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Längst in der Street-Art von Buenos Aires angekommen: Astor Piazzolla (1921–1992). Foto: Juan Martin Koch
Längst in der Street-Art von Buenos Aires angekommen: Astor Piazzolla (1921–1992). Foto: Juan Martin Koch
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Der mit dem traurigen Gedanken tanzt

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Zum 25. Todestag des Jahrhundertbandoneonisten und Tango-Provokateurs Astor Piazzolla · Von Juan Martin Koch
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Es gibt zwei Entstehungsmythen des Tango Nuevo. Der erste geht so: Zu Beginn des Films „El día que me quieras“, einem in New York gedrehten Vehikel für den Jahrhundert-Sänger Carlos Gardel, steht plötzlich unvermittelt ein junger Zeitungsausträger mit im Bild, lacht kurz über eine Bemerkung Gardels, um dann in entgegengesetzter Richtung abzugehen. Man meint ein leichtes Hinken wahrzunehmen. Der Name des Zeitungsjungen: Astor Piazzolla.

Ein gestelltes Filmfoto hält dieses Zusammentreffen der beiden wichtigsten Persönlichkeiten der Tangohistorie fest. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten im Januar 1935 ist Piazzolla knapp 14 Jahre alt, und Gardels Plan, den Jungen als Bandoneonisten auf eine Tour mitzunehmen, wird vom Veto des Vaters durchkreuzt. So sitzt Astor nicht in dem Flugzeug, mit dem Gardel und seine Musiker am 24. Juni beim Absturz in Medellin umkommen. Nicht zum ers­ten und nicht zum letzten Mal spielt Vicente Piazzolla eine entscheidende Rolle in Astors Leben. Von der Geburt der Enkel an wird er mit dem italienischen Kosenamen für Großvater angesprochen: Nonino.

Der zweite Gründungsmythos spielt 1954 in Paris und geht so: Der ehrgeizige, der Arbeit mit den Tangoorches­tern von Buenos Aires schon eine Weile überdrüssig gewordene Piazzolla hat dank des Kompositionsunterrichts bei Alberto Ginastera ein Stipendium für einen Studienaufenthalt an der Seine errungen und sitzt in der Rue Ballu bei Nadia Boulanger im Unterricht. Die zeigt sich von dessen beachtlichen, etwas hölzernen Bemühungen – darunter die von Ginastera beeinflussten und halbherzig mit Bandoneon-Einsprengseln kolorierten „Tres Movimientos“ op. 15 und die zwischen Bartók und Strawinsky changierende Sinfonietta op. 19 – wenig beeindruckt und entlockt ihrem Schüler das Geständnis, in Buenos Aires als Tangomusiker und -komponist gearbeitet zu haben. Nachdem sie sich einen seiner Tangos am Klavier hat vorspielen lassen („Triunfal“ heißt der ausgerechnet), spricht sie die historischen Worte, die den zahlreichen Überlieferungen nach etwa so lauteten: „Das ist der wahre Piazzolla – verlasse ihn niemals.“ Aber wer ist das eigentlich – der wahre Piazzolla?

„Lo que vendrá“ –  der Neuerer

Zurück aus Paris, wo er noch mit Martial Solal, Lalo Schifrin und einem Streichorchester neue Stücke aufnimmt, gründet Piazzolla 1955 mit dem Octeto Buenos Aires das erste bahnbrechend neue Ensemble. Dessen Besetzungsclou – eine elektrische Gitarre – kommt schon in der einleitenden, mit über fünf Minuten für diese Zeit außergewöhnlich langen Nummer auf der Platte „Tango progresivo“ zur Geltung. „Lo que vendrá“ („Was kommen wird“) heißt sie programmatisch und hebt mit einer fast klassischen Violinkadenz an, die unmerklich ins tiefere Register des Cellos wandert. Einem der ersten typisch piazzolesk gehämmerten Themen – Sechzehntelschlenkersynkope inklusive – folgt bald ein lyrischer Teil mit Gitarre. Ihr klar artikulierter, unsentimental angejazzter Sound übernimmt im Schluss­teil mit einem Solo über dem Ensembletutti endgültig das Kommando.

Bald wird klar, dass sich das Oktett ökonomisch nicht über Wasser halten kann. Piazzolla spürt aber wohl außerdem, dass sein allmählich klare Konturen annehmender Stil in einer kleineren, an Kammermusik ebenso wie an einer Jazzcombo orientierten Besetzung eine noch stärkere Wirkung entfalten könnte. Das 1960, nach einem erfolglosen New Yorker Zwischenspiel gegründete Quinteto Nuevo Tango mit Bandoneon, Violine, Gitarre, Klavier und Kontrabass, wird zur klassischen Piazzolla-Band. Auf diese Formation kommt er immer wieder zurück, auch wenn er in den Siebziger Jahren zwischenzeitlich mit dem Nonett „Conjunto 9“ interessante und mit dem Octeto electrónico weniger überzeugende Konstellationen ausprobiert. Die erste stilistisch komplett geschlossene, nur aus eigenen Kompositionen bestehende Quintett-Aufnahme stammt von 1965. Der Titel „Concierto de Tango en el Philharmonic Hall de New York“ täuscht – es handelt sich um eine in Buenos Aires entstandene Studioaufnahme, die aber das Programm eines Auftritts in der Avery Fisher Hall festhält. (Eine erste, anfangs entsprechend gehemmt wirkende Live-Aufnahme des Quintetts entsteht erst 1970.) Das Stück „Todo Buenos Aires“ enthält alles, was den typischen Piazzolla-Sound und die explosive Klasse dieser Avantgarde-Tango-Combo ausmacht: Perkussions- und Verfremdungseffekte mittels alternativer Klangerzeugung, ein ostinates gezacktes Motiv über absteigender Bassfigur, eine Passage mit den drei typischen, die Achtel in ein 3-3-2 gliedernden Betonungen im Viervierteltakt, einen sehnsuchtsvollen langsamen Mittelteil. Der fällt dann im „Verano porteño“ – bei derselben Sitzung für ein anderes Album aufgenommen – noch hymnischer aus, was dieser ers­ten, erst später zu einem Zyklus ergänzten Jahreszeit zu großer Popularität verholfen hat. All jenen Musikern, die diesen Geniestreich im Konzert als wohlfeilen Zugaben-Rausschmeißer missbrauchen, sei ein intensives Studium dieser vor vibrierender Bewegungsenergie und authentischer Tango-Expression schier berstenden Erst­einspielung dringendst anempfohlen.

„Adios Nonino“ – der Betörer

Die Erfolgsformel „knackiges Moll-Thema trifft unwiderstehliche Dur-Kantilene“ hatte sich 1959 mit „Adios Nonino“ abzuzeichnen begonnen. Thematisch abgeleitet vom vier Jahre vorher erstmals aufgenommenen „Nonino“ hatte Piazzolla damit auf den Tod seines Vaters reagiert. Der Verlust der wichtigsten Bezugsperson bringt sein Gleichgewicht nachhaltig durcheinander – die erste Ehe zerbricht, das Verhältnis zu Tochter Dia­na und Sohn Daniel bleibt von da an schwierig. Dass Piazzolla fast manisch immer wieder auf die Adios-Nonino-Formel zurückkommt, hat also vielleicht auch eine psychologische Komponente.

Am hinreißendsten und in der organischen Herleitung der Kantilene durch das Vorausgehende auch am überzeugendsten hat Piazzolla diese von ihm nicht erfundene, aber zur Vollendung gebrachte Formel wahrscheinlich in „La Muerte del Angel“ zur Anwendung gebracht. Die beste Einspielung davon ist auf einer Live-Platte von 1982 zu hören, unentbehrlich außerdem wegen der konkurrenzlosen Reibeisen-Version der „Balada para un loco“ des großen Roberto Goyeneche. Die „Balada“ markiert nicht nur den größten Triumph der äußerst fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Tango-Poeten Horacio Ferrer – ihr verdankt sich unter anderem „María de Buenos Aires“, die „Tango Operita“ von 1968 –, mit ihr gelingt Piazzolla Ende der 1960er-Jahre auch ein ers­ter Durchbruch bei einem größeren argentinischen Publikum. Dieses hat den Tango Nuevo bis dahin eher argwöhnisch bis ablehnend oder bestenfalls als Konzertmusik zur Kenntnis genommen, bis hin zu tumultartigen Szenen bei Auftritten, in denen „echter Tango“ eingefordert wird.

„Libertango“ – der Getriebene

Dennoch bricht Piazzolla, nachdem die Stadt Buenos Aires sein Nonett nicht dauerhaft unterstützen will, 1974 ins Land seiner Vorväter auf: nach Italien. In der Hoffnung auf größeren kommerziellen Erfolg begibt er sich dort in die Hände des geschäftstüchtigen, aber leider nicht gleichermaßen geschmackssicheren Produzenten Aldo Pagani. Auf sein Konto dürften Verirrungen wie die vier übereinandergeschnittenen „Adios Nonino“-Bandoneons auf dem Album „Libertango“ gehen. Doch der Erfolg der Platte scheint Pagani Recht zu geben. Die Titelnummer macht Grace Jones 1981 als „I’ve seen that face before“ hittauglich. Und es ist offenbar Piazzolla selbst, der davon überzeugt ist, ein Schlagzeug würde seiner Musik neuen Drive verleihen können. Das Gegenteil ist bei den meis­ten europäischen Studioaufnahmen der Fall: Der starre, stereotype Groove engt Piazzollas rhythmischen Bewegungsradius ein, nimmt ihm den Atem. Unter diesen Vorzeichen entstehen Tiefpunkte seiner Diskografie, darunter – abseits des Tangos – ein unsägliches „El Condor pasa“-Arrangement für Georges Moustaki („Nous avons le temps“) oder die grauenvolle Anbiederung „Mundial 78“ zur Fußball-Weltmeisterschaft.

Politisches Fingerspitzengefühl lässt Piazzolla immer wieder vermissen: 1979 nimmt er, wie andere Kulturschaffende auch, eine Einladung des Militärdiktators Videla an, 1982 widmet er in patriotischer Stimmung dem Kommandeur im Falkland-Krieg Alfredo Astiz einen Tango. Den recycelt er dann, obwohl er inzwischen über dessen Rolle im „schmutzigen Krieg“ gegen die Widerstandsbewegung Bescheid weiß, ausgerechnet für seine Musik zu Fernando Solanas’ ironisch-kritischem Aufarbeitungsfilm „Tangos, L’exil de Gardel“ – als „Tanguedia III“ …

„Oblivion“ – der Filmkomponist

Filmmusik entwickelt sich in dieser unsteten, von Umzügen und Konzert­reisen geprägten Zeit zu einer Konstante von Piazzollas Schaffen und immer wieder, vor allem wenn Regisseure von ihm etwas anderes als Piazzolla-Musik einfordern, gelingen ihm überzeugende Arbeiten. Mit freien Formen spielt er zum Beispiel erfolgreich für „Une Pulsation“ (1969), einem experimentellen Dokumentarfilm des Künstlers und Regisseurs Carlos Paéz Vilaró, der kürzlich bei den Festspielen in Cannes wieder aufgeführt wurde. In „A Intrusa“ (1979) ergibt sich einmal mehr ein Berührungspunkt mit Jorge Luis Borges, von dem die Vorlage stammt und mit dem es 1965 für die Platte „El Tango“ zu einer nicht ganz einfachen Zusammenarbeit gekommen war. Gar zum Klassiker avanciert der melancholische, im Dur-Teil haarscharf am Kitsch vorbeischrammende Geniestreich „Oblivion“ aus der Musik zur Pirandello-Verfilmung „Enrico IV“ von 1984.

Zu den Lichtblicken dieser Phase seit Mitte der 1970er-Jahre zählen außerdem Teile der „Suite Troileana“, die er 1976 zum Tod seines Freundes und früheren Chefs, des legendären Bandoneonisten und Orchesterleiters Aníbal Troilo schreibt, und die Aufnahmen des wiedergegründeten Quintetts.

Vibraphonissimo – der Jazzer

In diesem spielt der Pianist Pablo Zieg­ler eine entscheidende Rolle, weil er endlich jene Jazznote organisch in die Bandstruktur einbringt, an der Piazzolla sich lange Zeit mit eher gemischtem Erfolg versucht hat. Dass er selbst keinen Jazz zu komponieren in der Lage ist, gibt er offen zu, was ihn aber nicht davon abhält 1959 in New York die kurios missglückte Pseudo-Latinjazzplatte „Take me dancing!“ einzuspielen.

Einen Fortschritt markiert die Zusammenarbeit mit Gerry Mulligan, die 1974 als „Summit“ auf Vinyl festgehalten wird, auch wenn die farblich reizvolle Klangmischung Baritonsaxophon-Bandoneon strukturell nicht durchweg Sinn macht. Nun also Pablo Ziegler, der zum Beispiel bei einem 1981 im Gran Rex Buenos Aires mitgeschnittenen Konzert eine fabelhafte Einleitung zu „Adios Nonino“ hinfegt. In ihr steckt von der angedeuteten Klassikvirtuosen-Pranke über Ginastera-Verbeugungen bis hin zum eleganten Gerswhin-Touch vieles von dem drin, was Piazzollas Potenzial ausmacht. 1986 folgt mit einem zweiten Montreux-Konzert – unmittelbar nach Miles Davis’ Auftritt – der endgültige Ritterschlag durch ein jazzaffines Publikum. Entscheidenden Anteil daran hat der Vibraphonist Gary Burton, der sich, auch dank Piazzollas Arrangements, intelligent in den Bandkontext integriert und brillant-einfühlsame Solos und Umspielungen einbringt.

„Tango Suite“ – der Klassiker

Die kommenden Jahre sind zum einen geprägt von einer Rückbesinnung auf die eigene Tangohistorie, darunter der in New York aufgenommene Zyklus „La Camorra“ mit Anleihen bei der frühen Oktett-Zeit und einem „Todo Buenos Aires“-Zitat. Zum anderen erfährt Piazzolla neben der seit Anfang der 1980er sich nunmehr allerorten einstellenden Begeisterung für seinen Tango Nuevo auch viel Anerkennung für seine Konzertsaalmusik. Immer wieder tritt er mit seinem Bandoneonkonzert von 1979 auf, bedeutende Klassikinterpreten werden auf ihn aufmerksam, darunter Mstislav Rostropovich, das Kronos Quartett (denen er Stücke widmet), Gidon Kremer oder Yo-Yo Ma. Das geht dann – bis in die Gegenwart – so weit, dass man Piazzolla bisweilen „gegen seine Liebhaber“ und deren gut gemeinte Vereinnahmungsversuche verteidigen muss.

Auch im „ernsten Fach“ ist Piazzolla dort am besten, wo er sich auf neue Formen, Besetzungen und Stimmungen einlässt, etwa in der entspannt-sakralen „Suite Punta del Este“ für Bandoneon und Streichorchester mit ihrem feinen Choral-Mittelsatz (1980), in „L’Histoire du tango“ für Flöte und Gitarre (1986) oder in der exquisiten „Tango Suite“ für zwei Gitarren von 1985. Die Einspielung der Brüder Assad, denen das Stück gewidmet ist, gehört zu den Sternstunden der „klassischen“ Piazzolla-Diskografie. Auf besonders markante Weise begegnen sich die klassische und die Tangosphäre, wenn Piazzolla seiner Fugato-Obsession nachgibt. Sie geht auf sein Idol Bach und wohl auch auf die peinigenden Kontrapunktstudien bei Nadia Boulanger zurück. In „Fuga y Misterio“ aus „María de Buenos Aires“, in der „Fugata“ von der Platte „Adios Nonino“ (1969) oder in „Fuga 9“ vom ersten Nonett-Album (1971) spürt man Piazzollas Freude am kontrapunktischen Drive, am lässig aufgebrochenen Akademismus.

„Tristezas de un doble A“ – der Magier am Bandoneon

All das und noch einiges mehr ist also vielleicht der „wahre“ Piazzolla. So wie er, durch den Vater angestachelt, das Handicap eines verkürzten Beines in seiner Jugend durch unbändigen sportlichen Ehrgeiz zu kompensieren versucht, so ringt er Zeit seines Lebens darum, von allen geliebt und anerkannt zu werden: von den konservativen Tangueros, von jugendlichen, mit Rock und Pop sozialisierten Fans, von Klassik- und Jazzkennern in den USA und Europa. Dabei schwankt er immer wieder zwischen Affront und Anbiederung, zwischen Provokation und Pop und bleibt doch stets unverkennbar er selbst. Immer dann nämlich, wenn er zu seinem Instrument greift, stehend, den Fuß auf einen Stuhl gestützt, die Augen geschlossen, die Finger über die absurd angeordneten Knöpfe des diatonischen Spielsystems fliegend. Selbst die inspirationsfreiesten Stücke und Arrangements werden in dem Moment als Piazzolla kenntlich, da sein Bandoneon erklingt. Und die anderen können zu Sternstunden werden wie die „Tris­tezas de un doble A“, diese herzergreifende, über barockisierendem Lamento-Bass sich verströmende Hommage an das von der Firma Alfred Arnold produzierte Instrument.

Die messerscharfe, perkussive Attacke, die – durchaus mit Jazzsolisten vergleichbare – vollkommene agogische Freiheit über einem unerbittlich einherschreitenden Grundpuls, die mit unnachahmlichem Rubato ausgesungenen lyrischen Momente: Piazzolla atmet mit dem Balg seines Bandoneons, verschmilzt mit ihm zu einem Tangokörper. Der hört am 5. August 1990 auf zu existieren. Piazzolla erleidet in Paris eine Hirnblutung, am 4. Juli 1992 stirbt er 71-jährig in der argentinischen Hauptstadt. Buenos Aires hora zero.

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