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Peter Brathwaite (li.) und Chris­topher Robson in „The Little Lives“ von A. L. Kennedy und Ann Cleare bei der Münchener Biennale. Foto: Smailovic
Peter Brathwaite (li.) und Chris­topher Robson in „The Little Lives“ von A. L. Kennedy und Ann Cleare bei der Münchener Biennale. Foto: Smailovic
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Wie gegenwärtig kann Oper sein ?

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Überlegungen anlässlich der Münchener Musiktheater-Biennale 2022 · Von Juan Martin Koch
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Die diesjährige Münchener Biennale für neues Musiktheater überraschte mit mehreren Produktionen, in denen aktuelle politisch-gesellschaftliche Themen aufgegriffen wurden. Konnte das gut gehen? Und was ist daran eigentlich so überraschend? Ein kleiner Blick zurück und einer zur Seite mag bei der Einordnung hilfreich sein.

Als Hans Werner Henze Ende der 1980er Jahre die Münchener Biennale erfand, lag seine Zeit als dezidiert politischer Opern- und Bühnenkomponist schon einige Jahre zurück. Werke wie „Das Floß der Medusa“ (siehe nmz 2/2018 und die „Rückblende“ auf Seite 36 dieser Ausgabe), „Der langwierige Weg in die Wohnung der Natascha Ungeheuer“, „Streik bei Mannesmann“ oder „We Come to the River“ hatten ihre – teils skandalumwitterte – Wirkung getan und Henze hatte sich zunehmend anderen Stoffen und Themen zugewandt. Auch die junge Generation von Komponierenden, denen Henze in den von ihm verantworteten Festival-Jahrgängen erste Gehversuche auf der Opernbühne ermöglichte, zeigten sich meist eher literarisch-his­torisch als gesellschaftlich-zeitgenössisch inspiriert.

Unter der künstlerischen Leitung Peter Ruzickas (1996–2014) änderte sich daran kaum etwas, und die Ausnahmen, etwa Teile von „Amazonas“ (2010), bestätigten eher das Gefühl, es mit der Aktualität vielleicht doch besser bleiben zu lassen. Auch als die seit 2016 Verantwortlichen, Manos Tsangaris und Daniel Ott, den Blick weg von der potenziellen Repertoiretauglichkeit (die man als Grund für die Wahl „zeitloser“ Sujets heranziehen könnte) hin zu experimentelleren, offeneren Formaten lenkten, kam bis zur jüngst zu Ende gegangenen Ausgabe kaum etwas dabei heraus, was aktuelle „Relevanz“ für sich in Anspruch nehmen konnte oder wollte.

Die Sache mit der „Relevanz“

Gut so, mag die eine oder der andere sagen, schließlich wird hier ein heikles Terrain betreten: Was zeitgemäß und im Dienst einer vermeintlich gesellschaftspolitisch guten Sache daher kommt, ist ästhetisch oft unergiebig oder hat – Musiktheater funktioniert nicht als Schnellschuss – seine Brisanz möglicherweise am Tag der Uraufführung schon wieder verloren. Auch vor der Gefahr, dass auf dem Altar der politischen „Relevanz“ die künstlerische Freiheit geopfert werden könnte, wird nicht zu Unrecht gewarnt (siehe zum Beispiel den von Rainer Nonnenmann auf Seite 36 zitierten Appell der Regisseurin Karin Beier).

Dass es in dieser komplexen Gemenge­lage keine pauschalen, sondern nur auf einzelne Werke bezogene Antworten geben kann, zeigten vier Produktionen der aktuellen Biennale-Ausgabe. Über ihre Uraufführungen wird auf Seite 4 dieser Ausgabe berichtet. Hier nur so viel: Von einem grundsätzlichen Scheitern der jeweils sehr unterschiedlichen Ansätze konnte ebenso wenig die Rede sein wie von einem Anbiedern an den Zeitgeist. Krieg und Vertreibung, Alltagsrassismus, Brexit- und Pandemieerfahrungen oder der Widerstand gegen ein totalitäres Regime wurden in nicht durchweg überzeugenden, immer aber diskussionswürdigen, künstlerisch eigenständigen Arbeiten thematisiert und reflektiert. Das Publikum wurde dabei zum Teil auch sehr direkt mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert. Entscheidenden Anteil daran hatte die Vorarbeit der Autorinnen und Autoren, die – eine alte Tradition in der Arbeitsweise muss keine veraltete sein – vorab mit dem Verfassen von Textbüchern beauftragt worden waren.

Die Münchener Biennale zeigte also, wie die schreibende und komponierende Zunft sich ein Terrain zurückerobern könnte, das sie weitgehend einer anderen überlassen hat: der inszenierenden. Denn in den vergangenen etwa 40 Jahren ist das so genannte „Regietheater“ in diese nicht nur bei der Biennale meist offen gelassene Lücke gestoßen und scheint damit der Gegenwartsmusik in Sachen „zeitgenössisches“ Musiktheater weitgehend den Rang abgelaufen zu haben. Das Erfolgsrezept besteht darin, das Publikum mit einer überschaubaren Auswahl beliebter Opernklassiker ins Theater zu locken, um es dort zu den allseits beliebten Weisen eines Mozart, Verdi oder Wagner mit oft drastischen Umdeutungen ins Hier und Jetzt zu holen.

Das Regietheater macht’s vor

Dies hat viele, verborgene Schichten der Werke freilegende Sternstunden und mindestens ebenso viele verquas­te, Musik und Libretto dreist ignorierende Desaster hervorgebracht. Über Sinn und Unsinn dieses mittlerweile zum Standard gewordenen Prozedere, das unter anderem zu Lasten der Repertoirevielfalt geht, ist viel gestritten worden. Fakt ist aber, dass es die oft mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen gegen den Strich gebürsteten Inszenierungen und die vereinzelten „Regieskandale“ sind, die – jedenfalls im deutschsprachigen Raum – das Musiktheater in den vergangenen Jahrzehnten halbwegs im Gespräch und damit womöglich am Leben erhalten haben. Es gibt also durchaus ein Publikum für derartige Herausforderungen. Solange es den Ärger über misslungene Regiekonzepte und die Irritation angesichts von Koloraturen singenden Bootsflüchtlingen mit Pausensekt herunterspülen oder auch einfach mal die Augen schließen kann, bleibt es bei der Stange. Entscheidend ist dabei, dass Opernpartituren im Gegensatz etwa zu klassischen Sprechtheatertexten als sakrosankt gelten und bis auf Kürzungen meist unangetastet bleiben.

Warum das eigentlich so sein muss, und ob es nicht auch hier interessante Möglichkeiten gäbe, Oper ganz neu zu denken, ist eine von vielen Fragen, an die sich das Musiktheater heranwagen könnte. Dass es aber einfach auch einmal lohnend sein kann, in einer gegenwärtigen Musiksprache gegenwärtige, gerne auch „relevante“ Themen zu verhandeln, hat die Münchener Biennale 2022 gezeigt.

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