Obwohl wir unseren ganzen Stolz, das Hirn, die „grauen Zellen“ nennen, graut es uns vor Grautönen – möglichst schwarz-weiß soll das Denken sein. Und den Meinungen, die daraus entstehen und die ich in letzter Zeit beobachten durfte, steht das „oder“ leider viel besser als ein „und“: Die Konzertkritik war gut oder schlecht; die Kulturförderung funktioniert gut oder gar nicht; das Konzertprojekt ist nachhaltig oder klimaschädlich. Und immer wieder stimmt die Intonation im Instrumentalunterricht oder eben nicht.
Aus dem Grauenvollen schöpfen
Auch in der Musikszene, in der etliche Jahre individuell darauf hingearbeitet wird, Zwischentöne zu produzieren und hören zu können, hat es die Grauzone schwer. Symptomatisch dafür ist die Urangst vor dem Ergrauen des Publikums, die dafür sorgt, dass bei zu vielen weißen Haaren im Publikum schwarz gesehen wird. Dabei ist doch das drohende Gräuel nicht das Grau, sondern die radikale Einteilung ins Entweder-Oder. In der Musik wird viel an Perfektion gearbeitet – und alle, die irgendwann einmal daran beteiligt waren, wissen, dass eine 100-prozentige Leistung nicht möglich ist. Oder nur, wenn der Anspruch bei beispielsweise 80 Prozent liegt. Hinter allem, das nicht zu einer reinen weißen Weste führt (und die Maler*innen unter uns wissen, dass Verkehrsweiß sogar noch weißer ist als Reinweiß), direkt eine „schwarze“ zu vermuten: Das ist grausam.
„Weil es so viel einfacher ist!“, mag man vielleicht denken. Dabei stimmt das gar nicht. Man muss nur eine Regel beachten: Wo im nichtwissenschaftlichen Kontext von „jede“, „jeder“ und „alle“, von „immer“, „nie“ und „keiner“ – kurz – über „alles“ und „nichts“ gesprochen wird, da kann man immer davon ausgehen, dass es garantiert eine Lüge ist. Also fast immer oder zumindest oft – und das ist auf jeden Fall ziemlich garantiert. Wie auch immer. So viel ist sicher: Wenn der Himmel den ganzen Tag grau ist, dann ist das Wetter nicht „gut“ oder „schlecht“, sondern einfach den ganzen Tag grau.
- Share by mail
Share on