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Eine rotblonde Frau in einem rot-schwarz gemusterten Blazer vor einem schwarzen Hintergrund. Sie hat schulterlanges Haar und trägt orange-roten Lippenstift.

Die Initiatorin des „Herrenberg-Urteils“: Susanne Nowakowski. Das Porträt stammt von Daniela Reske.

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Herrenberg-Urteil: „Es war absolut richtig.“

Untertitel
Ein differenzierter Blick auf das Ergebnis einer langen juristischen Auseinandersetzung
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Das sogenannte „Herrenberg-Urteil“ des Bundessozialgerichtes von 2022 markiert einen Meilenstein. Die höchstrichterliche Beurteilung des Status einer Musikschul-Honorarkraft als sozialversicherungspflichtig kritisiert jahrzehntelange Zweiklassen-Praxis. Das Urteil läutete zugleich einen von ver.di seit Langem geforderten „Zahltag“ für kommunale und öffentliche Träger ein: Musikschullehrkräfte sind fest anzustellen und tariflich zu vergüten. Durchgesetzt ist das noch nicht. Der Bundestag hat nun eine Frist bis 2027 gesetzt. Wer die Sache ursprünglich ins Rollen gebracht hat, ist allerdings kaum bekannt. Wir sprachen mit der Klavier- und Keyboardlehrerin Susanne Nowakowski, die den juristischen Marathon initiiert und über fast acht Jahre durchgestanden hat.

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ver.di: Für Sie ist die Bezeichnung „Herrenberg-Urteil“ eine „Ironie der Geschichte“. Warum?

Susanne Nowakowski: Weil man meinen könnte, der Stadt Herrenberg als Arbeitgeber und Trägerin der hiesigen Musikschule käme irgendein Verdienst an dem bahnbrechenden Urteil zu. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Man hat ja über Jahre alles getan, um eine solche Entwicklung zu verhindern, hat mich nachhaltig zurückgewiesen und gedemütigt. Ganz zuletzt hat die Stadt eine Niederlage einstecken und sich eines Besseren belehren lassen müssen.

ver.di: Dann schauen wir noch genauer auf die Entstehungsgeschichte. Die geht ja zumindest bis ins Jahr 2014 zurück …

Nowakowski: Eigentlich noch länger. Ich habe seit dem Jahr 2000 auf Honorarbasis Schüler*innen an der Musikschule Herrenberg betreut und diese Arbeit immer sehr gern gemacht. Die meisten meiner Kolleg*innen waren ebenfalls Honorarkräfte, ganz selten kam es vor, dass mal jemand in die Festanstellung wechseln konnte. Da ich alleinerziehend war und mein Sohn noch sehr klein damals, wäre ich liebend gern auch fest angestellt worden, um meinen Lebensunterhalt zu sichern. Ich habe in Abständen nachgefragt, bekam aber immer eine Absage. 

Schlimme Kränkung

ver.di: Das empfanden Sie als ungerecht?

Nowakowski: Sicher. Denn ich habe meine Arbeit nie als „zweitklassig“ gesehen. Ich war genauso gut ausgebildet, mein Unterricht unterschied sich nicht von dem Festangestellter. Die Schüler*innen wurden mir zugewiesen. Ich hatte mich selbstverständlich an die Musikschul-Rahmenlehrpläne zu halten und war auch sonst an Weisungen gebunden, etwa an den Stundenplan. Ich habe an der Musikschule immer Herzblut investiert, nicht nur meine Stunden gehalten, sondern natürlich auch an Konferenzen teilgenommen, Klassenvorspiele organisiert, meine Schüler*innen für Veranstaltungen oder auf Wettbewerbe vorbereitet. Ich hatte sogar den einzigen Schüler aus Herrenberg, der seinerzeit beim Landeswettbewerb „Jugend musiziert“ gewonnen hat. Allerdings war er mein Privatschüler. Den wollte die Musikschule für ihr Renommee dann gern übernehmen. Im Ergebnis habe ich für den Unterricht mit dem gleichen Schüler weniger verdient …
Um finanziell und überhaupt über die Runden zu kommen, musste ich mich ohnehin nach weiteren Tätigkeiten umsehen. Eine habe ich einige Zeit lang an der Musikschule im nahegelegenen Wildberg gefunden. Für die Bewerbung hat man mir in Herrenberg sogar ein Zeugnis verwehrt. Als Honorarkraft stünde mir das nicht zu. Das empfand ich als schlimme Kränkung und ich habe mich ratsuchend an ver.di in Karlsruhe gewandt.

Prinzip „Durchwursteln“

ver.di: Die Nachteile als Honorarlehrerin waren auch sonst schwer erträglich?

Nowakowski: Ich bekam damals 24 Euro brutto pro Unterrichtsstunde. Nach etlichen Jahren habe ich mal nach einer Erhöhung gefragt, die wurde abgelehnt. Dazu kamen die bekannten Nachteile: Bezahlt werden nur die geleisteten Stunden. Ich war nie länger als mal einen Tag krank, weil man sich das gar nicht leisten kann. 
Auch in den Ferien, alles in allem für drei Monate, bekommt man ja keinen müden Euro. Man muss sich über die Künstlersozialkasse selbst versichern und Steuern zahlen muss man auch. Rechnet man das alles ein, kam ich auf einen Stundenlohn von acht Euro netto. Das ist ein Bruchteil des Verdienstes von Festangestellten!
Ich fand die Schlechterstellung unerträglich. Auch andere an der Herrenberger Musikschule waren unzufrieden, doch hat niemand wirklich aufbegehrt oder sich gewehrt. Jüngere Kolleg*innen sind schnell weggegangen, sobald sie etwas anderes fanden, andere suchten sich zwei oder drei Honorarstellen im Umland oder zusätzlich eine artfremde Festanstellung. Die meisten haben sich so „durchgewurstelt“. 

ver.di: Doch Ihnen hat es irgendwann gereicht?

Nowakowski: Ich hatte schon von der Möglichkeit einer Statusfeststellung bei der Deutschen Rentenversicherung gehört. Und als ich 2014 mit der damaligen Musikschulleiterin wegen einer Festanstellung regelrecht aneinandergeraten bin, war ich entschlossen. Ich habe alles genau aufgelistet und beschrieben. Und bereits mit dem ersten Bescheid von der Clearingstelle der DRV war klar, dass Scheinselbstständigkeit vorlag. Ich wurde als versicherungspflichtig eingestuft, für mich sollten auch rückwirkend Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden. Dagegen ist aber die Stadt Herrenberg Sturm gelaufen und hat gemeinsam mit dem Arbeitgeberverband gegen den Bescheid, also gegen mich und die Rentenversicherung, geklagt.

ver.di: Sie waren selbst vors Sozialgericht Stuttgart geladen?

Nowakowski: Ja, sowohl ich als auch die Musikschulleiterin wurden dort angehört. Die beiden Richterinnen haben alle Umstände genau analysiert und der Deutschen Rentenversicherung und mir schließlich im Dezember 2017 Recht gegeben. Für mich war das Bestätigung und Aufwind, ich sah es als eine Art Präzedenzfall …

ver.di sah die Chancen

ver.di: Leider blieb es dabei nicht, weil die Stadt Herrenberg gegen das Urteil in Berufung ging.

Nowakowski: Richtig. Die Stadt zog vor das baden-württembergische Landessozialgericht. Dort sah man die Sache dann anders und im September 2019 erhielt der Arbeitgeber Recht. Die DRV nahm das Urteil so hin. Ich selbst war empört, hätte an diesem Punkt aber eigentlich aufgeben müssen, zumal Revision nicht zugelassen wurde. Doch zum Glück gab es ver.di. Das Thema schwelte ja bundesweit bereits überall. 
Und die Gewerkschaft sah gute Chancen, an meinem Beispiel eine letztinstanzliche Entscheidung gegen die schreiende Ungerechtigkeit bei den Musikschulhonorarkräften durchzusetzen. Thomas Kohlrausch vom Gewerkschaftlichen Centrum für Revision und Europäisches Recht beim DGB-Rechtsschutz hat mich – ich galt als „Beigeladene“ – in dem Fall fachkundig vertreten. Er erstritt zunächst die Zulassung der Revision. Es kam dann zur Verhandlung am Bundessozialgericht und ganz am Ende, im Juni 2022, stand das „Herrenberg-Urteil“. Damit wurde endgültig klargestellt, dass ich rund 15 Jahre lang an der Musikschule der Stadt versicherungspflichtig beschäftigt war.

ver.di: Zu der Zeit arbeiteten Sie dort schon gar nicht mehr. Wie haben Sie das Ergebnis aufgenommen?

Nowakowski: Ich habe mich wirklich gefreut. Nach so langer Zeit endlich doch ein positiver Abschluss! Freilich hatte sich meine berufliche Situation inzwischen geändert. Auch weil ich von der Musikschule Herrenberg sozusagen „ausgetrocknet“ wurde und kaum noch Schüler zugewiesen bekam, habe ich den Weg in die wenig abgesicherte, aber dafür freie und selbstbestimmte Arbeit beschritten. Ich habe mir ein eigenes Studio aufgebaut, betreue hier auch meine Schüler und bin nach einer Zusatzausbildung zugleich kirchenmusikalisch tätig.

ver.di: Außer Stress und jahrelange Belastungen – was hat Ihnen das Urteil dann persönlich gebracht?

Nowakowski: Ich habe eine nicht unbeträchtliche Rückzahlung von Beiträgen durch die KSK erhalten. Und mein Rentenkonto hat sich etwas aufgebessert, da die Stadt ja Versicherungsbeiträge für mich nachzahlen musste. Allerdings mussten ver.di-Juristen dafür noch zweimal in Herrenberg nachstoßen. Insgesamt, so muss ich aber konstatieren, bin ich trotz 20 Jahren Tätigkeit als Musikschullehrerin in die Armut gerutscht, Urlaubs- und Weihnachtsgeld bekamen immer nur andere, Rücklagen konnte ich nie bilden. Das ist schon bitter.

ver.di: Seit das Urteil bekannt ist, argumentieren einige Honorarkräfte selbst gegen mehr Festanstellung. Ihre künstlerische Freiheit sei bedroht …

Nowakowski: Das finde ich absurd. Man kann mit 40 oder sogar 100 Prozent Beschäftigung an einer Musikschule in den Ferien, an Wochenenden oder wann immer auch eigene musikalische Projekte betreiben, Konzerte geben, künstlerisch experimentieren. Musikschulpädagogische Tätigkeit gehört für mich dagegen zu einer umfassenden kulturellen Bildung. Sie ist kein bloßer Hinzuverdienst oder nur ein Taschengeld für Leute mit einem gutverdienenden Ehepartner. Alle Lehrkräfte, die an Musikschulen für ihren Lebensunterhalt arbeiten und qualitativ hochwertigen Unterricht geben, gehören strukturell gleich- und eben festangestellt. Es ist an der Zeit, da einen klaren Schnitt zu machen und das strukturell verquere Zweiklassen-System zu beenden. Das hat man ja inzwischen selbst im Bundestag eingesehen.

Ein Fazit

ver.di: Wenn Sie ein Fazit ziehen sollen: Hat sich all Ihre juristische Mühe gelohnt?

Nowakowski: Es war absolut richtig, das zu machen. Ich bin froh, es durchgestanden zu haben, auch für die Allgemeinheit. So ein Gleichstellungsurteil war überfällig. Es hat auch für mehr Öffentlichkeit gesorgt. Die Bevölkerung, selbst Eltern von Musikschülern, wissen ja bis heute kaum etwas über die prekäre Lage von Lehrkräften zweiter Klasse.
Freilich geht ein Umsteuern jetzt nur langsam voran. Wenige Musikschulen haben bisher all ihre Lehrer fest angestellt. Aber das Urteil ist in der Welt und wirkt weiter.
Für mich persönlich sehe ich rückblickend, dass sich mein beruflicher Lebensweg erfüllender hätte gestalten können, wenn ich rechtzeitig die Sicherheit einer Festanstellung gehabt hätte. Das meine ich nicht nur in materieller Hinsicht, sondern auch mit Blick auf die Wertschätzung, die man für seine Arbeit verdient.

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Weiterführende Informationen

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Susanne Nowakowski (63) erhielt ihren ersten Klavierunterricht mit sechs Jahren und erwarb nach Studium in Heidelberg/Mannheim und Hamburg 1991 ein Diplom als Musiklehrerin mit Hauptfach Klavier. Es folgten Stationen als Korrepetitorin und Keyborderin an Stella Musical-Bühnen in Hamburg, Duisburg und Basel sowie freiberufliche künstlerische Tätigkeit und ein Studium der Malerei. Von 2000 bis 2018 war Susanne Nowakowski Lehrkraft für Klavier und Keyboard an den Musikschulen Wildberg und Herrenberg. Seit 2008 ist sie als Organistin auch kirchenmusikalisch tätig. Ihre 2015 begonnene selbstständige Unterrichtstätigkeit setzt Schwerpunkte auf individuelle Förderung und Improvisation. Sie hat sich regelmäßig fortgebildet und CDs und Noten für Klavier im Unterricht herausgegeben. Bis heute betreut sie wöchentlich etwa 20 Schüler:innen. Künftig möchte sie sich wieder verstärkt ihrer zweiten professionellen Liebe, der Malerei, widmen.

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