Banner Full-Size

Weihnachten im Jahr 2045

Untertitel
„Stille Nacht – ein Lied mit 4 Tönen oder 4 Schritten, Takt 1–3“
Autor
Publikationsdatum
Body

Wie jedes Jahr zu Weihnachten holt Lara-Sophie ihre Tochter Alina vom Weihnachtsvorspiel bei ihrer Geigenlehrerin, Lisa Weniger-Schlimm, ab. Alina hat jetzt schon vier Jahre Unterricht bei ihr. Frau Weniger-Schlimm ist die Nichte von Lara-Sophies alter Geigenlehrerin, Frau Hart-Zwier. Früher hat Lara-Sophie an Weihnachten immer Frau Hart-Zwier im Altersheim besucht, in dem sie zuletzt gewohnt hat. Nun ist Frau Hart-Zwier aber schon ein paar Jahre tot, denn sie musste in dem Heim ganz viel putzen, weil ihre Rente nicht für die Miete gereicht hat, und so ist sie schließlich an einem Herzinfarkt gestorben. Frau Hart-Zwier hat sich bis zuletzt immer große Sorgen um ihre Nichte gemacht, weil die auch Geigenlehrerin geworden ist, und Frau Hart-Zwier hatte Angst, dass es ihrer Nichte einmal genauso gehen würde wie ihr und sie genauso arm sein würde.

 Zuerst hatte sie auch Recht damit, und Lara-Sophie hat Alina früher oft einen Korb mit Kuchen und Wein mitgegeben, damit Frau Weniger-Schlimm in ihrer winzigen Wohnung wenigstens genug zu essen und ab und zu ein Gläschen Wein hatte. Auch andere Schüler haben ihr immer etwas zu essen mitgebracht. Seit dem letzten Weihnachten hat es Frau Weniger-Schlimm aber viel besser als ihre Mutter es jemals hatte. Sie hatte großes Glück, denn im Jahr 2044 hat das oberste Gericht entschieden, dass alle Musikschullehrer sofort fest angestellt werden müssen. Deswegen gibt es jetzt keine armen Honorar-Musikschullehrer mehr, denen die Schüler Kuchen und Wein mitbringen müssen, sondern alle Musikschullehrer wohnen jetzt in schönen großen Häusern und können sich ihr Essen und sogar ihren Wein selbst kaufen.

Frau Weniger-Schlimm und die Projektitis

Deshalb öffnet Frau Weniger-Schlimm Lara-Sophie auch strahlend die Tür, nicht so bedrückt wie letztes Weihnachten, als sie sogar im Dunkeln üben musste, weil sie kein Geld mehr für Strom hatte. Fröhlich bittet sie Lara-Sophie herein. Sie kann ihr jetzt sogar eine Tasse Kaffee und ein paar Lebkuchen anbieten. Alle anderen Schüler sind schon weg, Alina ist die letzte, die abgeholt wird, und außer ihr ist nur noch eine alte Dame da. „Das ist Hilde Armundalt, eine gute Freundin meiner Tante aus dem Altersheim“, stellt Frau Weniger-Schlimm die alte Dame vor, „sie hat meiner Tante immer sehr geholfen, wenn sie es mit dem Putzen nicht mehr geschafft hat. Ohne sie wäre meine Tante bestimmt noch viel früher gestorben. Jetzt, wo es mir so gut geht und ich ein großes Haus habe, habe ich sie aus dem Heim zu mir geholt. Sie hört fast nichts mehr, aber sie freut sich trotzdem, dass sie beim Vorspiel mit all den jungen Leuten zusammen sein darf.“ Die alte Dame schüttelt Lara-Sophie mit einem kräftigen Händedruck die Hand und lächelt sie an. Lara-Sophie erschrickt ein wenig, denn Frau Arm­undalt hat fast keine Zähne mehr. Doch sie fasst sich schnell und sagt zu Frau Weniger-Schlimm: „Ach, wie nett von Ihnen, dass Sie sich so um die Freundin Ihrer Tante kümmern! Aber wie geht es Ihnen selbst so?“ „Ach, so gut wie nie zuvor“, sagt Frau Weniger-Schlimm. „Ich kann mir inzwischen sogar eine Putzfrau leisten, so, wie viele meiner Kollegen! Seit das so ist, wollen auch wieder viel mehr junge Menschen Musikschullehrer werden. Eigentlich könnten wir alle richtig glücklich sein, wenn wir nur nicht immer bei diesen ganzen Projekten mitmachen müssten, die sich die Regierung ausdenkt.“ „Wo müssen Sie denn gerade mitmachen?“, will Lara-Sophie wissen. „Naja, zuerst hatten wir Jeki (Jedem Kind ein Instrument) und Jekiss (Jedem Kind seine Stimme), dann Jekisst (Jedem Kind sein Singen und Tanzen) und dann noch Truhofa (Trallala und hoppsassa für alle). Aber Truhofa gab es nicht an Schulen, sondern in allen Stadtteilen, und jeder konnte mitmachen, nicht nur Schulklassen. Das gibt es jetzt aber nicht mehr, weil da zu viele alte Leute mitmachen wollten, und die Regierung hat zu wenig Geld und will das lieber jungen Menschen geben. Deswegen gibt es jetzt nur noch Projekte für Schulklassen. Jetzt haben wir gerade Jekindts, das ist fast das Gleiche wie Jekisst, aber die Kinder müssen viel weniger lernen. An Jeki und Jekiss hatten sich viele Musikschullehrer schon gewöhnt, aber bei Jekisst fanden sie nicht gut, dass die Kinder nur eine einzige Sache lernen sollten, nämlich singen oder tanzen.

Sie wollten auch, dass die Kinder mehr als vier Töne in einem Jahr singen oder mehr als vier Schritte tanzen lernen – wozu hat man denn sonst Musik studiert? Jetzt sind die Lehrer aber alle total sauer, denn bei Jekisst haben die Kinder wenigstens noch mehrere Lieder oder Tänze mit vier Tönen oder vier Schritten gelernt. Das war aber für viele Kinder zu schwer und deswegen lernen sie bei Jekindts nur noch die ersten zwei Takte und den ersten Ton vom dritten Takt von „Stille Nacht“ und üben das ein ganzes Jahr, damit es bei der Weihnachtsaufführung klappt, wenn die Politiker von der Regierung zum Zuhören kommen. Außerdem verstehen die Musikschullehrer nicht, dass sie das Gleiche machen sollen wie der Musiklehrer an der Schule, nur viel weniger.“ – „Ja, das ist wirklich merkwürdig“, findet auch Lara-Sophie, „warum  gibt die Regierung den Kindern dann nicht einfach mehr Musikunterricht?“ Früher, als die Musikschullehrer noch nicht alle fest angestellt waren, war es natürlich viel billiger für die Regierung, wenn sie Musikschullehrer genommen hat statt Schulmusiklehrer, so viel ist klar – aber jetzt?

Frau Weniger-Schlimm und die Schulmusik

Das weiß Frau Weniger-Schlimm auch nicht. Aber sie weiß, dass es zu wenige Jekindts-Lehrer gibt, weil nur so wenige Musikschullehrer Jekindts richtig gut finden. Weil für die Regierung Jekindts aber total wichtig ist, hat sie sich überlegt, mehr hochqualifizierte Jekindts-Lehrer anzustellen. Weil es aber fast keine Jekindts-Lehrer gibt und die Ausbildung von Jekindts-Lehrern viel zu lange dauern würde, hat die Regierung beschlossen, dass jetzt jeder, der sich selbst ein bisschen Tanzen und Singen beigebracht hat und als Jekindts-Lehrer arbeiten will, beim Jekindts-Casting mitmachen kann. Dazu muss er nur ein Video an die Jekindts-Jury schicken, auf dem die Jury sehen und hören kann, wie er singt und tanzt und welche Lieder und Tänze er kennt. Für die Jury hat die Regierung die besten Casting-Experten Deutschlands ausgesucht. Den Vorsitz hat Dietrich Hohlen. Dann sind noch der Tanzexperte George von Zalez, der renommierte Gesangsprofessor Viktor Schnarrberg-Brumm von der Musikhochschule Leer und als Unterrichtsexperte Manfred Meier, ein Lehrer von der Freien Musikschule „Lovely Kids Musinix“ aus Winsen an der Luhe dabei.

Der war früher Honorarlehrer und will sich ein bisschen Geld zur Grundsicherung dazuverdienen, obwohl das sicher nicht mehr für ein schönes großes Haus reichen wird – aber ab und zu eine Flasche Wein ist ja auch nicht schlecht. Jeder aus der Jury kann bis zu zehn Punkten an einen Jekindts-Kandidaten vergeben, und schon wer insgesamt vier Punkte bekommt, darf sich „qualifizierter Jekindts-Pädagoge“ nennen und bekommt ein auf Büttenpapier handgemaltes Zertifikat in einem goldenen Rahmen. Das darf er in seinem Unterrichtsraum aufhängen, damit alle Kinder und vor allem auch die Eltern sehen können, dass er nicht irgendein Jekindts-Lehrer ist, sondern ein besonders qualifizierter.“ „Und diese Lehrer  dürfen dann die Kinder unterrichten?“, empört sich Lara-Sophie. Sie erinnert sich, wie viel sie als Kind bei Frau Hart-Zwier im Geigenunterricht gelernt hat, und das nicht nur im ersten und zweiten, sondern auch in allen anderen Jahren. Allerdings hatte Frau Hart-Zwier viele Jahre Musik und Unterrichten studiert und dabei ganz viele Sachen gelernt. Sie hatte richtig viel Ahnung, das hat Lara-Sophie gemerkt, obwohl sie noch ein Kind war. Deshalb hat sie auch viele Jahre bei Frau Hart-Zwier durchgehalten, obwohl sie immer stundenlang mit dem Bus zur Musikschule fah­ren musste und abends entsetzlich müde war.

Doch Frau Weniger-Schlimm beruhigt Lara-Sophie: „Das merkt doch gar keiner, ob die guten Unterricht machen – schließlich kennt heutzutage sowieso kaum noch jemand das Lied „Stille Nacht“, das an Weihnachten immer aufgeführt wird! Vor allem nicht die vielen Kinder aus anderen Ländern. Da ist es doch völlig egal, in welcher Reihenfolge die Kinder die Töne singen oder die Schritte machen.“ Das findet Lara-Sophie aber gar nicht, denn sie hat bei Frau Hart-Zwier gelernt, dass es sehr wohl auf die richtige Reihenfolge der Töne ankommt und sogar darauf, dass man die Töne schön spielt. Aber die Zeiten ändern sich eben, und früher war ja sowieso alles besser …

Dafür lernen die Kinder im Jekindts-Unterricht jetzt Demokratie, und das ist ja auch sehr wichtig. Frau Weniger-Schlimm erklärt Lara-Sophie nämlich, dass die Kinder in den Jekindts-Gruppen von Anfang an mitbestimmen dürfen, welcher Ton oder – in den Tanzgruppen – welcher Schritt als erster, welcher als zweiter, als dritter und so weiter. gelernt wird. Die Kinder, die Tanzen haben und aus anderen Ländern kommen, können außerdem auch ihre Tanzerfahrungen in einem interkulturellen Schritt-Vergleich einbringen und als Schritt-Experten für ihre Herkunftsschritte auftreten. Das stärkt ihr Selbstbewusstsein und ist ein wichtiger Beitrag zur Integration. In den Singegruppen untersuchen die Kinder, wie sich die Töne je nach Herkunftssprache im Hals der anderen Kinder anfühlen und stellen Gemeinsamkeiten und Unterschiede fest. Nur die ADHS-Kinder dürfen dabei nicht mitmachen, weil sie es mit dem Fühlen manchmal ein bisschen übertreiben.

Obwohl Lara-Sophie erst ein bisschen skeptisch war, sieht sie nun doch allmählich, wie modern und wichtig der Jekindts-Unterricht ist. Frau Weniger-Schlimm erzählt ihr auch, dass die Schulen ganz wild darauf sind, Jekindts zu bekommen. Die müssen sich nämlich darum bewerben, weil das Geld von der Regierung nicht dafür reicht, dass wirklich jedes Kind Tanzen oder Singen bekommt. Eigentlich müsste das Projekt deswegen Fajekindtos heißen: fast jedem Kind singen oder tanzen. Oder Jefükindtos: jedem  fünften Kind Tanzen oder Singen. Aber auf die Bedeutung, die in dem Projektnamen steckt, schaut sowieso keiner so genau. Außerdem spricht sich Jekindts auch viel leichter aus als Fajekindtos oder gar Jefükindtos. Vor allem für die ganzen Kinder und Eltern mit Migrationshintergrund sind nämlich so viele Vokale in einem Wort  sehr schwierig auszusprechen, außer für die, die Spanisch sprechen, aber die sollen auf keinen Fall bevorzugt werden.

Die Regierung ist sehr stolz darauf, dass sie bei dem Projektnamen gleich an die vielen Kinder gedacht hat, die noch nicht so lange in Deutschland leben und trotzdem alle gleich bei Jekindts mitmachen wollen. Deswegen ist der Name Jekindts auch ein Zeichen für die deutsche Willkommenskultur.  Nun ist Lara-Sophie noch mehr beeindruckt davon, wofür Jekindts gut ist  und wie schlau die Regierung das alles geplant hat – ein geniales Allround-Projekt, von dem die ganze Gesellschaft unheimlich profitieren kann. Kein Vergleich mit ihrer eigenen Kindheit! Lara-Sophie konnte weder mitbestimmen, in welcher Reihenfolge sie die Töne auf der Geige lernen, noch so viele und sogar interkulturelle Schritt-, Sing- und Tast­erfahrungen machen wie die heutigen Kinder.

Sie mussten erst ewig lange üben, bis sie zwanzig Töne und die auch noch schön spielen konnte und dann auch noch mit so schwierigen Sachen wie „crescendo“ oder „piano“. Erst dann hat Frau Hart-Zwier ihr erlaubt, mit anderen Kindern zusammenzuspielen. Allerdings konnten dann auch alle Kinder zu Weihnachten „Stille Nacht“ von vorne bis zum letzten Takt spielen und es hat sich auch gleich sehr schön angehört, jedenfalls viel schöner als die Aufnahme von der letzten Jekindts-Weihnachtsfeier, die Frau Weniger-Schlimm Lara-Sophie zum Abschied noch vorspielt.

Frau Weniger-Schlimm und das Lehrer-Casting

Sie stellt die Aufnahme besonders laut, damit auch Frau Armundalt etwas hören kann. Die fängt plötzlich an, heftig zu gestikulieren und Frau Weniger-Schlimm am Ärmel zu zupfen. „Sie ist nicht nur fast taub, richtig sprechen kann sie auch nicht mehr“, flüstert Frau Weniger-Schlimm Lara-Sophie zu, „aber trotzdem würde sie gern noch irgendwas Nützliches machen. Sie fühlt sich so überflüssig dabei, hier den ganzen Tag im Haus zu sitzen, und putzen muss sie ja bei mir nicht, weil ich eine Putzfrau habe. Ich werde sie demnächst für das Jekindts-Lehrer-Casting bei der Jekindts-Jury anmelden, mit Spezialisierung auf Tanz. Schließlich ist sie durch das viele jahrelange Putzen noch ganz schön gelenkig, und man muss beim Tanzen sowieso nicht gut hören und sprechen können. Da müsste sie doch eigentlich gute Chancen haben!“ „Das klingt super“, sagt Lara-Sophie, „machen Sie das, schließlich muss man auch mal was für die vielen Menschen mit geriatrischem Hintergrund tun! Und nächstes Weihnachten komme ich dann mit zur Jekindts-Tanzvorführung und sehe mir an, wie die Gruppe von Frau Armundalt mein Lieblingslied ‚Stille Nacht‘ vortanzt. Jedenfalls den Anfang. Vielleicht kann ich ja mal wieder meine Geige rausholen und den Rest spielen?“

Autor
Print-Rubriken
Unterrubrik