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Ulrich Rademacher übernimmt das Steuer des Bundeswettbewerbs „Jugend musiziert“ von Reinhart von Gutzeit. Foto: Markus Kaesler
Ulrich Rademacher übernimmt das Steuer des Bundeswettbewerbs „Jugend musiziert“ von Reinhart von Gutzeit. Foto: Markus Kaesler
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Auf den Spuren des Musikalischen im Wettbewerb

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nmz-Gespräch mit Reinhart von Gutzeit und Ulrich Rademacher über den Wettbewerb „Jugend musiziert“
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Anfang Juni wurde in Paderborn der 54. Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“ durchgeführt. Dort fand auch die „Stabübergabe“ an der Spitze des renommierten Projekts statt: Reinhart von Gutzeit hat den Wettbewerb als Vorsitzender des Projektbeirats über viele Jahre geprägt. Nun übergab er das verantwortungsvolle Amt an Ulrich Rademacher, Bundesvorsitzender des Verbands deutscher Musikschulen (VdM) und Leiter der Westfälischen Musikschule Münster. Reinhart von Gutzeit wird dem Projektbeirat aber mit Rat und Tat erhalten bleiben. Die beiden nmz-Herausgeber Theo Geißler und Barbara Haack nutzten die Gelegenheit für ein Gespräch mit den beiden Kultur- und Musikmenschen über Rück- und Ausblick für „Jugend musiziert“.

Barbara Haack: Zum Start eine einfache Frage: Was bedeutet für Euch „Jugend musiziert“?

Ulrich Rademacher: „Jugend musiziert“ hat mich seit meinem 16. Lebensjahr begleitet. Ich habe damals immer als Kammermusiker teilgenommen und hatte nie das Gefühl, Solist werden zu wollen. Diese Einstellung war früher noch nicht so geschätzt. Der Gipfel der Nichtbeachtung bestand darin, dass ich beim Bundeswettbewerb in Heidelberg auf der Preisträgerliste nicht erschien und erst auf Nachfrage meinen ersten Preis bekam. Aber ich fand es schön, immer derjenige zu sein, der „seine“ Solisten trägt und beruhigt. Als ich in Münster Musikschulleiter wurde, war „Jugend musiziert“ das erste, was ich dort erlebt habe. Vor meinem offiziellen Dienstantritt kam ich mit meinem Motorrad 1989 nach Münster und sah um meine Schule herum den Bundeswettbewerb, der die Stadt wirklich verzaubert hat. „Jugend musiziert“ kann eine Stadt verzaubern, gerade so eine kleine Stadt wie Münster oder wie jetzt Paderborn. Auf allen Plätzen machten die Menschen Musik, es waren Zelte aufgebaut, Juroren, Teilnehmer und Eltern und Lehrer liefen durcheinander, es war ein buntes Fest. Weil dieser Bundeswettbewerb so einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hatte, wurde in Münster dann auch der Klassikpreis –später dann mit dem Partner WDR3 – dauerhaft eingerichtet.

Schon damals habe ich mich über die Behauptung geärgert, dass man sich irgendwann entscheiden müsse, ob man aus Lust Musik macht oder ob man etwas leisten will. Das ist ein konstruierter Gegensatz: „Jugend musiziert“ zeigt, dass die beiden Seiten einander bedingen und dass es Spaß macht, etwas zu können. Aber auch in der Schule gab es das Jumu-Lager und das Nicht-Jumu-Lager, das musste ich immer wieder ausbalancieren.

„Jugend musiziert“ war immer ein Wettbewerb, der sich laufend verändert. Spürbar war immer das Ringen um eine gerechte Punktierung und um die Gestaltung der richtigen Herausforderungen: um den vielfältigen Einsatz der Instrumente, um die Frage, was denn Neue Musik sei, ob Alte Musik ungeeignet ist, ob man mit 12 überhaupt schon singen darf, ob Musicals auch Musik sind …

In jedem Jahr wurde ein Problem gelöst oder zumindest einer vorläufigen Klärung zugeführt, und mindes­tens zwei neue Fragen standen im Raum. Aber immer haben viele Menschen mit viel Engagement und Ernsthaftigkeit versucht, das Problem zu lösen und „Jugend musiziert“ wieder neu aufzustellen.

Reinhart von Gutzeit: Mir geht es ähnlich wie Ulrich: „Jugend musiziert“ war immer ein bestimmender Teil des Lebens. Erst als Teilnehmer 1965, im zweiten Wettbewerbsjahr; nicht viel später als engagierter Geigenlehrer mit vielen erfolgreichen Schülern; auch als Vater heftig musizierender Kinder und schließlich als Mitgestalter vom Regionalwettbewerb bis zum Bundeswettbewerb. Ein wichtiger Gedanke: Ähnlich wie uns beiden ergeht es auch sehr vielen anderen auf allen drei Wettbewerbsebenen. „Jugend musiziert“ lebt vom ehrenamtlichen Engagement vieler Menschen, die sich von dieser wunderbaren Idee anstecken lassen.

Interessenlagen

Theo Geißler: Wenn man auf den Anfang des Wettbewerbs zurückschaut: Da gab es die Überlegung, dass sich unterschiedliche Musikverbände mit durchaus auch unterschiedlichen Interessen und Ausrichtungen zusammengetan haben, um diesen Wettbewerb ins Leben zu rufen. Was war der Auslöser?

Gutzeit: Es wird immer gesagt, der Auslöser sei die Tatsache gewesen, dass es nicht genug Nachwuchs für den Orchesterbereich gab. Ich denke, dass man das ein bisschen hinterfragen muss. So spielten ja das Klavier und die Pianisten von Anfang an eine wesentliche Rolle. Richtig ist sicher, dass der Wettbewerb der Orchesterlandschaft wesentliche Impulse geben sollte und das hat er ja auch zweifellos erreicht – mit fortdauernder Wirkung.

Zum Thema der „tragenden Verbände“ und ihrer unterschiedlichen Interessen: Mir hat immer gut gefallen, dass die einschlägigen Verbände engagiert mitarbeiten und sich auf den drei Ebenen des Wettbewerbs eine Art verkleinerter Musikrat abbildet, dass aber so gut wie nie auf die eigenen Interessen verengte Sichtweisen eines Verbandes in die Diskussion eingebracht werden. Die Ausschuss- und Beiratsmitglieder geben ihre Verbandszugehörigkeit gleichsam an der Garderobe ab und denken gemeinsam darüber nach, was für den Wettbewerb und seine jungen Teilnehmer unter künstlerisch-pädagogischen Aspekten gut und richtig ist. Also völlig untypisches Funktionärsverhalten!

Geißler: Nun ist es ja wichtig, dass eine gesamtpädagogische Kompetenz, das Ganze trägt. Wie greift das ineinander mit der Sehnsucht, letztendlich dann doch exzellente junge Künstler auszuzeichnen? Das könnte ja ein Gegensatz sein!

Gutzeit: Könnte, ist es aber nicht. Pädagogische Kompetenz und künstlerische Träume sind doch untrennbar ineinander verwoben. Und der Wettbewerb ist genauso Informations- wie Inspirationsquelle für die Teilnehmenden und ihre Lehrerinnen und Lehrer. Sie können sich ein Bild machen, wo es hingehen kann, sie können auf Musizierformen und Werke aufmerksam gemacht werden und sich von herausragenden Leistungen beeindrucken lassen. Alleine mit einem pädagogischen Habitus, der nicht künstlerisch durchsetzt ist, lässt sich kein junger Mensch dauerhaft für ein Ins­trument begeistern.

Das Unmessbare

Haack: Die einen sagen: „Jugend musiziert“ ist wunderbar, ein pädagogisches und künstlerisches Instrument. Andere sagen aber auch, die Freude an der Musik widerspreche diesem Wettbewerbsgedanken. Habt Ihr Verständnis für die Lehrer oder Schüler, die nicht am Wettbewerb teilnehmen wollen?

Rademacher: Ja, das habe ich. Wichtig finde ich, dass man es als Lehrer schafft, die persönliche Anerkennung für ein Kind zu trennen von der konkreten Leistung, die es erbringt. Wenn sich das Kind als Mensch akzeptiert und wertgeschätzt fühlt, unabhängig davon, wie toll es jetzt gerade Beet­hoven oder Chopin spielt, dann darf man auch ein bisschen triezen, man kann dann auch scheitern und nochmal wieder neu anfangen. Ein Lehrer, der nicht in der Lage ist, einem Schüler einen dritten Preis in einem Regionalwettbewerb als Erfolg zu verkaufen und ihm weiterhin ein gutes Gegenüber zu sein, der handelt unverantwortlich, wenn er ein Kind zum Wettbewerb schickt. Wenn er dann nachher behauptet, ein dritter Preis habe die Motivation seines Schülers kaputt gemacht, dann hat er als Lehrer wohl eher selbst versagt.

Haack: Ist eine Art Lehrerfortbildung also auch die Aufgabe von „Jugend musiziert“?

Gutzeit: Auf jeden Fall! Aber noch ein Wort zu den Kolleginnen und Kollegen, die zu „Jugend musiziert“ auf Distanz gehen. Ich habe Respekt vor der Sorge bezüglich mancher schädlicher Nebenwirkungen von Wettbewerben. Aber ich habe auch manchmal gespürt, dass die Ablehnung des Leistungsgedankens viel mit der eigenen Person des Lehrers zu tun hatte – will sagen mit der Bereitschaft, so- viel in die Arbeit mit einem Schüler oder einem Ensemble zu investieren. Man muss ja zugeben, dass es nahezu unmöglich ist, mit der Zeit, die im normalen Musikschulunterricht für einen Schüler zur Verfügung steht, eine herausragende Leistung beim Wettbewerb hervorzubringen. Das erfordert tatsächlich eine überaus idealistische Herangehensweise!

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass man den Wettbewerbsgedanken positiv besetzen sollte. Wir befinden uns doch permanent in einer Art von Wettbewerb. Wenn man in ein Konzert geht, vergleicht man mit anderen Konzerten; wenn man ein Streichquartett hört, vergleicht man die erste mit der zweiten Geige. Das steckt tief in uns drin! Ist es da nicht sinnvoller, an einem verträglichen Umgang mit Konkurrenzsituationen verschiedenster Art zu arbeiten als diesem Phänomen ängstlich auszuweichen?

Meilensteine

Haack: Wenn Ihr zurückblickt: Was waren für Euch Meilensteine in der Entwicklung von „Jugend musiziert“? Ich persönlich denke da zum Beispiel an den Bedeutungswechsel vom Solistentum zur Kammermusik.

Gutzeit: Das war eine wunderbare Folge des Wechsels vom Zwei- zum Drei-Jahres-Turnus. Wir hätten nicht damit gerechnet, dass die Teilnehmer unserer Einladung, sich dem Ensemblespiel zuzuwenden, in so überwältigender Zahl folgen würden.

Haack: Das war doch eine großartige Entwicklung, dass die jungen Leute eben nicht nur Klavier solo spielen wollten.

Gutzeit: Absolut! Wenn sich vorher vor allem die besten Pianisten und Streicher gerne auf ihren Solowettbewerb alle zwei Jahre konzentrierten, suchten sie sich nun Kammermusikpartner. Daraus entwickelt sich dann ein ganz anderer Typus, der an die Hochschulen kommt. Zum Beispiel Pianisten, die unbedingt Kammermusik spielen möchten!

Rademacher: Eine der wichtigsten Entwicklungen für mich war auch die Veränderung des Punktesystems, die ein Nebeneinander von exzellenten Leistungen zuließ. Wenn es nur einen ersten Preis gibt, entsteht ein extremer Konkurrenzkampf. Dass der verschwunden ist und dass man ab diesem Zeitpunkt nicht mehr von Siegern, sondern nur noch von Preisträgern sprach, war für mich ein ganz wichtiger Moment, auch in der pädagogischen Plausibilität des Wettbewerbs.

Gutzeit: Das war tatsächlich ein gewaltiger Fortschritt. Es gibt doch so viele interessante, unterschiedliche Typen von Musikern. Ulrich, du hast sie gestern in der Stiftersitzung so trefflich charakterisiert …

Rademacher: … da sprach ich von Sportlern, Poeten, Architekten, Pries­tern, Träumern oder Vollstreckern: alle auf ihre persönliche Art faszinierend.

Gutzeit: Von nun an hatten die Juroren die Möglichkeit, derart verschiedene junge Musikerpersönlichkeiten nebeneinander zu stellen und diese verschiedenen Möglichkeiten, herausragend gut zu sein, allesamt auszuzeichnen. Für den Wettbewerb ist dies ein ganz wichtiger Baustein, um das Ziel größtmöglicher Fairness zu erreichen. Denn solange es nur einen Ersten geben kann und damit jeder gute Spieler des oder der anderen Guten Feind ist, ist die Arbeit der Juries viel schwieriger und heikler.

Rademacher: Ein anderer Meilenstein: Ich erinnere mich noch an die Kategorie Gesang, die ja noch vor Pop und Musical eingeführt wurde. Das war auch eine unglaubliche Revolution. Viele dachten, das gehe gar nicht, weil man in dem Alter gar nicht solistisch singt. Gesangslehrer waren massenhaft dagegen – und am Anfang war das Niveau grottenschlecht. Die Ausbildung von Gesangspädagogen und Kinderstimmbildnern hat sich ­enorm verändert, die Attraktivität und die Zahl der Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten für die Lehrkräfte ist gestiegen und wird – mehr als in anderen Fachbereichen – auch intensivst genutzt. Ein Vergleich der Wettbewerbsprogramme der Pionierjahre mit den aktuellen Jahrgängen offenbart­ diesen großen Fortschritt.

Gutzeit: Oder die Alte Musik! Es konnte sich ja niemand vorstellen, dass Jugendliche sich mit Alter Musik lustvoll auseinandersetzen würden. Beim letzten Bundeswettbewerb hatten wir dann 250 Teilnehmer in mehr als 50 Ensembles und etliche davon haben wirklich hinreißend lebendig musiziert. Da begegnen uns nun bei Jumu 15-jährige Musiker, die historische Cembalostimmungen beherrschen, oder Sänger, die für ihren Beitrag Altfranzösisch gelernt haben, ein 17-jähriger Countertenor zum Beispiel …  

Rademacher: Eine weitere Bereicherung, die sowohl durch die Alte Musik, aber auch durch die Pop-Kategorien erfolgt ist, ist, dass dadurch das Thema Improvisation Einzug in den Wettbewerb gehalten hat. In der Pop Wertung müssen ja alle eine Improvisation oder ein selbst komponiertes Stück spielen. Diesen kreativen Gedanken gibt es sonst vor allem in der WESPE, etwa bei der Kategorie „Selbst komponiertes Werk“, „JuMu open“ oder „Orgel-Improvisation“.

Haack: Der vielleicht jüngste Meilenstein ist die Öffnung für neue Instrumente, derzeit sind das die Baglama und das Hackbrett. Ist gerade die Baglama nicht nur ein Symbol für ein riesiges Feld, das sich auftut? Ist diese Innovation bisher ein Erfolg, und wie sieht es aus mit der Öffnung in eine ganz andere Welt von syrischen, afghanischen, türkischen, indischen und anderen Instrumenten?

Rademacher: Anfangs hatte ich den Eindruck, dass die Baglama instrumentalisiert worden ist, dass sie ein Symbol war für die Relevanz der Kultur von Migranten in Deutschland. Da entstand das Gefühl, der Musikrat wolle jetzt politisch korrekt sein. Da kam es gar nicht auf die Vielfalt der Instrumente an, die alle noch darauf warten bei „Jugend musiziert“ überhaupt Gehör zu finden.

Erweiterungen des Kanons

Es gibt so viele Instrumente, die unter den Menschen verbreitet sind, die zu uns gekommen sind, und es wäre schön, wenn diese mit ihrer Herkunftskultur unserer Kultur in Deutschland bereichern. Dafür muss es auch Podien geben, dafür muss es Ausbildungen geben, dafür muss es auch Wettbewerb geben. Das kann man aber erst dann konstruieren, wenn es Menschen gibt, die Erfahrungen mit den Instrumenten haben, die die Qualität beurteilen können, die pädagogische Konzepte entwickelt haben für Instrumente, die in ihren Herkunftsländern ja teilweise überhaupt keine Ausbildungssystem haben. Ich glaube, die Plattform, die wir jetzt gefunden haben, mit der Kategorie „Besondere Instrumente“ bietet diesem neuen Aspekt natürliche Wachstumsmöglichkeiten, und in einigen Regionen, in einigen Ländern wird das auch schon praktiziert.

Geißler: Ein markanter Einschnitt gehört noch angesprochen: Ich kann mich erinnern, wie heiß diskutiert die Popmusik in den Kanon von „Jugend musiziert“ aufgenommen wurde. Ich habe den Eindruck, dass man dem Genre partiell nicht gerecht wird, ich denke speziell an die Rubriken Drumset-Solo oder E-Bass-Solo. Wie hat sich das entwickelt, gibt es Überlegungen etwas zu verändern oder anders zu integrieren?

Rademacher: Die Frage steht im Raum. Drumset oder E-Bass sind Instrumente, die sich eigentlich nur im Band-Zusammenhang ausleben können. Wir hatten ja vor, die Band-Szene zu qualifizieren, indem wir den Einzelspieler qualifizieren. Dieser Gedanke bleibt weiterhin richtig. Aber wir sind damit noch nicht am Ende unserer Weisheit angelangt.

Gutzeit: Ein wichtiger Grund, warum wir uns schwer getan haben war, dass den meisten von uns wesentliche Kompetenzen fehlten, um die durchaus nachvollziehbare Forderung nach Integration der Popmusik adäquat umzusetzen. Man muss Musikstile und ihre jeweiligen Qualitätsmerkmale kennen, aber auch Personen, die Ausschreibungstexte entwickeln, die in Jurys mitarbeiten oder die Preise stiften können. Das ist auch eine wichtige Erfahrung aus vielen Jumu-Jahren: Wenn es darum geht, neue Stilistiken in den Wettbewerb zu integrieren, müssen qualifizierte Vertreter aus diesen Bereichen bereit sein, engagiert mitzuarbeiten – auf allen drei Wettbewerbsebenen.

Rademacher: Das haben auch die Musikschulen verstanden und sich entsprechend gewandelt. Sie haben auf einmal Fachbereichsleitungen für den Gesangsbereich und für Popularmusik, sie investieren mehr in die Ensemblearbeit, auch in den Bereichen Alte Musik und Popularmusik. Das alles gab es vorher nicht.

Gutzeit: Man muss natürlich neuen Entwicklungen auch die Zeit geben, die sie brauchen. Über jede inhaltliche Erweiterung muss gründlich nachgedacht werden – auch bezüglich der Realisierbarkeit auf regionaler Ebene. Häufig haben wir Neues zunächst modellhaft in einem Bundesland erprobt, um schon mit einem kleinen Erfahrungsschatz an den Start zu gehen.

Wertkonservativ und innovativ

Geißler: Manchmal entsteht dabei der Eindruck, dass innovative Schritte mehr Zeit brauchen, als man es sich als Beobachter wünschen würde.

Gutzeit: Wenn man sich vor Augen führt, über wie viele tiefgreifende Veränderungen und Erweiterungen wir jetzt unter dem Stichwort „Meilensteine“ gesprochen haben, fällt es schwer zu verstehen, dass „Jugend musiziert“ manchmal auch musikratsintern als konservativ und allzu festgefügt betrachtet wird. Wertkonservativ sollten wir sein, in dem Sinn, dass wir mit „unserer“ abendländischen Musik einen unglaublichen Schatz besitzen, den es zu bewahren und lebendig zu erhalten gilt. Gerade im Sinne der Verlebendigung wurde sehr vieles bewegt, und dass „Jugend musiziert“ sich in einer pluralistischen Gesellschaft auch dem öffnet, was nicht zum klassischen Erbe gehört, ist völlig klar. Ich würde mich nicht wundern, wenn unter Ulrichs Regie hier noch mehr Türen aufgestoßen werden. Aber man darf es sich nicht leicht vorstellen, ganz andersartige Musikstile mit der „Jugend musiziert“-Kultur in Einklang zu bringen.

Rademacher: Vielleicht müssen wir grundsätzlich über andere Strukturen nachdenken. Vielleicht brauchen Wettbewerbe wie Pop und Musical auch andere Zusammenhänge, die „Jugend musiziert“ in seiner jetzigen Konstellation nicht bietet. Wir tun sicher gut daran, das behutsam voranzubringen und nicht etwas einfach wegzuwerfen, was wir in Richtung Qualitätsanspruch weiterentwickeln wollen. Wenn das Thema Weltmusik in sich so komplex wird, dann könnte es sein, dass es eine Wettbewerbskultur mit einem Eigenleben braucht. Vielleicht werden wir der Musik mit unseren Wettbewerbsregeln gar nicht gerecht. Diese Überlegung gilt auch für die Popmusik. Die Frage ist dann, ob es unter dem Dach des Deutschen Musikrates eine andere Konstruktion geben könnte, um der Musik, um die es geht, hierarchiefrei gerecht zu werden. Trotzdem sollten die Wettbewerbe natürlich aus demselben Qualitätsgeist heraus konstruiert werden.

Eigenleben der WESPE

Geißler: Ich möchte nochmal zurück nach Mitteleuropa und auf die WESPE zurückkommen. Mir scheint dieser Wettbewerbsteil ein bisschen weit weggerutscht zu sein vom großen Wettbewerb. Dabei stecken gerade in der WESPE so viel innovatives Potenzial und so viele visionäre Möglichkeiten für junge Leute, dass man das vielleicht noch stärker in den Gesamtkontext von „Jugend musiziert“ einbinden sollte, anstatt es zu dislozieren.

Rademacher: Ich glaube, dieses Eigenleben konnte die WESPE nur im zeitlichen Abstand zum Wettbewerb entwickeln. Wir wollten mit WESPE gerade die Eigeninitiative, die kreativen Gedanken fördern. Dazu haben wir die Sommerferien für die Entdeckung des eigenen Spaßes am Suchen und Finden zwischengeschaltet. Dafür brauchte es ein Extra-Zeitfenster im Herbst mit dem nötigen Abstand und dann auch eine Stadt, die es sich zu ihrem Ehrgeiz macht, genau diesen Gedanken zu unterstützen.

Gutzeit: Die WESPE sollte vielleicht in einem noch schnelleren Wandel vorangehen als der traditionelle Wettbewerb. Jetzt bieten wir schon ziemlich lange die gleichen Kategorien an, eine ist dazugekommen, „Jumu Open“. Wir müssen schauen, dass das keine Routine bekommt.

Rademacher: … wobei gerade JuMu open noch weit von jeglicher Routine entfernt ist: Hier wollen ja eben nicht „die Alten“ den Jungen zeigen, wo die Zukunft ist. Hier wollen wir gemeinsam herausfinden, was für exzellente junge Musiker ihre ganz persönliche Musik der Gegenwart und der Zukunft ist: Improvisiert, komponiert, neu interpretiert, womöglich mit neuen Konzepten der Präsentation, bis hin zur Einbeziehung anderer Kunstformen. Da warte ich noch auf größere Beteiligung.

Geißler: Wie werdet ihr in Zukunft zusammenarbeiten? Reinhart von Gutzeit bleibt ja präsent bei „Jugend musiziert“.

Gutzeit: Als Mitglied des Projektbeirats werde ich Ulrich Rademacher unterstützen, wenn und wo er es gebrauchen kann.

Rademacher: Darauf freue ich mich! Noch eine Sache sehe ich in meiner neuen Verantwortung: Dass ich das, was in der Kreativitätswerkstatt „Jugend musiziert“ entsteht, auch in die Strukturen der Musikschulen und der anderen Verbände transportiere. Ich sehe mich in der Pflicht, das auch bis an die Basis durchzureichen. Ich hab in den letzten 27 Jahren jedes Jahr einen Regionalwettbewerb veranstaltet. Ich bin in jedem Jahr den Weg von der Region, über das Land zum Bundeswettbewerb gegangen, habe mir in meinem Regionalausschuss die Sorgen der Praktiker an der Basis angehört und auch hier Schulmusiker, freie Musikpädagogen und Vertreter der Jeunesses Musicales eingebunden. Ich glaube, das hat mich besonders geprägt und kann mir helfen, das zu erden, was wir uns im Projektbeirat ausdenken.

Ein unerwartetes und schönes Erlebnis dieses Wettbewerbs war für mich die Beobachtung, wie eine komplette Jury aus erfahrenen wettbewerbs- und prüfungsgestählten Musikern sich von einem Beitrag so verzaubern ließ, dass alle den Eindruck vermittelten, gerade ein Wunder erlebt zu haben. Klar: Nicht alle Teilnehmer verströmen diese Faszination, aber es gäbe weit mehr Begeisterndes zu präsentieren, als in den wenigen Abschlussveranstaltungen möglich ist.

Wir werden uns Gedanken machen müssen, welche zusätzlichen „Schau- und Hörfenster“ der Wettbewerb noch schaffen muss, um die Öffentlichkeit an der ganzen Pracht und dem Feuer der musikalischen Jugend Deutschlands teilhaben zu lassen!

  • Das Gespräch führten Barbara Haack und Theo Geißler.

Lesen Sie auch unser Dossier zum Thema „Wettbewerb“ mit Beiträgen von Harald Eggebrecht, Eva Blaskewitz und Christopher Warmuth (Seiten 17 bis 19).

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