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Nach verschollener Musik graben

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Andrea Chudak im Gespräch über Giacomo Meyerbeers Werk
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Die Sopranistin Andrea Chudak hat ein Doppelalbum mit Werken von Gia­como Meyerbeer (1791–1864) veröffentlich, „Meyerbeer Vocal“ (Edition Antes). Auf der Compilation enthalten sind zahlreiche, bislang als verschollen geltende Vokalkompositionen des deutsch-jüdischen Komponisten. Max Doehlemann spricht mit der Künstlerin über Giacomo Meyerbeer, über Gesang in Zeiten von Corona und über Projektarbeit auf freiberuflicher Basis.

Max Doehlemann: Mit „Meyerbeer Vocal“ hast Du bereits Dein viertes Meyerbeer-Album herausgebracht, herzlichen Glückwunsch! Was verbindest Du mit Meyerbeer?
Andrea Chudak: Vielleicht schwingt ja etwas Lokalpatriotismus mit – Meyerbeer ist in Brandenburg geboren und als waschechte Brandenburgerin muss ich ihn ja gut finden (sie lacht). Nein, es ist die unglaubliche Qualität der Musik, die mich immer von Neuem tief berührt und begeistert. Meyerbeers Musik trägt alles in sich, was ich an Musik überhaupt wichtig finde. Ich denke auch, dass er viel Humor hatte – bei Meyerbeer gibt es, selbst wenn es um ernste oder religiöse Themen geht, immer so einen gewissen „Pfiff“.

„Verschollene“ Werke

Doehlemann: Auf dem neuen Album enthalten sind 22 Welt-Ersteinspielungen von bislang als verschollen geglaubten Werken, 11 Ersteinspielungen in der Originalbesetzung, auch Ersteinspielungen in der Originalsprache und weiteres. Auch auf Deinen zuvor herausgebrachten Meyerbeer-CDs hast Du bereits „verschollene“ Werke erstmalig als Tonträger veröffentlicht. Wie konntest Du als Sopranistin – also als musikalische Praktikerin – das erreichen, was mehrere Generationen von promovierten Musikwissenschaftlern nicht vermochten: Diese Vielzahl von verloren geglaubten Werken auszugraben?
Chudak: Die Frage müsste man eher den Musikwissenschaftlern stellen. Sie haben sich damit einfach nicht beschäftigt. Das ist schon deswegen seltsam, weil Meyerbeer in seiner Zeit in jeder Hinsicht innovativ war. So hat er etwa die Bassklarinette im Orchester eingeführt oder den Spitzentanz in der Oper. Auch der gegen Meyerbeer gerichtete Neid, der Hass und die Polemik, die ihn traf, wurde von der Forschung wenig gespiegelt und aufgearbeitet. Selbst ein hoch gebildeter Komponist wie Robert Schumann war nicht frei von antisemitischen Aversionen gegen Meyerbeer, was große Nachwirkungen hatte. Damals wurde die Grundlage gelegt für die Erzählung der Nationalromantik und, damit verbunden, die Musik der nationalen Schulen. Eine Erzählung, die sich bis heute kaum verändert hat.

Wagner statt Meyerbeer

Doehlemann: Um das zu illustrieren: Hugo Wolf schrieb 1884 süffisant „Sind wir in Palästina oder in einer deutschen Stadt?“ nachdem in einem Opernhaus Meyerbeer statt Wagner gegeben worden war. Schumann, Wolf, Richard Wagner – liegt es an den Musikschriftstellern der Romantik, dass Meyerbeers Werke quasi aus dem Kanon aussortiert wurden – ein Prozess, der dann soweit ging, dass viele Werke am Ende als „verschollen“ galten? Meyerbeer war schließlich zu Lebzeiten einer der meistgespielten und -gedruckten Komponisten, wie konnten die vielen Noten einfach verschwinden?
Chudak: Vieles ist in der NS-Zeit verloren gegangen – Meyerbeer-Noten sind buchstäblich verbrannt worden. Es gab Versuche der Rettung, einiges wurde versteckt und dadurch verstreut. Aber es fing schon lange vorher an, schon zu Lebzeiten wurde Meyerbeer von Teilen der Kulturwelt proaktiv schlecht gemacht, wobei ein antisemitischer Unterton unverkennbar ist. Man darf nicht vergessen, dass Meyerbeer einer der ganz wenigen deutsch-jüdischen Künstler des 19. Jahrhunderts war, die nicht zum Christentum konvertierten. Er blieb der Linie eines aufgeklärten, liberalen Judentums treu, anders als die Mendelssohns, Heinrich Heine oder Gus­tav Mahler, die sich alle irgendwann taufen ließen. Meyerbeer war aus Sicht der damals „modernen“, nationalistischen Kulturwelt nicht einzuordnen. Er schrieb Lieder und Opern in mehreren Sprachen, bewegte sich souverän und polyglott in ganz Europa. Er war ein Kosmopolit und sicher kein „rein deutscher“ Komponist. Ebensowenig war er nur französischer Komponist, obwohl er in Paris als „Maître de Grand Opéra“ viel Erfolg hatte. Meyerbeer wurde für die Nationalisten mit ihrer Idee der nationalen Schulen zum Feindbild. Und ich finde Meyerbeer gerade deswegen so modern. Er war durch und durch ein Europäer. Aber die Idee der nationalen Schulen prägt bis heute stark die Sichtweise. Und natürlich spielte Richard Wagner mit seinen Hassattacken gegen ihn eine große Rolle. Interessant dabei ist, dass Wagner Meyerbeer, solange dieser ihn noch mit Geld versorgte, geradezu unterwürfig bewunderte. Als kein Geld mehr kam, fingen die Hass-Exzesse an.

Geduldiges Graben

Doehlemann: Da tun sich große Fragezeichen und kulturgeschichtliche Ambivalenzen auf. Ich möchte das Gespräch dennoch auf weitere Themenfelder bringen. Was würdest Du als Opernsängerin sagen, war Meyerbeer vor allem ein herausragender Vokal-Komponist?
Chudak: Sicher war er ein herausragender Vokalkomponist, aber er war noch weit mehr. Er war ein echter Universalist, sowohl musikalisch als auch weltanschaulich. Er war selbst Pianist, hat auch fantastische Klaviermusik geschrieben – und vieles andere. Etliches davon ist leider immer noch „verschollen“. Allerdings habe ich einige neue Funde gemacht.
Doehlemann: Das ist spannend. Wie „findet“ man ein verschollenes Werk?
Chudak: Anhaltspunkte kann man zum Beispiel seinen Tagebüchern und Briefen entnehmen. Da werden Konzerte, Werke, Aufenthaltsorte oder Kooperationen erwähnt. Nach solchen Hinweisen kann man sich auf die Notensuche begeben. Für die Suche selbst braucht man die internationale Vernetzung. Fundorte sind etwa Archive oder Sammlungen, wo viele der Noten unerkannt schlummern, weil sie zum Beispiel falsch abgelegt worden sind oder nicht katalogisiert. Die Noten sind international verstreut. In Israel wurde Material gefunden, ebenso in Amerika oder Deutschland. Und es gibt noch viel mehr.
Doehlemann: Man braucht also Leute, die Einblicke in Archive, Sammlungen und dergleichen haben und bereit sind, Anhand von gegenseitigen Hinweisen geduldig zu „graben“. Wer war dabei in Eurem Recherche- und Entdeckungsteam?
Chudak: In Berlin Thomas Kliche; Prof. Robert Letellier von der Cambridge University; in Israel Professor David Faiman; Jonathan Faiman in den USA. Als Musikwissenschaftler waren dabei: Prof. Dr. Sieghart Döring und seine Frau Prof. Dr. Sabine Henze-Döhring. Der Weimarer Musikwissenschaftler Michael Pauser hat auch mitgeholfen und wir wurden von einer größeren Musiker-Gruppe mit Rat und Tat unterstützt. Darüber hinaus gab es viel fachlichen Beratungsbedarf, zum Beispiel bei Fragen der Instrumentenkunde, im weiteren Sinne zu Nachlässen und vieles andere. Aus einer Frage folgte die nächste. Es war eine großartige Teamarbeit, die wir hingelegt haben. Uns alle hat ein echter Enthusiasmus gegenüber Meyerbeer verbunden. Vieles muss abgeglichen werden. Liegt ein Fehler in der einen oder anderen Ausgabe, oder sind es zwei verschiedene Fassungen? Wie sieht es mit den notierten Faulenzern aus? Man braucht Expertise um zu verstehen, wie manches musikalisch gemeint ist. Meyerbeer hat die Vorzeichen oft auf die falschen Linien gesetzt. Ähnlich ist es auch bei seinen Notenschlüsseln, was zu Verwechslungen führen kann. Sehr bewährt hat sich das Zusammenspiel von uns musikalischen Praktikern mit wissenschaftlicher Beratung.
Doehlemann: All das fand unter erschwerten Umständen statt. Wie hast Du die Pandemie als Sopranistin, die bis dahin jährlich über 100 Auftritte absolviert hat, anfangs erlebt?

Erschwerte Bedingungen

Chudak: Als harten „Stop“ in jeder Beziehung. Ich wurde wegen der Schulschließungen zur Lehrerin meiner beiden Kinder. Ich musste mich ganz neu definieren. Im Blick zurück ohne Zorn muss ich sagen, dass ich ganz unten angekommen bin, auch mental. Ich bin depressiv in ein Loch gefallen. Glücklicherweise dauerte das nicht allzu lange.
Doehlemann: Waren Hilfsangebote des Staates greifbar?
Chudak: Erstmal waren keinerlei Hilfen greifbar. Nur überall diese Verordnungen, was man wo durfte, hier war singen verboten, dort war es erlaubt. In Kirchen war Singen im Gottesdienst für Solisten möglich, aber im Abstand von 6 Metern. Ich konnte nur unbezahlte Vorarbeit leisten für Projekte, die vielleicht später stattfinden durften - wobei man ja nicht wusste, wie lange die Situation so gehen würde. Ich hatte keine Möglichkeit mehr Geld zu verdienen, einfach um Essen einzukaufen. Zum Glück bin ich verheiratet und mein Mann hatte einen Job, sonst wäre uns völlig der Boden entzogen worden. Es waren elementare Existenzsorgen.

Kreativität nicht ausgebremst

Meine Kreativität ist aber nicht ausgebremst worden. Ich habe überlegt: „Wie klein gehen Konzerte“? Ich habe versucht, diese Idee von „Eins zu eins“-Konzerten zu übernehmen, draußen im Garten, im Sommer ist ja sowas möglich gewesen. Da habe ich gegen Spenden musiziert, denn Veranstalter waren ja auch nicht mehr aktiv. Dass ich dann in so eine umfangreiche Forschungs-Richtung gegangen bin, hätte ich vorher nicht gedacht.
Doehlemann: Das klingt so, als ob Du aus der Not eine Tugend gemacht hast. Diese Forschungs-Projekte sind aber auch nicht finanziert worden?
Chudak: Erst nicht. Für das später daraus entstandene Meyerbeer-Projekt gab es eine kleine Förderung von der der deutschen Orchesterstiftung und vom Ministerium des Landes Brandenburg für Kultur und Wissenschaft, wofür ich mich herzlich bedanke. Der Löwenanteil beruht aber auf privaten Spenden und bedingungsloser Selbst-Ausbeutung aller Beteiligten.

Auch die Umsetzung unter Corona-Bedingungen war nicht einfach: Ich musste Hygienekonzerte für Proben an unterschiedlichen Orten ausarbeiten, fast unlösbar war dann die Raumsuche für Proben mit mehreren Sängern, wir waren ja immerhin 16 musikalisch Mitwirkende. Wir als Freiberufler waren in vieler Hinsicht alleingelassen – in dieser Zeit wurde spürbar, was es heißt, ein Überzeugungstäter zu sein.

Stolpersteine

Doehlemann: Warum wird so eine Arbeit eigentlich von einer kaum finanzierten Privat-Initiative gemacht? Neigen größere Institutionen oder Kulturunternehmer eher zu vorformatierten und vorhersehbaren Projekten?
Chudak: Ich weiß nicht viel darüber. Aufgefallen ist mir, dass viele Gelder überhaupt nur von Institutionen beantragbar sind. Ein Projekt der Größe, das ich jetzt verwirklicht habe, wird von offizieller Seite eigentlich nur einer Institution zugetraut. Die machen es aber nicht. Das war für mich ein echter Stolperstein. Dabei würde ich mir wünschen, dass viele andere es uns gleichtun und Meyerbeer wiederentdecken.
Doehlemann: Das wäre wünschenswert! Aber wie sollen denn andere Musiker nun an diese „verschollenen“ Noten kommen?
Chudak: Es wird neue Ausgaben geben. Ich möchte im Moment nicht zu viel ankündigen, außer dass es spannend bleibt und unsere Arbeit an und mit Meyerbeer nicht aufhört.
Doehlemann: Welche Rolle spielen dabei die Veranstalter?
Chudak: Besonders als Freiberufler ist man immer stark abhängig von Veranstaltern. Bei manchen Veranstaltern ist es schwer, Meyerbeer anzubringen, weil sie mit dem Namen nichts verbinden. Bei Neuer Musik begegnet einem das Problem ja auch häufig. Tolle Programme finden dann nicht statt, weil man der Meinung ist, dass es kein Publikum dafür gibt. Aber das Publikum ist oft wesentlich aufgeschlossener, als man so glaubt. Gelder zu beschaffen für solche Projekte ist schwer. Man muss Klinkenputzen und sich immer wieder selbst erklären. Und dann ist die Verwaltung auch meist sehr aufwendig. Es wäre wünschenswert, wenn es einfacher wäre.
Doehlemann: Wie geht es jetzt bei Dir weiter?
Chudak: Mein Kopf ist voll mit neuen Ideen und Projekten. Ich habe schon wieder verschollene Musik entdeckt, diesmal übrigens auch von einem anderen Komponisten. Wenn Musik nicht erklingt, ist sie doch gar keine Musik! Das ist eine Verpflichtung.
Doehlemann: Ein schönes Schlusswort. 

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