Zahlenwerte 0, 1 und 2 überführt und anschließend für die beiden Gruppen Mittelwerte errechnet. Bei der anschließenden Durchführung eines t-Tests für unabhängige Stichproben ergab sich im Detail folgendes Ergebnis: Lehrkräfte an Schulen mit Leistungsfach Musik blicken optimistischer auf die Möglichkeiten sinnstiftenden Unterrichts in der neuen Oberstufe (M = 1,02; SD = 0,66) als Lehrkräfte an Schulen ohne Leistungsfach Musik (M = 0,53; SD = 0,6); t(101) = 3.63, p < 0.001, d = 0.82.

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