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Netz-Community, bereit zum Jammen. Foto: Juan Martin Koch.
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Noch ruckelt die digitale Konzertbühne

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Gemeinsames Proben und Musizieren im Netz – Hürden und Lösungsansätze
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Normalerweise müsste ein riesiges Bücherregal den Hintergrund des Raumes schmücken, in dem die Orchestermusikerin Alexandra Gruber sitzt. Denn etliche Videos von amerikanischen Talk-Show-Hosts, Konzerten und Lesungen haben es als intellektuelles Wandtattoo stilisiert. Wer jedoch dem Blick der Klarinettistin folgt, erblickt keine literarische Steilwand, sondern wird plötzlich selbst angeschaut. Über ein iPad ist ihr Kollege bei den Münchner Philharmonikern, Albert Osterhammer, zugeschaltet. Beide halten eine Klarinette in den Händen. Es geht los.

Die beiden tauschen nun ein paar einführende Worte aus und spielen anschließend gemeinsam eines der Kegelduette von Mozart. Ein digitales Wohnzimmerkonzert im Konzerthaus namens „Instagram“, in dem auch das Publikum Platz finden wird. Aufgrund der fehlenden Videoschnitte und der fehlenden Perspektivwechsel wähnt sich der Betrachter fälschlicherweise in einem Livestream.

Die sozialen Netzwerke waren schon vor COVID19 voller Konzerte, Livestreams und Musik – doch seit dem Shutdown von Konzertbühnen betrifft diese Form nun auch die Digitalverweigerer. Wie soll nun ein klassisches Konzert mit seinem Streben nach Perfektion als Livestream funktionieren, bei dem bereits kleinste Verzögerungen (Latenz) das Musizieren unmöglich machen können? Die Antwort teilt die Musikerszene in drei Gruppen: Die einen lassen es aufgrund dieser Problematik einfach ganz bleiben. Die zweite Gruppe besteht aus Solisten, die dieses Problem beim Zusammenspiel per se nicht haben. Die dritte Gruppe sucht nach einer Lösung.  Zur ersten Gruppe gibt es nicht viel zu sagen, weshalb die zweite Gruppe auch im Mittelpunkt der Berichterstattung steht. Ihr pixeliger Held ist der Pianist Igor Levit, der nun täglich mehr Menschen über Twitter erreicht, als die Konzertsäle stemmen könnten, die seine Konzerte stornieren mussten. Im „Alles Gesagt“ Podcast der „Zeit“ erzählt er, wie es dazu kam und dass die schlechte Tonqualität ihm persönlich egal sei. Die beiden Moderatoren Jochen Wegner und Christoph Amend sehen in dieser Spontaneität und Unperfektion gerade den Reiz dieser neuen Konzertform. Damit sind sie nicht alleine: Levits 90.000 Zuschauer auf Twitter würden ihnen wohl zustimmen.

2018 gab es in der neuen musikzeitung bereits einen Beitrag darüber, wie das Münchner vierimpuls Streichquartett mit der Software „Jamulus“ gemeinsam live proben konnte, obwohl der Bratscher 1.000 Kilometer entfernt in England saß und zugeschaltet werden musste. Das Thema fand zu dieser Zeit viel Anklang, aber zum Durchbruch fehlten noch zwei Jahre und eine Epidemie, die alle Konzertbühnen stilllegen würde: Damals dümpelte die Software des Musikers und Programmierers Volker Fischer bei wenigen Downloadzahlen pro Tag. Im April 2020 wurde sie täglich über 2.000 Mal heruntergeladen – Tendenz steigend.

Die Software ist komplex, aber im Prinzip ist die einzig wichtige Kennziffer für Musiker die Verzögerung. Gespräche sind auch mit einer etwas längeren Latenz möglich, aber eine schnelle Staccato-Passage ist die Grenze dieser Technologie. Jamulus schafft es bei Audioübertragungen, dieser Grenze sehr nahe zu kommen. Aber ein Livekonzert ist mehr als Ton. Dafür wäre auch eine verzögerungsfreie Videoübertragung nötig.

Es mussten sich erst 40.000 Freiwillige ein Wochenende im März 2020 zusammenfinden, um die technischen Grenzen infrage zu stellen. Der #WirVsVirus Hackathon der Bundesregierung brachte in kürzester Zeit Freiwillige zusammen, um an digitalen Lösungen der Corona-Krise zu arbeiten. Unter den Kulturprojekten waren dabei viele Angebote, um das bestehende Livestream- und Video on demand Angebot zu sammeln und zu kuratieren. Aber auch ein Team, das danach strebte, die Livestreams endlich in der gewünschten Qualität für jeden Künstler zugänglich zu machen. Mit Video, Ton und der Möglichkeit, Zuhörer*innen einzubinden.

„In der Tat, die Lösung von ‚Jamulus‘ gehört auch zu unseren Favoriten“, entgegnet Julian Klein (Vorsitzender Direktor des Instituts für künstlerische Forschung Berlin und Ansprechpartner des Projekts) auf einen Verweis zu bereits bestehender Software zum Livestream. „Wir denken allerdings über eine modulare Anwendung nach, die je nach Anforderung (Theater, Tanztheater, akus­tische Musik, elektronische Musik etc.) verschieden zusammengestellt werden könnte“.

Das Projekt „digital-stage.org“ möchte also eine Lösung für die vielen unterschiedlichen Ansprüche der Kulturbranche anbieten. Daher haben sich auch viele Kooperationspartner und Mitstreiter zusammengefunden, um das Projekt voranzubringen. Die wird das Projekt auch benötigen, denn die Konkurrenz in der Videokonferenzbranche trumpft mit finanzkräftigen Unternehmen auf, darunter Apple (Facetime), Microsoft (Teams), Google (Meet) und Facebook (Messenger). Wäre die Umsetzung leicht, wären entsprechende Lösungen bereits vorhanden.

Welchen Trick beherrscht die „Digital Stage“, den die amerikanischen Größen nicht haben? „Auch wir können nicht zaubern“, gibt Klein zu. Aber die bisherigen Lösungen wurden eben mit einem anderen Nutzungsszenario konzipiert. „Für die meisten Theater- und Musikensembles wäre es derzeit ja aber schon ein immenser Fortschritt, wenn man sich überhaupt hören könnte, wenn man mehr als zu dritt ist, und dafür keine großen IT-Kenntnisse braucht.“

Stimmt das, Marcus Rudolf Axt? Telefonisch bestätigt der Intendant der Bamberger Symphoniker, dass dem Livestream des gesamten, getrennt voneinander musizierenden Orches­ters vor allem eines entgegensteht: die Latenz. Selbst bei bereits erfolgreich veröffentlichten, nicht live entstandenen Aufnahmen für Social Media gab es einige Hürden zu nehmen. Jeder Musiker nahm sich zuhause selbst mit seinem Handy auf und nutzte ein Metronom. Doch dabei entstanden kleine Schwankungen, die das Zusammenführen der einzelnen Clips erschwerte und eine nachträgliche Korrektur erforderten.

Ein ganzes Orchester zu streamen ist natürlich auch die Königsdisziplin. Wie sieht es mit einem Quartett aus? In kleinen Konstellationen lassen die Münchner Philharmoniker ihr digitales Publikum weiterhin teilhaben: Manuel von der Nahmer ist Teil eines Cello-Quartetts, das in einem Instagram-Video „An Irish Blessing“ vorgetragen hat. Auch er sieht die Verzögerung in der Übertragung als Hauptproblem, weshalb die Musiker die Aufnahme nacheinander aufgenommen und anschließend zusammengeschnitten haben. Das alleine erfordert bereits ein gewisses technisches Grundverständnis bei den Musikern.

Vielleicht fehlt auch nur die Erfahrung mit dem Digitalen? Digitalisierung ist für Orchestermusiker vielleicht noch „Neuland“ und daher die falsche Zielgruppe für Livestreams. Die Recherche erweiterte sich daher nach Heidelberg in die freie Szene zur jungen Querflötistin und Opus-Klassik-Preisträgerin Kathrin Christians. Sie spielte ein Konzert mit dem Pianisten Frank Dupree im Rahmen seiner #StayHomeMusicSessions auf Facebook. Jedoch auch nicht live wie bei einem regulären Konzert, sondern vorher auf Video aufgenommen. Woran liegt das, Kathrin Christians? „Wegen der mangelnden Technik“, bestätigt die Querflötistin in einer Nachricht auf Instagram.

Zurück in das Wohnzimmer der Klarinettistin Alexandra Gruber. Wird in ihrem Video nicht suggeriert, dass die beiden miteinander über die Videotelefonie App „Facetime“ live verbunden waren? „Das stimmt und es hat relativ gut funktioniert“, bestätigt sie am Telefon und legt mit der Aussage „es war der erste und einzige Versuch“ nach. Die Tochter habe mit ihrem Handy sie und das iPad abgefilmt. In dem Video sieht man also doch zwei Musiker live musizieren. Eine Kronzeugin gibt es auch. Wie die beiden podcastenden Chefredakteure, sieht auch Alexandra Gruber in der Imperfektion etwas sympathisches – und man muss ihr zustimmen.

Das Video ist deshalb so gut, da es eben nicht die teilweise sterile Konzerthausatmosphäre verströmt, in der man gelegentlich nicht wagt, laut zu atmen. Doch bis mehrere Musiker gemeinsam live Konzerte über digitale Kanäle verbreiten können, wird es noch etwas dauern. Wie lange genau? Das entscheidet unter anderem das Team der „Digital Stage“, das eine Hoffnung gebende Nachricht sendet: „Wir haben eine Lösung gefunden, hoffentlich noch rechtzeitig zum Start des Sommersemesters am 20. April eine Low-latency-Lösung ohne Video anbieten zu können.“

Und diese Hoffnung haben sie pünktlich erfüllt. Neben einem Prototypen, der zur Nutzung nur einen Internetbrowser erfordert, gibt es seit kurzem auch eine Testsoftware, die noch bessere Leistung verspricht. Zur Anwendung ist jedoch ein Computer mit Kabel-Internetanschluss (Ether­net) und ein Audio-Interface mit Mikrofon und Kopfhörer nötig. Wenn Musikerinnen und Musiker diese Voraussetzungen erfüllen, können sie sich als Testpersonen melden und so weltweit das gemeinsame Musizieren voranbringen – bequem aus dem heimischen Wohnzimmer.

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