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Fachgruppenvorstand Musik ver.di. v.l.n.r.: Vorsitzender ist erneut Stefan Gretsch (Berlin). Die weiteren Mitglieder sind Angelika Jähn, Thomas Wagner, Gabor Scheinpflug, Petra Stalz-Tombeil. Foto: Christian von Polentz
Fachgruppenvorstand Musik ver.di. v.l.n.r.: Vorsitzender ist erneut Stefan Gretsch (Berlin). Die weiteren Mitglieder sind Angelika Jähn, Thomas Wagner, Gabor Scheinpflug, Petra Stalz-Tombeil. Foto: Christian von Polentz
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Deformiert statt reformiert

Untertitel
Der Qualitätsentwicklungsbericht Berliner Musikschulen verschleiert das Desaster
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Zu Beginn des Jahres hat die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft ihren Bericht über die Lage der Berliner Musikschulen veröffentlicht. Er trägt den Titel „Weiterbildung, Lebenslanges Lernen – Zweiter Leistungs- und Qualitätsentwicklungsbericht Musikschulen“ und behandelt den Zeitraum 2007 bis 2011. Der Bericht schließt sich dem Vorgängerbericht an und folgt damit dem gesetzlichen Auftrag zur Evaluation. Die Fachgruppe Musik in ver.di hatte den ersten Bericht (2002–06) in einer ausführlichen Stellungnahme ausführlich kommentiert und bewertet. Ob es zu jedoch auch zu einer entsprechend ausführlichen Bewertung des zweiten Berichts kommen wird, ist derzeit fraglich.

Es ist nämlich schon beachtlich, dass die Senatsverwaltung ihren Bericht mit rund drei Jahren Verspätung vorlegt. Drei Jahre, in denen sehr viel passiert ist und nichts mehr so ist wie zuvor. So gesehen handelt es ich also um Schnee von gestern, die neu entstandenen brennenden Probleme bleiben unberücksichtigt. Zu erwarten wäre mindestens eine Zwischenbilanz zur neu entstandenen Situation seit 2012 gewesen.

Wie alles anfing

Zur Erinnerung: Mit Wirkung zum 1. August 2012 wurde auf Betreiben der zuständigen Senatsbildungsverwaltung das Berliner Musikschulsystem auf den Kopf gestellt. Hauptziel war und ist dabei, die zwölf Berliner Groß-Musikschulen stärker betriebswirtschaftlich zu orientieren, sowie den Vorsprung hinsichtlich des Versorgungsgrades und der Kostendeckung gegenüber ihren durchweg kleineren Schwestern im Bundesgebiet auszubauen. Dies auf dem Rücken der Lehrkräfte zu erreichen, bleibt Kernbestand der Systematik.

Damit eng verbunden ist das erklärte Ziel, Scheinselbständigkeit durch konsequente Wandlung der bereits im Übermaß bestehenden Honorartätigkeiten in quasi Ich-Ag‘s auszuschließen. Der Unterricht wird zu 98 Prozent von „selbständig tätigen Unternehmerinnen und Unternehmern“ erteilt. Diese müssen sich für ausnahmslos jede Tätigkeit einen Auftrag erteilen lassen und anschließend der Musikschule in Rechnung stellen. Das gilt für jede einzelne Unterrichtsstunde ebenso wie für alle Tätigkeiten im Veranstaltungsbereich oder der Kooperation mit den allgemeinbildenden Schulen.

Pauschalierungen, wie es sie vorher gab, sind so gut wie ausgeschlossen. Der von den Fachleuten prognostizierte unverhältnismäßig hohe Verwaltungsaufwand für alle Beteiligten ist eingetreten, ebenfalls die erheblichen Einbußen im Realeinkommen der Honorarkräfte. Die für August 2013 als einsatzfähig in Aussicht gestellte Verwaltungssoftware „MS-IT“ ist bisher nur an zwei Schulen implementiert, in einer zu 100 Prozent, in der anderen zu etwa 50 Prozent.

Die zuständigen bezirklichen Amtsleitungen haben im Auftrag der Senatsverwaltung im 4. Quartal 2014 wichtige Änderungen der Vorschriften angemahnt. Ihre Vorschläge wurden allerdings weitgehend in derselben Manier abgeschmettert wie bereits zuvor grundlegende Hinweise und Warnungen aus allen Fachkreisen in der Entstehungsphase der Vorschriften. Es braucht keine tiefen Kenntnisse von Verwaltungsstrukturen, um zu prognostizieren, dass so etwas mit dem Umfang des vorhandenen Verwaltungspersonals kaum zu stemmen ist. Die befürchtete Überlastung der Verwaltungen ist eingetreten, die Auswirkung auf die für den Zahlungsverkehr zuständigen Bezirkskassen unabsehbar. Als „Nothilfe“ ist immerhin jetzt eine zusätzliche Verwaltungsstelle je Bezirk beschlossen. Der tatsächliche Bedarf scheint mangels „Kennziffern“ allerdings bis auf Weiteres nicht darstellbar.

Apropos Software: „MS-IT“ ist der Versuch, das für die Berliner Volkshochschulen entwickelte Verwaltungsprogramm an die Musikschulen anzupassen. Die Volkshochschulen haben wegen der zu erwartenden Kosten dringend davon abgeraten und die Entwicklung einer auf die spezifischen Bedingungen der Musikschule abgestellte Software empfohlen. Auch hier schlug die Bildungsverwaltung die Bedenken der Fachleute in den Wind, wartete nicht einmal das Ergebnis der von ihr selbst beim Fraunhofer Institut in Auftrag gegebene Tauglichkeitsprüfung aller in Frage kommenden Programme ab. Stattdessen gab sie die Portierung von VHS-IT auf „MS-IT“ ohne weitere Rücksprachen in Auftrag. Kosten: 600.000 Euro für das Programm, 200.000 für umfangreiche Anpassungen an die Musikschulen. Aktuell wird von weiteren mindestens 100.000–200.000 Euro ausgegangen für notwendig gewordene Programmänderungen, die sich aus der Testphase ergeben haben. Damit wären wir dann bald bei rund einer Million Euro beziehungsweise etwa 1.000 von 10.000 wartenden Schülern, die davon ein Jahr lang unterrichtet werden könnten.

Apropos Million: Das Abgeordnetenhaus hat für den Doppelhaushalt 2014/15 zusätzliche 2,5 Millionen jährlich für die Berliner Musikschulen beschlossen. Vorausgegangen war eine wesentlich von den Grünen angestoßene Initiative in den Ausschüssen des Abgeordnetenhauses. Ziel war es, der katastrophalen Stellennot der Musikschulen endlich ein Ende zu setzten und in einem ersten Schritt sofort 20 Prozent mehr Stellen einzurichten. Dank der Großen Koalition des Senats wurde dieser sinnvolle Vorstoß jedoch auf besagte 2,5 Millionen reduziert und auch nicht zwingend an die Schaffung von Stellen gebunden. Das hatte zur Folge, dass die Bezirke im Unklaren gelassen wurden, ob sie trotz Stellenkürzungsauflagen überhaupt Stellen einrichten dürfen.

Die Lage ist bis heute teilweise unklar und nicht landesweit einheitlich. Ein großer Teil der Gelder ist von den Bezirken bis heute (anderthalb Jahre nach dem Beschluss) gar nicht oder nur teilweise abgerufen worden, auch deshalb, weil das Ganze auf zwei Jahre befristet ist. Einige haben die Mittel teilweise als Aufstockung der Honorar-, Sach- und Veranstaltungskosten eingesetzt, was aber nicht der ursprünglichen Intention entspricht.

Selbstausbeutung gesetzt

Apropos Honorare: Oft denkt der Mensch, wenn die Verhältnisse schlecht oder gar sehr schlecht sind: „Es kann nur besser werden“. In Berlin ist das ganz anders, und das nicht nur bei Flughäfen. Das fängt mit der Zuordnung der Musikschulen zur Abteilung Weiterbildung innerhalb der Senatsbildungsverwaltung an und setzt sich in einer atemberaubenden Beratungsresistenz seitens der Führung besagter Abteilung fort.

Fachliche und politische Beratung der Bildungsverwaltung findet zwar in Form eines eigenen Beirates und nicht zuletzt durch die Riege der Musikschulleitungen statt, wird in der Regel jedoch entweder ignoriert oder mit pauschalen Sätzen wie „Das trifft nicht zu“ oder „Diese Darstellung ist unrichtig“ bedacht, ohne jedoch zu erklären, was genau denn bitte unrichtig oder unzutreffend sei. Der Loriotsche Aspekt solcher Dialoge wäre zu verkraften, ginge es nicht auch um die Lebensgrundlage der für die Musikschule arbeitenden Menschen.

Die Lehrkräfte wussten immer, dass das Berliner Musikschulsystem extrem krisenanfällig ist, für sie selbst wie gleichermaßen die ganze Einrichtung. Es war auch immer klar, dass das Land hier stets auf den leider recht gut funktionierenden Mechanismus der Selbstausbeutung setzte und weiterhin setzt. So weit so schlecht. Aber niemand hätte es für möglich gehalten, dass es Einzelpersonen gelingen könnte, den empfindlichen Organismus Musikschule dermaßen ungehindert anzugreifen und handstreichartig zu zerstören.

Apropos „Das trifft nicht zu“: Folgt man den Aussagen der Senatsweiterbildungsverwaltung und dem Staatssekretär, sind die unmittelbar mit Musikschule Befassten frei von jeder Sachkompetenz. Im Prinzip sei doch alles im grünen Bereich, kleinere Holprigkeiten könnten unkompliziert und zeitnah behoben werden. Solche typisch technokratischen Statements, mögen für sich – sprich: systemimmanent schlüssig – sogar zutreffen. Was beharrlich ignoriert wird, ist die konkrete Arbeitssituation der unmittelbar am Prozess Beteiligten, der Lehrer, Leitungen und Schüler.

Rückläufige Schülerzahlen

Richtig ist: Die Schülerzahlen sind trotz Wartelisten rückläufig, die Prekarisierung der Honorarkräfte ist verschärft worden. Ein großer Teil der Lehrkräfte geht in Teil- oder Vollprivatisierung, allein schon wegen der fehlenden Bezahlung in den Ferien sowie erzwungener Teilzeitbeschäftigung. Durch sie ist der Beruf nicht mehr Lebensberuf, jedenfalls nicht an einer Berliner Musikschule.

Die gefühlte Einbindung der Kollegien in den „Betrieb“ Musikschule stirbt ab. Die Teilnahme und das Interesse an Lehrerkonferenzen lässt nach, die Verweildauer neu beschäftigter, insbesondere jüngerer Honorarkräfte sinkt rapide, für sie ist Berlin nur noch bestenfalls ein Sprungbett in andere Regionen. Die wenigen angestellten Lehrkräfte sind einer so nie dagewesenen Dauer-Überbelastung ausgesetzt. Die Tarifverhandlungen über eine Höhergruppierung stocken nicht zuletzt wegen maßloser Forderungen des Landes, die eindeutig nicht die Handschrift des Finanzsenats, sondern der Senatsweiterbildungsverwaltung tragen: Danach sollen zum Beispiel Musikschulleitungen künftig statt mit einer künstlerischen Ausbildung auch mit einer rein betriebswirtschaftlichen Ausbildung daherkommen können. Die beabsichtigen Berechnungsgrößen zu Fachbereichen und Unterrichtsaufkommen ließen eine tatsächliche Besserstellung der administrative arbeitenden Angestellten erst gar nicht zu, weil die erforderlichen Jahreswochenstunden und/oder Schülerzahlen selbst in den großen Berliner Musikschulen so nicht erreicht werden. Von der eingruppierungsmäßigen Aufwertung der Arbeit der rein pädagogisch Tätigen soll schon erst gar nicht die Rede sein. Warum also sollte die Gewerkschaft einen Vertrag unterschreiben, der unterm Strich eine weitere Verschlechterung gegenüber dem aktuell vertragslosen Zustand bringen würde? Die wenigen Festangestellten sollen die durch die Ausführungsvorschrift vorprogrammierte Deformation verwaltungstechnisch umsetzen, dabei weiterhin auch das Künstlerische koordinieren, innovativ und kreativ sein mit einem Kollegium, das seinerseits keinerlei Weisungen befolgen muss und seine Arbeit noch weniger gewürdigt sieht als es in Berlin jemals der Fall war.

Apropos lebenslang: Die ursprüngliche Bereitschaft zur freiwilligen, ach so oft unbezahlten Mitgestaltung weicht zunehmend einer ungeheuren Desillusionierung. Wer hier den emotionalen Faktor negiert oder auch nur unterschätzt, hat nichts von Musikschularbeit verstanden. Wer hoch motivierte Fachkräfte über die chronisch schlechte Bezahlung hinaus auch mit zeit-, kraft- und nervenzehrender verwaltungs-willkürlicher Korinthenkackerei überhäuft, dabei aber keinerlei Anstalten zu einer durchaus finanzierbaren (!) Verbesserung der sozialen und finanziellen Lage macht, wer sie sogar noch ohne Not verschärft, muss sich die Vermutung der absichtsvollen Destruktion gefallen lassen. Das trifft auf die Urheber ebenso zu, wie auf diejenigen, die das in ihrer politischen Verantwortung dulden.

Hallo Senat! Warum gibst Du nicht endlich ehrlich zu, dass Dir die bezirklichen Musikschulen, ihre Lehrerinnen und Lehrer in Wirklichkeit schon längst am Allerwertesten vorbeigehen?

Stefan Gretsch, Bundesvorsitzender ver.di Fachgruppe Musik

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