Identifikation und Empowerment statt kritisch-reflektierender Befassung mit der Welt? Der Kulturwissenschaftler Wolfgang Ullrich beobachtet eine Verschiebung in unserem Kunstverständnis. Sein Blick auf politische Phänomene wie den Trumpismus, auf eine Kultur der Empörung im gesellschaftlichen Diskurs und den Fetisch um Influencer und Followerzahlen haben den HfMDK-Präsidenten Prof. Elmar Fulda neugierig gemacht.

Screenshot des Gesprächs: Dr. Wolfgang Ulrich (links), Prof. Elmar Fulda (rechts)
Über pervertierte Tabubrüche…
Elmar Fulda: Ich steige politisch in unser Gespräch ein. Ist der Trumpismus mit seinen populistischen Versprechungen, für komplexe Probleme einfache Lösungen zu bieten, das Ende des linksliberalen Zeitalters, das mit 1968 begann? Ist er eine Bewegung gegen die Zumutungen der Moderne, indem er das Prinzip Tabubruch, das die Kunstentwicklung des letzten Jahrhunderts stimulierte, kapert mit seinen Vorwürfen gegen vermeintliche Sprechverbote, die es zu durchbrechen gelte?
Wolfgang Ullrich: In den vergangenen Jahrzehnten wurden in Kunst und Kultur Bestrebungen gefördert, Minderheiten sichtbarer zu machen und für mehr Gleichberechtigung zu sorgen. Menschen mit Diskriminierungserfahrungen sollten bessere Möglichkeiten der Vernetzung sowie des Empowerments zur Verfügung stehen. Formal geht es auch im Trumpismus darum, der eigenen Anhängerschaft Identifikationsangebote zu machen und sie zu mobilisieren. Doch steht hier der Kampf gegen etwas im Zentrum; es geht nicht um mehr Gleichberechtigung, sondern um die Durchsetzung eines Rechts des Stärkeren.
Fulda: Wie geht der Trumpismus vor?
Ullrich: Unter anderem durch die Inszenierung in den sozialen Medien, wo für Anhänger von „Make America great again“ ein gewaltiger identifikatorischer Prozess stattfindet. Der Einsatz von KI-generierten Bildern ist dabei ein wirksames Mittel. Sie setzen durch ihre Ästhetik der Übertreibung das eigene Weltbild emotionalisierend in Szene. Alte, bekannte Motive lassen sich auf diese Weise futuristisch maximieren, ja die Zukunft erscheint dann wie eine optimierte Vergangenheit.
Die Kunst hingegen, wie wir sie kennen, nimmt im Gegensatz eine fast defensive Position ein. Viele Künstler würden KI-Programme nie so plakativ nutzen, um ihre Weltbilder zu präsentieren. Die eine Seite agiert rücksichts- und schamlos, die andere Seite befragt die Welt kritisch. So entsteht eine große Asymmetrie. Der Populismus hat eine neue Dimension erreicht – durch seine ungeheuerliche Bildmacht, die wiederum identifikatorische Erfahrungen enorm stärkt.
Fulda: Der Tabubruch war der Kern der Moderne, und er ist Kern des Trumpismus – bis hin zur Behauptung, dass Hunde und Katzen von Zuwanderern gegessen würden. Wie passt das mit der Identifikations-Maschinerie zusammen?
Ullrich: Dieser Tabubruch hat eine andere Qualität als in der Avantgarde. Im Trumpismus geht es darum, permanent zu zeigen: Man kann sich ungestraft alles erlauben. Er befördert den perfiden Wunsch, dass alles, was man tut, keine schlimmen Folgen hat. Trump selbst lebt das ja seit Jahren vor: Selbst wenn er von Gerichten verurteilt wird, hat dies kaum Konsequenzen für seine Karriere. Er verkörpert damit die Idee von maximaler Freiheit in einzigartiger Radikalität. Der Tabubruch findet auf Kosten der Schwächeren statt. In den Tabubrüchen der Kunst ging es hingegen darum, sie von unten nach oben zu vollziehen: Man wollte die, die zu fest im Sattel saßen und zu viel Macht hatten, provozieren, verunsichern und hinterfragen. Dahinter stand aber eine positive Idee von Gesellschaft: Gleichberechtigung und Gerechtigkeit. In den Tabubrüchen des Trumpismus geht es hingegen darum, Ungleichheiten zu maximieren.
Fulda: Nicht nur die Herrschenden folgen ihm: Auch Latinos, People of Color und Menschen, die sich eher abgehängt fühlen, glauben, er sei die Rettung der Welt.
Ullrich: Das hat zwei Gründe. Zum einen hätte der prekär lebende Latino auch gern etwas von der Freiheit, die Trumps Lebensmodell symbolisiert. Zum anderen arbeitet die Trump-Bewegung stark mit Ressentiments und benennt Schuldige. So entsteht ein gemeinsames Ziel der Empörung, und das verbindet wieder. Diese kollektive Empörung ist auch eine Art von Empowerment.
Trump hat zudem besser als andere verstanden, wie Social Media funktionieren. Man setzt den Menschen ein Bild in den Kopf und weiß: Tausende illustrieren dieses Bild in Memes, produzieren Fan-Fiction – und fühlen sich bestätigt. Was diesen Populismus so gefährlich macht: Dass von den Menschen kein Umdenken verlangt wird, vielmehr werden sie in ihren simpelsten, emotionalsten Ansichten bestätigt.
Fulda: Diese Identifikation schafft Entlastung, hilft scheinbar – in einer überkomplex wahrgenommenen Welt, in der Einzelne keine Wirksamkeit mehr spüren. Die Schriftstellerin Eva Menasse spricht von der „Auflösung der Öffentlichkeit“, also dem Ende der klassischen Medien Rundfunk, Presse und Fernsehen, durch Social Media und ihre Bestätigungsmaschinerie. Teilen Sie diese Ansicht?
Ullrich: Durchaus. Mit dem Aufkommen der sozialen Medien ging die Verheißung einher: Fortan kann sich jede:r ohne große Hürden zu Wort melden. So haben sich schnell viele „Bubbles“ gebildet, in denen ein eigener Ton herrscht, aber auch oft gemeinsame Feindbilder gepflegt werden. Social Media wirkt so, als wenn alle Stammtische der Welt plötzlich mit Mikrofonen versehen wären, denn man kann ja jede andere „Bubble“ belauschen. Dabei mitzubekommen, wie über seinesgleichen gelästert wird, führt dazu, gekränkt zu sein. Und so stauen sich allseits Verletzung und Empörung an. Und das beeinflusst wiederum das politische und gesellschaftliche Handeln in der analogen Welt.
Fulda: Haben wir heute eine Empörungs- statt einer Diskurskultur?

Screenshot des Gesprächs: Dr. Wolfgang Ulrich (links), Prof. Elmar Fulda (rechts)
Ullrich: Ja. Für mich ist Empörung die billigste Art, sich Empowerment zu verschaffen. Peter Sloterdijk spricht in seinem Buch „Zorn und Zeit“ davon, dass populistische Bewegungen wie eine „Zornbank“ funktionieren: Man kann dort seine negativen Emotionen deponieren, mit Zins und Zinseszins wieder abheben und so eine gute Dividende erwirtschaften. Es ist unglaublich schwer, dagegen anzukommen. Wir können nur an die Menschen appellieren, ihrer ersten Empörung nicht zu folgen, kritischer zu sein, hermeneutische Mindeststandards zu wahren.
Fulda: Die klassischen Medien stehen als Produzenten von Inhalten in Verantwortung. Social Media windet sich heraus, sie seien nur die Postboten. Was nicht stimmt: Sie veröffentlichen Content und tragen dafür Verantwortung. Lässt sich Kommunikation in Social Media überhaupt steuern?
Ullrich: Es wäre schon eine große Hilfe, wenn die großen Social-Media-Plattformen stärker reguliert würden, gerade was Hatespeech betrifft. Hass ist keine Meinung. Ich hoffe, die EU bleibt stark, gibt dem Druck aus den USA nicht nach und versucht sogar, strengere Standards zu etablieren.
Fulda: Steckt in der Empörungskultur das frühkindliche Bedürfnis nach Anerkennung?
Ullrich: Die sozialen Medien haben in der Tat die Maßstäbe verändert. Alle schielen danach, wie viel Aufmerksamkeit und Anerkennung sie bekommen. Das erzeugt Stress und frustriert – eine vergiftete Atmosphäre entsteht. Diagnostiker sprechen aktuell von einem „narzisstischen Zeitalter“. Dieser Begriff ist mir persönlich zu pathologisierend, aber er entspricht meiner Feststellung, dass die Suche nach identifikatorischen Beziehungen, nach Anerkennung, heute im Vordergrund steht.
Fulda: Sie sprechen in Ihren Büchern über das Autonomie-Ideal der Kunst. In ihr gab es ein breites Verständnis für Inhalte und Erzählweisen. Funktionierte diese Autonomie deshalb so gut, weil sie sich vor dem Hintergrund eines geläufigen Kanons profilieren konnte?
Ullrich: Der Grundimpuls von Autonomie bestand in der Annahme, dass Kunst umso stärker wirken könne, wenn sie keinen bestimmten Interessen folgt, keinen Zwecksetzungen unterworfen ist. Der Konzertsaal oder das Museum setzten Kunst allein um der Kunst willen in Szene. Dabei bildete sich schnell ein Kanon dessen, was gezeigt und aufgeführt werden sollte.
Für jede neue Generation galt dieser Kanon als Referenz und zugleich als Basis, von der sie sich abheben konnte. So entstand eine produktive Tradition in allen Künsten. Genau die erlebt seit etwa 30 Jahren eine Krise: Akteure im Kunstbetrieb, die nicht mit dem westlich-autonomen Kunstbegriff sozialisiert wurden, bringen neue Erwartungen ein. Darum bröckelt der hegemoniale Status dieses Kunstbegriffs.
Fulda: Der Adel ist, der Bürger wird. Institutionen wie Konzertsaal und Museum sind keine Erfindungen des Adels, sondern Errungenschaften des Bürgertums, das seit Ende des 18. Jahrhunderts ein eigenes, identitätsstiftendes Kunstverständnis entwickelte. Stehen wir heute am Ende des bürgerlichen Zeitalters?
Ullrich: Zumindest wird der bildungsbürgerliche Kanon durch die zunehmende Dominanz der Popkultur relativiert. Der protestantische Motor des Bildungsbürgertums – immer Zweifeln, Hadern, Unsicher-Sein, ob man auf der richtigen Seite steht – ist ins Stottern geraten.
Fulda: Vielfach herrscht die Meinung: Hochkultur ist kritisch und wertvoll, Popkultur kommerziell, identifikatorisch und weniger bedeutend – was folgt dem bürgerlichen Zeitalter?
Ullrich: Wenn die Strukturen der sozialen Medien insgesamt auf die Gesellschaft auch jenseits des digitalen Raums durchschlagen, dann sind wir im Zeitalter der Influencer und der Follower. Heute bemisst sich der gesellschaftliche Status daran, ob und wie sehr jemand ein Knotenpunkt sein kann, um Menschen an sich zu binden – besonders viele, unterschiedliche oder wichtige. Ein solcher Knotenpunkt zu sein, verheißt, sich an der richtigen gesellschaftlichen Position zu befinden.
Fulda: Lässt sich unter diesen Voraussetzungen die Trennung von Hoch- und Massenkultur noch aufrechterhalten?
Ullrich: Immer weniger. Auch in der Hochkultur gibt es identifikatorische Bedürfnisse. Ich denke an Formen von Kunst, die von Menschen aus Minderheiten stammt, oder die sich speziell an Minderheiten richtet – da geht es auch darum, Kunst als einen Ort des Community-Buildings zu nutzen.
Wir sollten die Geringschätzung des Popkulturellen hinterfragen. Man könnte eine Institution wie eine Hochschule so ausrichten, dass diese Differenz nicht mehr als solche erklärt wird und man sich auf die Suche nach Übergängen in den Formaten macht.
Fulda: Die klassische Musikhochschule leitet bislang ihre Daseinsberechtigung aus der Unterscheidung zwischen Hoch- und Massenkultur ab. Was bedeutet es, wenn diese einfache Zuweisung nicht mehr funktioniert?
Ullrich: Die Hochschulen sollten sich fragen, ob und inwiefern sie den veränderten Gegebenheiten Rechnung tragen wollen und können. Wenn es bislang für bildende Künstler darum ging, sogenannte „Gatekeeper“ zu Galerien und Museen zu überzeugen, könnten sie sich heute vielleicht fragen, wie man 20.000 Follower auf Instagram generiert. In einer Diskussion mit Studierenden habe ich erfahren, dass ein Teil Letzteres als Trivialisierung oder Prostitution empfindet, während es andere als den heute relevantesten und erfolgsträchtigsten Weg ansehen und den Hochschulen vorwerfen, die Studierenden überhaupt nicht darauf vorzubereiten.
Fulda: Was raten Sie?
Ullrich: Einige Hochschulen könnten sich den neuen Strömungen öffnen, indem sie popkulturelle Strategien in die eigenen Curricula implementieren. Andere Hochschulen könnten derweil umso bewusster ihre hochkulturelle Kompetenz schärfen.
Fulda: Also Mut zur Ausdifferenzierung – weg vom Vollsortimenter hin zum Feinkosthändler?
Ullrich: Warum nicht? Eine Kunsthochschule könnte sich vornehmen, ihre nächsten drei Professuren für Malerei mit Künstler:innen zu besetzen, die ihre Prominenz vor allem über die sozialen Medien erlangt haben und nicht über Ausstellungserfolge auf den wichtigsten Biennalen dieser Welt. Veränderte Parameter von Erfolg könnten in der Berufungspolitik eine Rolle spielen. Ein Experiment wäre es wert – auch für eine Hochschule für Musik, Theater und Tanz.
Dr. Wolfgang Ullrich arbeitet und lebt heute als freier Autor in Leipzig. In seinen Publikationen beschäftigt er sich mit der Geschichte des Kunstbegriffs und bildsoziologischen Themen. In seinem jüngsten Buch „Identifikation und Empowerment – Kunst für den Ernst des Lebens“ (Verlag Klaus Wagenbach, 2024) zeigt er aktuelle gesellschaftliche und kulturelle Dynamiken und Entwicklungen auf – und geht der Frage nach, was es bedeutet, wenn Kunst nicht mehr Kritik und Veränderung, sondern Empowerment verheißt.
Prof. Elmar Fulda ist Präsident der HfMDK Frankfurt.
Dokumentation: Björn Hadem
- Share by mail
Share on