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In NRW fand „Jugend musiziert“ als Videowettbewerb statt, für den die Musikerinnen und Musiker ihre Wettbewerbsbeiträge per USB einreichten. Die Sortierung der 1.100 Sticks fand allerdings analog und von Hand statt. Foto: Michael Bender/LMR NRW
In NRW fand „Jugend musiziert“ als Videowettbewerb statt, für den die Musikerinnen und Musiker ihre Wettbewerbsbeiträge per USB einreichten. Die Sortierung der 1.100 Sticks fand allerdings analog und von Hand statt. Foto: Michael Bender/LMR NRW
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Die Form folgt den Ideen

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Der Wettbewerb „Jugend musiziert“ zeigt seine digitale Vielfalt
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Mit dem Erscheinen dieser Ausgabe der neuen musikzeitung liegen die folgenden Pionierleistungen erst wenige Tage zurück. Das zweite Jahr der Corona-Pandemie und die damit verbundenen Verbote und Vorschriften stellte die Verantwortlichen von „Jugend musiziert“ erneut auf eine harte Probe. Ausfallen lassen oder sichtbar bleiben?, lautete die Frage. Nach intensiven Diskussionen entschlossen sich die 170 Regional- und 19 Landesausschüsse und die Bundesebene 2021 dazu, „Jugend musiziert“ trotz allem durchzuführen. Auch wenn Zugeständnisse gemacht werden mussten, die den „Spirit“ von „Jugend musiziert“ empfindlich trafen. Aber, und das ist die positive Nachricht, die Entscheidung hat auch eine steile Lernkurve ergeben, für die Akteure hinter den Kulissen ebenso wie für die Musikerinnen und Musiker. Alle 16 innerdeutschen Wettbewerbe und die Wettbewerbe der Deutschen Auslandsschulen haben inzwischen stattgefunden. Aus Erleichterung, Lob und Sehnsucht besteht der Dreiklang, der die neuen und höchst unterschiedlichen Wettbewerbsformate begleitete.

In allen Bundesländern bestimmte Corona auch in der Wettbewerbssaison 2021 die Diskussion um die Durchführung der Regionalwettbewerbe. Musikschulen waren geschlossen, Lehrkräfte ins Homeoffice verbannt und eine Vorbereitung auf den Wettbewerb 2021 war kaum zu bewerkstelligen. Aus dieser Not heraus wurden, bis auf wenige Ausnahmen, die Regionalwettbewerbe in den jeweiligen Termin des Landeswettbewerbs verschoben. Immer noch in der Hoffnung, dann einen landesweiten Wettbewerb in Präsenz durchführen zu können. Die Hoffnung zerschlug sich mit fortschreitender Zeit.

In Baden-Württemberg beispielsweise, dem Bundesland mit der traditionell höchsten Teilnehmerzahl in den Landeswettbewerben, waren so durch die Verschmelzung der 23 Regionalwettbewerbe 1.754 Nachwuchsmusikerinnen und -musiker zur Teilnahme eingeladen. Dort war die Entscheidung früh gefallen, den landesweiten Wettbewerb als Videowettbewerb durchzuführen und man betrat hier, wie übrigens auch in anderen Bundesländern, Neuland bei der Prüfung tauglicher Server, Software und Upload-Tools, damit die Bewerberinnen und Bewerber ihr aufgezeichnetes Wertungsspiel termingerecht abliefern konnten. Die Datenmenge aller Videos erreichte in Baden-Württemberg die stattliche Menge von 1,7 Terabyte. Ähnliche Szenarien auch in Schleswig-Holstein und Berlin. In Kiel waren erste Überlegungen zu einem digitalen Format und der Verschmelzung der fünf Regionalwettbewerbe zu einem landesweiten Wettbewerb schon ab Dezember angestellt worden. Im Januar dann fielen die Würfel zugunsten des Video­formats.

In Berlin beobachtete man das Pandemie-Geschehen ebenso aufmerksam und die Entscheidung, Präsenz­wettbewerbe nicht mehr in Betracht zu ziehen, fiel früh. Zunächst bezog sie sich jedoch nur auf die Durchführung der drei Regionalwettbewerbe, dann aber beschlossen die Regional-Verantwortlichen die Zusammenlegung der drei Regionen mit dem Landeswettbewerb zum Wettbewerb Berlin, was für alle Beteiligten für ermutigend positive Synergien sorgte. Die 400 Teilnehmer*innen, die sich für die Teilnahme an „Jugend musiziert“ beworben hatten, wurden zum Erstellen und Hochladen eines Videos eingeladen. In Berlin entschied man sich für bereits bestehende, kostenfreie Plattformen.

Auch in Nordrhein-Westfalen wurde, nach intensiver Diskussion im Rahmen einer Regionalkonferenz, der Beschluss gefasst, die 24 Regionen in einen landesweiten Wettbewerb 2021 zu integrieren. Dort fand man eine andere technische Lösung für das Verwalten der Videos: Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren gebeten, die aufgezeichneten Videos jeweils auf einen USB-Stick zu kopieren und an den Landesausschuss „Jugend musiziert“ NRW zu schicken.

Bildschirm statt Bühne

Während in den Planungsbüros Köpfe und Rechner heiß liefen, befassten sich die Musikerinnen und Musiker mit der auch für sie weitgehend neuen Aufgabe, ihr Wertungsspiel aufzuzeichnen.

Anton-Johann Gross aus Lübeck, der den Wettbewerbsablauf aus vielen Jahren erfolgreicher Teilnahme gut kennt, mehrfach wurde er in der Vergangenheit mit ersten Bundespreisen ausgezeichnet, nahm in diesem Jahr in der Kategorie Saxophon teil. Er zieht eine gemischte Bilanz: „Die Teilnahme an „Jugend musiziert“ 2021 war eine große Herausforderung für mich. Die gemeinsame Probenzeit mit meiner Begleitung war sehr knapp bemessen, sie ist aber immens wichtig, um gemeinsam musikalische Möglichkeiten auszuschöpfen. Ich bedaure auch, dass die Konzerte vor der Wettbewerbsteilnahme und jetzt im Anschluss an den schleswig-holsteinischen Wettbewerb zur Vorbereitung auf den Bundeswettbewerb weggefallen sind, denn sie sind ein wichtiger Teil der Vorbereitung.“ Neu und auch spannend fand er dagegen, sich mit technischen Fragen auseinanderzusetzen, bei den Proben mit seiner Klavierbegleitung nutzte er eine Software, mit der man beinahe ohne Latenzzeit gemeinsam musizieren kann. Sein Wertungsspiel nahm er mit professioneller Aufnahmetechnik auf. Und auch wenn er das Beratungsgespräch in diesem Jahr vermisst und ihm der Kontakt mit anderen Musikerinnen und Musikern fehlt, so gewinnt er der Situation etwas Positives ab: „Dafür hatte ich deutlich mehr Zeit, mich mit meinem Instrument zu beschäftigen, denn die Reisezeiten zu den Probeterminen fielen ja weg.“

Auch aus den Äußerungen anderer erfolgreicher Absolventinnen der Wettbewerbe der Länder hört man die Anstrengungen heraus und gleichzeitig den Willen, das Beste aus der Situation zu machen. Johanna Kainz, 20 Jahre, aus Holzkirchen, mehrfache Bundespreisträgerin und erfolgreiche Teilnehmerin am diesjährigen landesweiten Wettbewerb Bayern in der Kategorie Hackbrett, bilanziert, dass ihre Vorbereitungszeit „ganz ok gewesen sei“, sie könne gut alleine musikalisch arbeiten, es habe aber mit ihrer Lehrkraft einen regen Austausch von Videoaufnahmen und regelmäßiges schriftliches Feedback gegeben. Für ihren Perfektionismus ist das Medium Video schwierig: „Ich finde kein Ende, wenn ich weiß, dass ich die Aufnahme beliebig oft wiederholen kann“. Und noch etwas stellt sie fest: Vor allem der gefühlvolle Ausdruck in den langsamen Sätzen kommt im Video einfach nicht rüber. So sieht es auch die 16-jährige Tara Althaus aus Münster, mehrfache Bundespreisträgerin und diesjährige erfolgreiche Teilnehmerin in der Kategorie Blockflöte solo: „Ich empfand die Aufnahme mit dem Handy seltsam traurig und unpersönlich, aber wenigstens gab es so die Möglichkeit, überhaupt an ‚Jugend musiziert‘ 2021 teilzunehmen.“

Vor besondere Herausforderungen sah sich Charlotte Knörzer aus Berlin gestellt. Die 19-Jährige ist Teilnehmerin in der Kategorie Klavier vierhändig. Zusammen mit ihrem Klavierpartner Tuong-Lam Nguyen bereitete sie, aus Gründen der Hygienevorschriften, das Wertungsprogramm an zwei Klavieren vor. „Wir haben, so lange das erlaubt war, an einem Klavier begonnen und begannen dann ab einem bestimmten Zeitpunkt auf zwei Klaviere umzulernen.“ Geübt haben die beiden, wo es nur möglich war: Zuhause mit einem Keyboard als zweitem Klavier, in der Musikschule, sogar in der Philharmonie, denn ihr Vater ist Mitglied der Berliner Philharmoniker. Dort fand dann auch die Aufnahme statt, für die sich das Duo auf zwei Versuche verständigt hatte. Positiv ist, so Charlottes Meinung, dass es den Wettbewerb „Jugend musiziert“ 2021 überhaupt gegeben hat. Insbesondere für ihren Klavierpartner war das wichtig, denn die Wettbewerbsteilnahme fließt als zusätzliche Komponente in die Abiturnote ein, für ihn war das also eine letztmalige Gelegenheit, bevor er dem „Jugend musiziert“-Zeitalter entwachsen ist.

Bewertung im digitalen Format ist möglich

Sind all die kleinen inneren Rangeleien der Teilnehmer mit sich selbst, mit der ungewohnten Technik, die Sehnsucht nach Applaus für die vor den Bildschirmen sitzenden Jurymitglieder spürbar? Beeinflussen sie die Bewertung? Lenken sie gar von der Mitteilung der künstlerischen Aussage ab?

Im Falle von Baden-Württemberg lud man die Mitglieder der Jury zu einer Bewertung der Videos in Präsenz ein: Rund 100 Personen, 25 Gremien, bezogen in den Musikakademien Ochsenhausen und Trossingen für fünf Tage Quartier. Hier wurden 14 Räume technisch aufgerüstet und dann parallel genutzt, in Ochsenhausen waren es neun. Ein mit den Akademien entwickeltes Hygienekonzept verpflichtete alle Jurymitglieder zur Vorlage eines negativen Schnelltests und zur Einhaltung der Hygiene-Regeln während ihres gesamten Aufenthaltes. Marie-Susan Weber, Projektleiterin des Landeswettbewerbs Baden-Württemberg, zieht eine ermutigende Bilanz: „Aus den Jurygremien erreichten uns durchweg positive Rückmeldungen. Die Jury konnte sich auf musikalisch-künstlerische Aspekte fokussieren, deren Beurteilung war auch im digitalen Format möglich.“

Michael Bender, Projektmanager beim Landesmusikrat NRW plante und organisierte den Wettbewerb „Jugend musiziert“ ebenfalls als Präsenzveranstaltung für die Jurymitglieder. Im Kongress-Teil der Philharmonie in Essen und in der Folkwang Musikschule waren über sieben Wettbewerbstage insgesamt acht ausreichend große Säle angemietet. Vor Ort fand ein Schnelltest aller Jurymitglieder statt, bevor die Jury ihre Arbeit aufnahm. Bender lobt die hohe Abhördisziplin der Jury: „Auch wenn die Aufnahmen, die ja in unterschiedlichen Räumen aufgenommen worden waren, durchaus kuriose Seitenblicke zuließen. Da gab es unaufgeräumte Kinderzimmer zu sehen, ebenso wie Wohnzimmer mit zwei Steinway-Flügeln, die Jury war zu Gast in Gemeindesälen, Klavierhäusern oder Kirchenschiffen.“ Aber er berichtet auch von berührenden Eindrücken voller Begeisterung. „Selbst bei unterschiedlicher Qualität der Tonaufnahmen sind solche Momente spürbar.“

Beim Wettbewerb in Schleswig-Holstein ging die Jury-Arbeit nicht in Präsenz über die Bühne, sondern via Zoom, vom jeweiligen heimischen Rechner aus, berichtet Frank Engelke, der Vorsitzende des Landesausschusses Schleswig-Holstein. Anders als in den vorgenannten Bundesländern hatte die Jury eine Woche Zeit, die Beiträge zu sichten und nahm bei der Bewertung eine Doppelrolle ein: Sie beurteilte die Leistungen zunächst auf der Basis des Punktesystems der Regionaljury, in einer zweiten Runde dann auf der Basis des Landes-Bewertungssystems. Nach Einschätzung von Frank Engelke hatte das den großen Vorteil, „als Regionaljury 1. Preise ohne Weiterleitung großzügig und wertschätzend vergeben zu können, gleichzeitig konnte die Jury so die Anzahl der Weiterleitungen gut im Blick halten.“

Das Gespräch mit Sophia Berendt, der Projektleiterin „Jugend musiziert“ Berlin findet mitten im Showdown des Berliner Wettbewerbs statt, ihre Euphorie über den gelungenen Ablauf könnte authentischer nicht sein. Zum Ende des Wettbewerbs in Berlin kann man auf 406 Teilnehmerinnen und Teilnehmer in 233 Wertungen zurückblicken, die 27 Jurygremien zu je vier Personen aus dem Homeoffice heraus bewerteten und sich zum Beratungsgespräch in Zoom trafen.

Das Lob gilt den Lehrkräften

Ihr Blick auf das traditionsreiche Projekt „Jugend musiziert“ ist noch frisch, denn die Position beim Landesmusikrat Berlin hat die 29-Jährige erst seit einem knappen Jahr inne. So nimmt sie die Diskussionen um den Schritt ins digitale Format in Teilen auch als Generationenkonflikt wahr: „Ich freue mich, dass die Skepsis, die ich anfangs bei den älteren Kolleg*innen wahrgenommen habe, inzwischen verschwunden ist. Jetzt sind wir nicht nur alle froh, dass „Jugend musiziert“ als Videowettbewerb stattgefunden hat. Wir alle haben jetzt auch den Beweis für die Aussage angetreten, dass der traditionsreiche Wettbewerb jung bleibt. Denn wir haben gezeigt, wie flexibel wir auf die Corona-Lage reagiert haben und wie anpassungsfähig wir sind.“

Zur Bilanz von Sophia Berendt gehört auch, dass sich das schriftliche Feedback, das die Musikerinnen und Musiker anstelle eines Beratungsgesprächs in Berlin und übrigens auch in vielen anderen Landeswettbewerben, erhalten hatten, zu den kostbarsten Momenten im Wettbewerb gehörte. Wo keine Begegnung möglich ist, ist eine Rückmeldung für die gezeigte Leistung wesentlich und motivierend.

War es die Mühe wert? Marie-Susan Weber bejaht das unbedingt, vor allem Lehrkräfte schätzten das Angebot eines Wettbewerbs in diesen Zeiten, denn für Jugendliche gebe es derzeit kaum Angebote. So habe man den Jugendlichen etwas bieten, gemeinsam auf etwas hinarbeiten können. Das Engagement der Pädagog*innen, dies alles in den Monaten ohne Unterricht und bei widrigsten Unterrichtsbedingungen mitgetragen zu haben, sei gar nicht hoch genug einzuschätzen.

Lerneffekt hin oder her, die Sehnsucht nach dem alten Wettbewerbsformat mit echten Begegnungen bleibt: „Ich wünsche mir sehr, in die Stadt des diesjährigen Bundeswettbewerbs fah­ren zu können, mich dort mit Gleichgesinnten zu treffen und vor Publikum konzertieren zu können“, sagt Tara Althaus, die Blockflötistin aus Münster. Ob ihr Wunsch in Erfüllung geht?

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