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Eine Frage der Solidarität

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Über Rassismussensibilität an Musikschulen – ein Gespräch mit Goska Soluch und Andreas Kern
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Im Oktober 2022 führte der Landesverband der Musikschulen Baden-Württembergs seine Herbsttagung zum Thema „Rassismussensible Bildungsarbeit an Musikschulen“ durch. Zu den Referent*innen gehörten Andreas Kern, Coach, Supervisor und Trainer für rassismuskritische Organisationsentwicklung, und Goska Soluch, Diplom-Sozialwissenschaftlerin, Prozessbegleiterin sowie langjährige Dozentin für Diversität und rassismuskritische Bildung. Im nmz-Gespräch erklären sie ihren Ansatz und den Begriff der Rassismussensibilität.

neue musikzeitung: Wie definieren Sie Rassismus?

Andreas Kern: Von Rassismus spreche ich, wenn Menschen wegen ihres Äußeren, meist Haut- oder Haarfarbe, ihres Namens, ihrer Herkunft oder ihrer Religion abgewertet oder diskriminiert werden. Rassismus ist ein gesellschaftliches System, durch das Menschen Ungleichheit erfahren.

nmz: Wie kommt es zu dieser Ungleichheit?

Kern: Zunächst wird bewusst oder unbewusst eine Gruppe gebildet, die eine Aussage über ein „Wir“ der Gesellschaft macht. Alle in dieser Gruppe müssen dann so oder so aussehen oder sich verhalten. Darüber wird automatisch definiert, wer die „Anderen“ sind. Diese werden als weniger wert oder weniger gut eingestuft und benachteiligt. Solche Strukturen sind häufig historisch gewachsen aber nichtsdestotrotz rassistisch.

nmz: Wie ist der aktuelle Stand in Deutschland? Wie rassistisch ist unsere Gesellschaft?

Kern:  Man kann auf jeden Fall sagen, dass wir diese historisch gewachsenen Strukturen überall in unserer Gesellschaft und somit auch in unseren Institutionen vorfinden. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Thema, das es in sich hat. Zwar sind wir, die heutigen Generationen, nicht schuld am Status quo, aber wir profitieren davon, zum Beispiel wenn es um die Verteilung von Dienstleistungen, Ressourcen oder Zugängen geht. Das sehen wir tagtäglich, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche und auch bei kulturellen Angeboten.   
Daher sprechen wir bei unserer Arbeit vom sogenannten „rassismuskritischen Ansatz“ und nicht von „Anti-Rassismus“. „Anti-Rassismus“ würde bedeuten, dass ich an mir arbeiten und eine „Anti“-Position entwickeln kann, mich dann als „Anti-Rassist“ bezeichne und mit der Sache fortan nichts mehr zu tun habe. Damit wäre ich fein raus aus der Geschichte. Das ist nicht unser Ansatz. Ich als Teil der sogenannten Mehrheitsgesellschaft sollte mich immer wieder hinterfragen und weiter sensibilisieren. Und bei dieser Reise ist vorerst kein Ende in Sicht, weil ich noch immer in ein Gesellschafts­system eingebunden bin, in dem ich Privilegien genieße, die andere Menschen nicht haben.

nmz: Das heißt, ich bin nicht nur rassismuskritisch gegenüber den Mitmenschen und der Gesellschaft, sondern immer wieder auch mir selbst gegenüber?

Kern: Ja, das muss ich sein. Denn die Frage bleibt: Wie unterscheidet sich mein Leben von dem einer von Rassismus betroffenen Person, und welche unterschiedlichen Perspektiven und Ausgangspositionen ergeben sich daraus? Denn ich lege ja meinen Namen, meine Hautfarbe und meine Privilegien nicht einfach so ab.

nmz: Anlass unseres Gesprächs ist Ihr Workshop beim Landesverband Baden-Württemberg des VdM über das Thema „Rassismussensible Bildungsarbeit an Musikschulen“. Man könnte denken, dass gerade Musiker*innen besonders offen sind, weil sie viel mit Kolleginnen und Kollegen zu tun haben, die Rassismuserfahrungen machen. Wie erleben Sie die Offenheit an Musikschulen, bei Musikpädagog*innen?

Soluch: Das, was wir an diesem Tag geschafft haben, ist eine „Erstsensibilisierung. Das Interesse daran war sehr groß. Wir haben dort ein Kollegium erlebt, das von der ersten bis zur letzten Minute der Veranstaltung dauerhaft am Ball geblieben ist. Das ist der Beginn einer Reise. Der nächste Schritt geht in die Institution. Es ist die Entscheidung der einzelnen Musikschulen und Kolleg*innen, ob und wie sie das Thema weiterverfolgen.

nmz: Hatten Sie das Gefühl, dass das für die Teilnehmenden Neuland war? Dass es derzeit noch nicht in den Musikschulen etabliert ist?

Soluch: Wir haben es, pauschal gesagt, mit zwei Gruppen zu tun. Diejenigen, die privilegiert sind, können sich selbst aussuchen wann und wie intensiv sie sich mit diesem Thema beschäftigen. Die andere Gruppe ist die, die sich nicht aussuchen kann, ob sie sich mit dem Thema beschäftigt oder nicht. Sie muss tagtäglich mit den rassistischen Strukturen dieser Gesellschaft leben und dafür Strategien entwickeln.
Wir hatten es bei diesem Workshop – bei zwei oder drei Ausnahmen – mit den Privilegierten zu tun. Unsere Aufgabe ist es nicht, herauszufinden, wie der Wissenstand ist. Unsere Aufgabe ist es, die Menschen für das Thema zu begeistern. Das beste Ergebnis für mich als Dozentin ist, wenn die Leute nach Hause gehen und Interesse haben, ihr Wissen über dieses Thema zu vertiefen. Das kann ich in aller Regel nicht überprüfen. Im Fall der Tagung für den Landesverband Baden-Württemberg kenne ich ein konkretes Ergebnis: Die stellvertretende Leiterin der Musik- und Jugendkunstschule Nürtingen hat unsere Veranstaltung besucht und nimmt jetzt an einer fünfteiligen Fortbildung von uns teil.
Unser Anfangssatz in solchen Veranstaltungen heißt: Diversität ­beginnt mit dir. Du musst eine Inventur mit dir selbst machen, um eine Inventur in deinem Umfeld machen zu können. Wir haben das Feedback bekommen, dass der Ernst der Situation den Teilnehmenden dank dieser Veranstaltung klar geworden ist. Es war für sie erschreckend zu erkennen, wie zum Beispiel rassistische Sprache funktioniert, was wir alles reproduzieren, worüber wir uns im Alltag einfach keine Gedanken machen. Innerhalb der Veranstaltung liefern wir Handlungsoptionen. Wir machen Angebote, von denen wir wissen, dass sie in der Gesellschaft funktionieren und den marginalisierten Gruppen Unterstützung liefern.

nmz: Wie kann man Strukturen schaffen, um Rassismus sichtbar zu machen, gerade im Bereich der Musikschulen?

Kern: Die meisten Menschen, die in den Musikschulen arbeiten, sind ja selbst nicht von Rassismus in negativer Weise betroffen. Dass sie gekommen sind, zeigt aber, dass sie erkannt haben, dass es ein gesellschaftliches Thema ist, und dass es sinnvoll ist, sich damit auseinanderzusetzen. Denn in einer selbstkritischen Reflexion ist die Feststellung folgende: Wir haben eine sehr diverse Stadtgesellschaft, die wir aber nicht in unserer Musikschule abbilden. Um das zu reflektieren, frage ich die Teilnehmenden: Wo ist Vielfalt in Ihrem Selbstverständnis als Institution zu finden? Wie schaffen Sie es eine diverse Zielgruppe in Ihrer Musikschule einzubinden? Wer sind Ihre Kooperationspartner? Wie vielfältig sind Sie programmatisch aufgestellt? Konkret: Wer spielt ein Adventskonzert und wer ein Konzert zum Ramadan beziehungsweise Zuckerfest? Am Ende unserer Workshops geben wir ganz konkrete Hinweise, wie man sich in ersten kleinen Schritten Antworten auf diese Fragen annähern kann.
Zu Hause kann der Musikschulleiter/die Musikschulleiterin in der Mitarbeiterbesprechung diese Fragen stellen und erste Überlegungen anstellen. Möchte eine Einrichtung sich dann nachhaltig mit dem Thema befassen, empfiehlt sich eine professionelle Begleitung mit Erfahrung in solchen Prozessen.

nmz: Wie kann eine Musikschule aktiv gegen rassistische Strukturen angehen? Wie Prävention und Aufklärung leisten oder auch Sanktionen durchführen?

Kern: Wenn Menschen in unserem Angebot lesen, dass es um Rassismus geht, sagen viele: „Den gibt’s bei uns nicht“. Oft erklären Leitungspersonen auch: „Unser Haus ist offen, es können ja alle kommen.“ Das reicht aber nicht, denn es gibt Gründe, warum die Menschen trotzdem nicht kommen. Wenn man es ernst meint, muss man proaktiv Veränderungen anstoßen, die Vertrauen schaffen.

Soluch: Das Stichwort heißt Solidarität. Das ist wichtig, auch generell in unserer Gesellschaft. Da setzen wir an. Es gibt diesen salonfähig gewordenen Satz: „Ich mache keinen Unterschied, ob jemand weiß, rotgepunktet oder wie auch immer aussieht – für mich sind alle Leute gleich.“ Wenn wir uns die Gesellschaft anschauen, ist das ein sehr gefährlicher Satz, denn die bestehenden Unterschiede nicht wahrzunehmen ist eine große Gefahr: zum Beispiel nicht zu sehen, dass schwarze Kinder von Anfang an eine ganz andere Realität haben.
Nur Menschen einzuladen, weil sie people of color sind, ihnen aber keinen Rahmen zu bieten, damit sie sich in dem Haus sicher fühlen, reicht nicht. Unser Konzept sieht deshalb vor, dass wir uns ganz genau angucken, wer das Publikum ist, wie Stellen ausgeschrieben werden und so weiter. Häufig werden Leute nicht angestellt, weil ihre Ausbildung nicht anerkannt wird, weil sie irgendwelche Zertifikate nicht bekommen. Und das, obwohl sie bestens ausgebildet sind und dazu noch eine gewisse Diversität mitbringen, die den Häusern guttun würde. Aber da stecken bürokratische Systeme dahinter, die selten in der Hand der Musikschulen liegen. Deswegen sprechen wir von struktureller Diskriminierung, die auf allen Ebenen wirkt.

nmz: Sie führen also solche Eingangsveranstaltungen durch, mit denen Sie einen Startschuss setzen. Daneben bieten Sie auch Workshops an, die dann tiefer in das Konzept hineingehen…

Kern: …und das dritte Format ist, dass sich eine Institution auf den Weg macht, sich damit strukturell auseinanderzusetzen. Da sind wir dann externe Berater*innen, die diesen Prozess begleiten, der rund ein bis zwei Jahre dauern kann.

nmz: Haben Sie bei den Musikschulen Interesse für so eine Prozessbegleitung gespürt?

Kern: Die Rückmeldungen auf die Veranstaltung waren sehr positiv und es gab großes Interesse, sich weiter mit dem Thema auseinanderzusetzen. Allerdings ist es für Musikschulen gerade in kleinen Gemeinden nicht ganz leicht die nötigen zeitlichen, finanziellen und personellen Ressourcen dafür bereitzustellen.

 

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