Hauptbild
Maria Rosendorfsky (Foto: Martin Kaufhold)
Maria Rosendorfsky (Foto: Martin Kaufhold)
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Industrielles Töten: Philip Glass’ „In der Strafkolonie“ am Theater Ulm

Publikationsdatum
Body

Station Zwei der fünf Inszenierungen von Philip Glass’ „In the Penal Colony“ an deutschen Theatern in der Spielzeit 2019/20 – nach dem Studio des Theaters Hof jetzt im Podium des sein Jubiläum „50 Jahre nach dem Neubau“ feiernden Theaters Ulm. Gerade noch geschafft zur letzten Vorstellung in der deutschen Übersetzung von Cordula Engelbert und Bettina Rohrbeck am 28. Dezember.

Die auf den ersten Blick recht dürre, auf den zweiten desto mehr beeindruckende Produktion hat eine sehr spezifische Dynamik. Durch unmittelbaren Vergleich bestätigt sich: Die sogenannte Minimal Music ist weitaus wandelbarer als gedacht und Glass’ Kammeroper mit ihrem objektivierenden ‘Sound’ hat weitaus mehr Diskurs-Potenzial als Partituren mit akustischer Empathie-Garantie.

Die Tötungsmaschine. Auch im Podium des Theaters Ulm ist sie eine bettgroße Membran, hinter der sich menschliche Körper abzeichnen. Sie treibt den Verurteilten in einer mehr als zwölfstündigen Tortur mit Nadeln Schriftzüge in die Haut. Aber diese Membran ist der einzige Bezugspunkt zwischen Lothar Krauses Inszenierung im Studio des Theaters Hof (hier die Kritik) und der von Sarah Kohrs im Podium des Theaters Ulm. Die in allen Sparten erfahrene Regisseurin akzentuierte vor allem technische und bürokratische Mechanismen, hielt sich von mystisch-sinnlichen Andeutungen fern und setzte im flächendeckenden, aus Ämtern bekannten Grusellicht packende Akzente ohne Spektakel-Ambitionen. Am Ende langer, beeindruckter Applaus – zu Recht.

Sei es, dass Philip Glass’ hier gar nicht monoton wirkende Repetitiv-Strukturen während der Vorstellungsserie seit 8. November Eigendynamik gewannen oder diese durch Hendrik Haas und den die beiden letzten Vorstellungen dirigierenden Michael Weiger bewusst modelliert wurden: Das Streichquintett aus dem Philharmonischen Orchester der Stadt Ulm lieferte eine auch bei Zemlinsky oder dem frühen Schönberg bestens passende spätromantische Homogenität von Fülle, Transparenz und dramatischer Geschmeidigkeit. Dabei ging es allerdings nicht um die Ästhetisierung von Folter, blutiger Watte und Tod, sondern um das, was die bis kurz vor Schluss entpersönlichten Figuren erörtern. In den beiden letzten Takten knallt der Besucher, dessen von Kafka ausgespartes Mitgefühl auch hier gut hinter dessen Stirn verborgen bleibt, den dumpfen Gefangenen (Elias Hörz) und seine Wache (Joachim Schreiber) ab. Wenn Soldat und Opfer davor stille, freundliche Gesten füreinander zeigen, sind das die einzigen wärmenden Momente des Abend.

Das Ulmer Podium mit den Drehstühlen ohne Lehne, von denen das Publikum in der ausverkauften Vorstellung von der Raummitte auf die Podeste an den Wänden das Spielgeschehen verfolgt, ist ein genial gestalteter, variabler Theaterraum. Der Offizier durchschneidet erst mehrere Trennwände und durchschreitet dann mehrere Räume mit Industrie-Gerümpel, bis die vier Figuren in der Todeszelle ankommen. Monika Gora geizt passgenau mit dekorativen Mitteln für diesen Nichtraum zur Unzeit, durch den Suchscheinwerfer in den Nicht-Farben der Kostüme fluten (Licht: Gerolf Haaga): Die Farben am Rand der Zivilisation sind Beige, Grau, Sand.

Der Besucher wird in Ulm vom Tenor zur Sopran-Hosenrolle. Maria Rosendorfsky, die schon Erfahrungen als Bergs Vollfrau Lulu mitbringt, zeigt keine einzige affektive Regung, spitzt bei der kurzen Berührung mit dem Gefangenen nur angewidert die Lippen. Am Ende fragt man sich: Ist dieser Besucher Vollstrecker des neuen Kommandanten, der keine Mitwissenden über das Lebenswerk seines Vorgängers duldet? Die Sängerin liefert ein androgynes Vexierspiel, in dem sie die Neutralität noch deutlicher zur Schau trägt als ihr männlicher Widerpart.

Sachliche und dabei weitgehend emotionsfreies berufliches Engagement kommt vom Offizier. Martin Gäblers klarer Bassbariton schwebt und skandiert wie prädestiniert über dem Streichquintett, während die schöne hohe Stimme Rosendorfskys wie ätzendes Reinigungsmittel auf Glass’ instrumentale Bürsten-Bewegungen rinnt. Keimfrei, korrekt, kooperativ interagiert der Offizier – und wenn er an sich selbst die Maschine ausprobieren wird, ist sein Tod zwar ein bedauerlicher Betriebsunfall, aber keine metaphysische Selbstentäußerung.

Die beiden Schüsse aus dem Lauf des Besuchers knallen also in ein bürokratisch einwandfreies und allenfalls ethisch zweifelhaftes Geschehen. Insofern bestätigt die Inszenierung das von Glass’ und schon von Kafka in seiner seit ihrer Entstehung 1914 schockierenden Erzählung angewandte Verfahren: Grausamkeit, antihumane Sachlichkeit und die unmenschlichen Umgangsstrukturen, in die sich Menschen unter entsprechenden bürokratischen und diplomatischen Bedingungen pressen lassen, macht Sarah Kohrs mit ebenso einfachen wie eindrucksvollen Mitteln deutlich. Das Publikum verstand, dass die Entscheidung über Gleichgültigkeit oder Erkenntnis zivilisatorischer Extremmuster seiner eigenen Wahrnehmungsintensität überlassen war. Eine äußerst mutige Gesamtleistung also, weil sie das thematische Gewaltpotenzial von Glass‘ „In der Strafkolonie“ nicht als Ausnahmezustand zeigte, sondern dieses versachlichte Gewaltpotenzial mit schlichter unnachgiebiger Strenge erfahrbar macht. Glass’ nur scheinbar neutralisierende Musik steigert das bei einer überlegten Realisierung wie der des Theaters Ulm mit originärer, spezifischer Schärfe.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!