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Professor Göstl zeigte beim Fachkongress ChorVision 2009 der Deutschen Chorjugend in Marktoberdorf, wie man „kindgerecht“ singt. Foto: A. Michel
Professor Göstl zeigte beim Fachkongress ChorVision 2009 der Deutschen Chorjugend in Marktoberdorf, wie man „kindgerecht“ singt. Foto: A. Michel
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Das Singen etablieren: Anna Wiebe, Bildungsreferentin der Deutschen Chorjugend, im Gespräch

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Die Deutsche Chorjugend, Jugendorganisation des Deutschen Chorverbandes, engagiert sich bundesweit für das Singen von und mit Kindern und Jugendlichen. Ungefähr 3.500 Kinder- und Jugendchöre mit rund 100.000 jungen Sängerinnen und Sängern versammeln sich unter dem Dach des Verbandes. Unter anderem macht es sich die Deutsche Chorjugend zur Aufgabe, in der Öffentlichkeit kontinuierlich die Bedeutung des Singens für junge Menschen zu propagieren. Am 2. Oktober plant der Verband einen bundesweiten „Tag der jungen Stimmen“ und eine große Veranstaltung in Berlin: Kinder- und Jugendchöre ganz unterschiedlicher Ausrichtung sollen hier das breite Spektrum der Chorarbeit in Deutschland präsentieren.

Die Teilnahme von Persönlichkeiten aus Politik und Kultur, Interviews und Filmvorführungen dienen der Vertiefung des Mottos „Singen bewegt“. Dabei geht es zum einen um die emotionale Bedeutung der Musik, aber auch darum aufzuzeigen, welchen Wert die Singkultur für kulturelle, gesellschaftliche und persönlichkeitsbildende Prozesse hat. Im nmz-Interview mit Barbara Haack gibt Anna Wiebe, Bildungsreferentin der Deutschen Chorjugend, Auskunft über die Inhalte der Verbandsarbeit und die Ziele der Veranstaltung im Oktober.

neue musikzeitung: Sie sind seit 2008 Bildungsreferentin der „Deutschen Chorjugend“. Welche Aufgaben und Ziele hat Ihr Verband?

Anna Wiebe: Die Deutsche Chorjugend ist die Jugendorganisation des Deutschen Chorverbandes und damit die größte Interessenvertretung der singenden Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Die Chöre werden zunächst Mitglied in den Kreis- oder Landesverbänden des Deutschen Chorverbandes. Die Jugend- und Kinderchöre sind dann automatisch Mitglied der Deutschen Chorjugend. In den Landesverbänden entscheiden Jugendliche in den Vorständen oft in Eigenregie über die Arbeit vor Ort. Für uns ist das auch ein Weg der Förderung: die Beteiligung am Verbandsgeschehen für Jugendliche zu ermöglichen. Damit sind wir auch schon bei den Zielen. Es geht uns natürlich darum, das Singen zu fördern, das Singen mit und von Kindern und Jugendlichen. Konkret bedeutet das für uns, dass wir möglichst vielen Kindern und Jugendlichen die Teilhabe an kultureller Bildung ermöglichen und zwar möglichst barrierefrei. Beim Singen muss man sich kein Instrument anschaffen, und auch nicht übermäßig viel Zeit investieren. Es geht uns auch darum, gute Rahmenbedingungen für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen zu schaffen. Es ist ja nachgewiesen, dass Gesang nicht nur das kulturelle Verständnis, sondern auch die Persönlichkeitsentwicklung fördert – durch die Gemeinschaft, durch den Austausch mitein-ander, auch durch das Singen nach Noten. Und es geht uns zum Dritten darum, dass möglichst viele Kinder und Jugendliche unabhängig von ihrer sozialen, ethnischen oder kulturellen Situation die Möglichkeit erhalten zu singen. Es geht uns um gleiche Rahmenbedingungen für alle. Die Anerkennung im politischen und gesellschaftlichen Bereich ist natürlich sehr wichtig. Unser Ziel ist es, das Singen zu etablieren, aufzuzeigen, welche Bedeutung es für Kinder und Jugendliche haben kann. Auf einer zweiten Ebene geht es uns dann um die Qualität. Rahmenbedingungen für das Singen mit Kindern und Jugendlichen zu schaffen, bedeutet auch, die Leiter von Kinder- und Jugendchören zu qualifizieren: in ihrer organisatorischen Arbeit, in ihrer Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen. 

„Kindgerechtes Singen“ ist bei uns ein wichtiges Stichwort: Wie weit darf ich in welchem Alter mit Kindern und Jugendlichen gehen? Es geht außerdem darum, dass Kinder und Jugendliche demokratische Entscheidungsprozesse miterleben und sich in der Vereinsarbeit selbst probieren können. Dass sie eigene Kompetenzen entwickeln, zum Beispiel im Bereich Öffentlichkeitsarbeit oder beim kulturpolitischen Engagement.

nmz: Welche konkreten Vorhaben stehen bei der Deutschen Chorjugend an? Mit welchen Projekten versuchen Sie, Ihre Ziele zu erreichen?

Wiebe: Wir haben für uns zwei Arbeitsfelder definiert, die wir kontinuierlich bearbeiten. Das eine Arbeitsfeld ist das Thema Bildung, das andere heißt „Netzwerke“. Zum Thema Bildung veranstalten wir jährlich Fachtagungen und Fachkongresse. In diesem Jahr gibt es eine Fachtagung zum Thema „Kooperation Verein–Schule“. Hierbei geht es um ein neues Programm, mit dem wir das Engagement von Chören an und in Schulen fördern wollen. Dann haben wir unter dem Motto „fit for top“ ein Jugendforum etabliert. Dort geht es darum, Jugendliche so weit zu fördern, dass sie sich auf Bundesebene am Vereinsleben beteiligen. Dann haben wir den Deutschen Jugendkammerchor ins Leben gerufen. Dort wird chormusikalische Höchstleistung für Laienchöre definiert. Jugendliche aus ganz Deutschland kommen zu drei bis vier Arbeitsphasen pro Jahr zusammen und setzen Chormusik auf höchstem musikalischen Niveau um. Wir veröffentlichen außerdem Arbeitshilfen: Wir schauen, wo in der Chorjugendszene, in den Verbänden Unterstützung gebraucht wird, zum Beispiel zu den Themen „Management im Chor“ oder „Kinderbeteiligung“. Die aktuellste Arbeitshilfe wurde zum Thema „Kooperation Verein–Schule“ entwickelt.

Im Bereich „Netzwerke“ versuchen wir, zum einen nach innen zu wirken, das heißt, die Landesverbände miteinander zu vernetzen. Wir veranstalten  regional Ideen-Workshops. Wir leiten Fördermittel des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für internationale Jugendbegegnungen direkt an die Chöre weiter. Auch auf diese Weise entstehen Netzwerke. Wir pflegen die Kommunikation mit Politik, Förderern und Fachkreisen. Eine weitere Initiative, die zurzeit noch in den Anfängen steckt, ist eine Auszeichnung für die qualitative Arbeit mit Kinder- und Jugendchören. Im Moment sind wir dabei, hierfür Qualitätskriterien zu entwickeln.

nmz: In Ihrer Berliner Geschäftsstelle sind Sie zu zweit. Wie bewältigen Sie die vielen Projekte und Ziele?

Wiebe: Das ist nur möglich, weil die ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder auf Bundes- und  Landesebene mit anpacken. Viele Projektleitungsaufgaben sind bei den Vorstandsmitgliedern angesiedelt, das heißt: Der Vorstand  trifft nicht nur strategische Entscheidungen, sondern ist auch operativ in die Arbeit eingebunden.

nmz: Für den 2. Oktober planen Sie eine große Veranstaltung in Berlin. „Singen bewegt“ ist das Motto. Was wollen Sie bewirken?

Wiebe: Nicht nur in Berlin. Wir haben den 2. Oktober zum bundesweiten „Tag der jungen Stimmen“ ausgerufen. Wir wollen zeigen, dass das Singen Kinder, Jugendliche und Erwachsene bewegt und zwar kulturell, gesellschaftlich und persönlich. Wir wollen zeigen, dass Chöre sich vielfältig gesellschaftlich engagieren. Und wir wollen zeigen, dass das persönliche Engagement der vielen Menschen wertgeschätzt werden muss, die sich ehrenamtlich für Kinder und Jugendliche engagieren.

nmz: Gibt es schon Ideen, Vorstellungen davon, wie das, was am 2. Oktober sehr plakativ nach außen getragen wird, an Nachhaltigkeit gewinnen kann?

Wiebe: Zum einen nutzen wir dieses Event auch schon in der Vorbereitung für die nachhaltigen Zwecke und zwar nach innen wie nach außen. Mit Hilfe eines solchen Events lassen sich viele Themen konkretisieren. Nach außen, indem wir Menschen einladen und damit auf unsere Themen aufmerksam machen. Nach innen, indem wir die Chöre mit Materialien ausstatten, damit sie vor Ort Aktionen starten und unsere Ideen im ganzen Land weitertragen können. In einem „Berliner Appell“ werden wir die Forderungen der Jugendlichen thematisieren. Dabei wird es konkret darum gehen, dass wir auf keinen Fall Kürzungen im Bereich der kulturellen Bildung zulassen dürfen. Gerade in der heutigen Zeit, in der es darauf ankommt, Bildung – auch kulturelle Bildung – möglichst niedrigschwellig zu ermöglichen, sind solche Kürzungen nicht akzeptabel.

nmz: Es gibt in Deutschland zurzeit eine ganze Reihe von Projekten, die das Modell „Jedem Kind ein Instrument“ auf den Gesangsbereich übertragen. Sind Sie daran beteiligt, unterstützen Sie solche Projekte – oder sehen Sie diese Entwicklungen auch mit Sorge?

Wiebe: Wir beteiligen uns natürlich an dieser Diskussion, versuchen aber auch, diese Projekte von unserer Warte aus kritisch zu betrachten. Auf unserem Fachkongress „ChorVision 2009“ wurden verschiedene Modelle vorgestellt. Anschließend haben wir dann versucht, diese Ansätze zu bewerten. Die Vielfalt der Modelle ist natürlich zu begrüßen. Wir freuen uns darüber, dass das Singen Konjunktur in der Gesellschaft hat. Angesichts dieser Vielfalt und Unübersichtlichkeit besteht aber auch die Gefahr, dass man zu wenig auf die Qualität achtet. Es gab durchaus Modelle, die von unseren Kongress-Teilnehmern, von denen viele ausgebildete Chorleiter und Musiklehrer sind, kritisch bewertet wurden. Man merkt, dass politisch häufig Modelle gefördert werden, die an Events geknüpft sind. Da wird dann nicht immer ausreichend die chormusikalische, kindgerechte und nachhaltige Wirkung geprüft.

nmz: Das Singen hatte in den letzten Jahrzehnten – gerade bei Kindern und Jugendlichen – einen negativen Beigeschmack. Es galt als altmodisch, verstaubt. Kinder haben sich auch geniert zu singen. Erleben Sie da einen Umschwung?

Wiebe: Wir erleben auf jeden Fall einen Umschwung, befördert übrigens auch durch solche Sendungen wie DSDS. Wir erleben einen Umschwung in der Imageausrichtung. Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass das Repertoire sich erweitert hat. Wir haben immer mehr jazz-, pop- und gospelausgerichtete Chöre, bei denen die Grenzen zwischen der E- und U-Kultur fließender werden. Ein anderer Grund ist, dass jetzt einfach genug Zeit seit der Instrumentalisierung des Singens im Nationalsozialismus vergangen ist, so dass die heutige Jugendgeneration dadurch nicht mehr belastet ist. Das ist eine sehr positive Entwicklung, ändert aber nichts daran, dass die Zwischengeneration praktisch ausgefallen ist, so dass wir jetzt wenig Chorleiter und Musiklehrer haben.

nmz: Auch wenig Eltern, die mit ihren Kindern singen …

Wiebe: Ja, auch weniger Eltern, die das Singen zu Hause fördern. Umso wichtiger ist es, hier steuernd einzugreifen und das Singen von außen zu fördern.

nmz: Und Sie schließen dabei ein Format wie DSDS nicht aus?

Wiebe: Das ist eine sehr schwierige Frage, die häufig an uns herangetragen wird. Wir sehen natürlich das Problem, dass dort mit Kindern und Jugendlichen falsch umgegangen wird. In der Ausführung ist dieses Format auf keinen Fall zu unterstützen, auch wenn das Singen dadurch für Kinder und Jugendliche interessanter wird – auch für solche, die bisher eine weniger choraffine Beziehung zur Musik haben. Über die Imageveränderung im Bereich Gesang freuen wir uns und halten mit den Kinder- und Jugendchören vor Ort eine sinnvolle und schöne Möglichkeit parat, in der Freizeit zu singen.

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