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Altes Plakat aus den 70er Jahren.
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Ein beglückender Ort

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Die JMD in Weikersheim
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Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden vom Amerika-Haus in Stuttgart die „Bad Mergentheimer internationalen Jugendmusikwochen“ als eine Reconciliation-Maßnahme der friedlichen Völkerverständigung initiiert. Als Kursleiter Richard Engelbrecht ein berufliches Engagement in der Türkei annahm, ergriff die fünf Jahre zuvor gegründete Musikalische Jugend Deutschlands die ihr gebotene Chance, das, was man zuvor in Bayreuth mit den internationalen Musikstudententreffen begonnen hatte, in einer ganz anderen Dimension zu realisieren: Ab 1956 fanden die Internationalen Sommerkurse – vom Land Baden-Württemberg und dem Bundesinnenministerium gefördert – unter Leitung der JMD statt, und der kunstsinnige Weikersheimer Schlossherr Prinz Constantin zu Hohenlohe öffnete sein nur teilweise bewohntes Schloss als deren Heimstatt, mit dem prächtigen Renaissance-Rittersaal und der Schlosskapelle für stimmungsvolle Konzerte.

Mit den Kernangeboten „Orches­ter und Kammermusik“ – was im Lehrplan der Musikhochschulen damals nicht vorkam – galt der Weikersheimer Sommer damals als „das dritte Semester“ und wurde Magnet für Musikstudierende aus Deutschland und aller Welt. Persönlichkeiten wie Fritz Büchtger, Hermann Scherchen, Günter Wand bürg­ten von Anfang an für Qualität. Ab 1959 führte Klaus Bernbacher als der damalige künstlerische Leiter Auszüge aus Opern im Schlosspark vor der Orangerie auf und erwirkte endlich die Erlaubnis des Prinzen für Proben und Aufführungen im akustisch phänomenalen Schlosshof. Die jungen Musi­ker*innen kamen zwischen Ostern und August, waren bei Weikersheimer Familien untergebracht oder nächtigten in improvisierten Schlafsälen im Marstall oder dem Gewehrhaus des Schlosses. „Heizung gab es keine, aber wir waren noch nicht so anspruchsvoll. Die Begegnungen waren die Sache wert“, erinnert sich JMD-Gründungsmitglied Eckart Rohlfs, damals als Generalsekretär darum bemüht, die Bedingungen im Schloss allmählich zu verbessern, sei es durch die Anschaffung neuer Betten oder die Verlegung von Warmwasserleitungen. „Da spielte sich nicht nur musikalisch-künstlerisch, sondern auch menschlich etwas ab. Innerhalb des Landes, aber auch mit den Fühlern nach draußen. Das war das Beglückende.“

Musik im Schloss

1963 wurde ein anderes Stammschloss Derer zu Hohenlohe in Langenburg bei einem Großbrand stark zerstört. Die Adelsfamilie konzentrierte ihre finanziellen Mittel auf den Wiederaufbau und veräußerte Schloss Weikersheim im Jahr 1967 an das Land Baden-Württemberg. Was aber würde diese Entscheidung für die Aktivitäten der Musikalischen Jugend bedeuten? In den zehn Jahren, die die Jeunesses das Schloss mit ihren musikalischen Aktivitäten „bespielt“ hatte, hatte sie nicht nur unter jungen Musizierenden im In- und Ausland begeisterte Resonanz gefunden, sondern auch bundesweite Reputation erworben und in der Stadt Sympathie gewonnen. So bildete sich eine durchsetzungsstarke Initiative, um „die Musik“ in Weikersheim zu halten und dem Schloss neben seinem einzigartigen Museum eine kulturelle Nutzung zu sichern: Mitstreiter des damaligen MJD-Bundesvorsitzenden Klaus Bernbacher waren unter anderen der Bürgermeister Kurt Hirsch, der Bundestagsabgeordnete Wilhelm Simpfendörfer, Lehrer in Weikersheim, und der für die „Freunde der MJD e.V.“ agierende Weikersheimer Geschäftsmann Manfred Schuler. Ziel war die Errichtung einer „Musikalischen Bildungsstätte“ unter Leitung der MJD. Gegner waren die baden-württembergischen Blasmusikverbände und der Landesmusikrat, die sich wehrten, dass ein völlig neuer unbekannter Jugendmusikverband im Ländle ansässig werden und mit Fördermitteln bedacht werden sollte. Eine 1978 erfolgte Vereinsgründung „Haus der musikalischen Jugend e.V.“ zeugt von dem Versuch, die Kontrahenten an einen Tisch zu holen – er wurde freilich nie aktiv, geriet in Vergessenheit und wurde 2014 von Amts wegen aufgelöst.

Denn die Weichen stellten sich anders: Simpfendörfer gelang es, für das Gästehaus eine Bundesförderung zu akquirieren, bei der sich Baden-Würt­temberg nicht verweigern konnte mitzuziehen. Die Stadt Weikersheim baute als damals recht „nobles“ Jugendgäs­tehaus das „Haus der Musik“ mit zunächst 120 Betten, das am 1. Juli 1981 eingeweiht wurde. Allerdings mit dem bitteren Wermutstropfen, dass es nicht von der MJD betrieben wurde, die ansonsten die Leitung der Bildungsstätte innehatte, sondern an das Deutsche Jugendherbergswerk verpachtet wurde.

Traumhafte Chance

Trotz aller dadurch entstehenden Widrigkeiten erfüllte sich die für die MJD einzigartige und traumhafte Chance, ein bleibendes Zuhause und eine profilierte Sichtbarkeit zu gewinnen. Freilich waren die Verhältnisse anfangs alles andere als idyllisch. Die Ausstattung im Doktorhaus des Schlosses, die als Büros genutzt wurden, waren rudimentär: Die Einrichtung bestand aus ausgedienten Möbelstücken, und die Mitarbeiter*innen mussten mit Ölkannen störungsanfällige und stinkende Raumheizungen befüllen. Nach und nach renovierte aber das Land die Räumlichkeiten im Schloss, zuletzt 2005 mit erheblichem Aufwand das „Gewehrhaus“ im Schlosspark, in dem die Präsenz der Jeunesses Musicales vor 50 Jahren ihren Anfang genommen hatte.

Seit Errichtung der Musikalischen Bildungsstätte hatte sich ein prosperierender Betrieb entwickelt, die Zahl der Kurse und Beleggäste wuchs kontinuierlich. 2004 überzeugte Generalsekretär Ulrich Wüster mit einem neuen Konzept die Stadt, der JMD nun endlich den Gesamtbetrieb der ab jetzt so genannten „Musikakademie Schloss Weikersheim“ zu übertragen. Kurz vor Weihnachten wurden die Schlüssel des „Logierhauses“, wie es von nun an hieß, vom Deutschen Jugendherbergswerk übergeben. Nur wenige Tage blieben, alles zu erkunden, bis bereits an Silvester das Bayerische Landesjugendorchester für eine Probenfreizeit anreiste. „Es war gespenstisch, durch das leere Haus zu gehen. Wir wussten nicht einmal, wo die Lichtschalter waren“, erinnert sich Wüster. Seitdem sind alle Köch*innen, Etagenmitarbeiter*innen und die Logierhausleiterin Tanja Denninger unmittelbar bei der JMD angestellt. Nach einer 2009 abgeschlossenen millionenschweren Generalsanierung und Modernisierung des „Logierhauses“ machte die JMD „ihren“ Standort mit zuletzt fast 35.000 Übernachtungen im Jahr zur belegstärksten deutschen Musikakademie.

Mit den idealen Probenbedingungen und der inspirierenden Atmosphäre von Schloss, Park und Gästehaus ist Weikersheim ein Anziehungspunkt für junge Musiker*innen aus ganz Deutschland und weit darüber hinaus und eine „Chiffre“ für den humanen Geist, in dem hier musiziert wird: auf Augenhöhe, als eine menschliche Begegnung und mit höchsten Ansprüchen an eine qualitätsvolle Auseinandersetzung mit Musik. Hier scheint etwas zu verschmelzen, das sich nicht leicht beschreiben lässt, aber eine starke Wirkung – bisweilen sogar Suchtpotenzial – hat: der „Weikersheim-Effekt“. Jeder, der einmal hier zu Gast war, kennt dieses Phänomen, das einen immer wieder an diesen beglückenden Ort zieht. Das malerische historische Stadtbild, eingebettet in die Weinlandschaft des Taubertals, das herrschaftliche Schloss mit seinem weitläufigen Park, bevölkert von Sandsteinfiguren bietet eine Kulisse, in welcher der Mensch das Maß bleibt und die Seele inspiriert wird. Zumal jeder Gast der JMD durch die räumliche Verteilung aller Gebäude stets zu einem Eintauchen und Durchqueren dieser Szenerie genötigt ist.

Seit den ersten musikalischen Sommergästen hat die Jeunesses Musicales Deutschland ihr Zuhause kontinuierlich aufgebaut: JMD und Weikersheim sind im deutschen Musikleben synonyme Begriffe mit einem starken Markencharakter. Um die Strahlkraft, die von der JMD umgekehrt für Weikersheim ausgeht, wissen auch die Bürger*innen und der langjährige amtierende Bürgermeister Klaus Kornberger. In der Stadtentwicklung sind die JMD und ihre Musikakademie eine feste Größe, Standortfaktor und verlässlicher Kulturpartner. Generalsekretär Ulrich Wüster hat seit 2010 in die sich hinziehende und teils erbittert geführte Diskussion um den Neubau einer Stadthalle die fachliche Expertise der JMD eingebracht und auf ein durchdachtes Architektur- und Nutzungskonzept hingewirkt. 2019 eröffnete die TauberPhilharmonie als ein sofort angenommenes Kultur-Haus für die Region und ein veritables Konzerthaus ersten Ranges, das – geführt von Intendant Johannes Mnich als einem begeisterungsfähigen Partner der JMD – auch allen Gäs­ten der Musikakademie fantastische Proben- und Auftrittsmöglichkeiten bietet und die JMD mit einer eigenen Konzert­reihe präsentiert. Sich dieses Kapitals sehr bewusst formuliert die JMD in ihrem aktuellen Leitbild: „Wir profilieren Weikersheim als unser Wirkungszentrum, wo Jeunesses Musicales erlebbar wird und von wo aus junge Musizierende ihre Inspiration in die Welt hinaus tragen“.

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