Es beginnt wohl immer gleich. In der ersten Stunde geht es um die richtige Position, das Ausrichten des Rückens sowie die Haltung der Arme, Hände und Finger. Wer mit seinem Instrument ganz weit zurückblickt, erinnert sich vielleicht noch daran, denn es dauerte eine kleine Weile, bis man wirklich den ersten Ton spielte. Beim Singen ist es kaum anders. Allerdings werden dort beide Hände für die Verstärkung des Ausdrucks gebraucht. Das Bild, man würde beim Musizieren „an der Stuhlkante sitzen“ – also aufrecht, aufmerksam und hochkonzentriert –, kennen vor allem die platzierten Instrumentalisten. Manchmal passiert das aber auch im Publikum, wenn nämlich auf der Bühne interpretatorisch etwas Aufregendes passiert und alle Sinne auf Empfang geschaltet sind.

Standort 9 bei der Potsdamer Schlössernacht. Foto: mku
Reihe 9 (#105) – Von der Stuhlkante
Zu einem Fest der Sinne wurde auch die hochsommerliche Potsdamer Schlössernacht. 41 Projekte (Theater, Gesang, Installationen, Kleinkunst etc.) waren über das weitläufige, grüne Areal von Schloss Sanssouci verteilt – über die Orangerie und den Botanischen Garten, das Neue Palais und die Meierei. Man könnte auch sagen: Der Weg war das Ziel, denn die Distanzen waren wirklich weit, einige Aktionen und Akteure auch noch so parallel geplant, dass selbst der Alte Fritz und seine wachen Stallmeister ein Problem mit der Koordination gehabt hätten. Wer bereits am späten Nachmittag den Garten betrat, konnte noch das eigentlich Grün bei Licht betrachten, wer später kam, konnte sich hingegen im Dunkel der anbrechenden Nacht an den in Tönen gleitenden Farben der Leuchtstelen oder dem Lasertunnel begeistern.

Damián Elencwajg – Töne an der Kante. Foto: mku
Vieles verbreitete dabei den Eindruck einer aus historischer Zeit geliehenen Entschleunigung. Galant wandelnde Pärchen in Kostümen des preußischen Rokoko, Gastrostände ohne den üblichen „Budenzauber“ – und freundliche, wirklich hilfsbereite Mitarbeitende, die rücksichtsvoll ihren leisen E-Scootern die Sporen gaben. Ja, wenn da nicht … dann doch an einer Stelle die Kontraste so eklatant aufeinandergetroffen wären.

Compagnia Autoportante – Musik auf dem Drahtseil. Foto: mku
Da dröhnte von den Jubiläumsterrassen elektronisch verstärkt die World-Music-Band Tribubu, dass sich die geraden Hecken in ihren dunklen Nischen schämten – während auf der Wiese schon lange einer der ganz stillen, fast zerbrechlichen Highlight-Programmpunkte (auf die zumal gesondert aufmerksam gemacht wurde) auf eine Atempause wartete: die Compagnia Autoportante – ein Ensemble, das auf wundervoll poetische Weise Straßentheater, Akrobatik und Clownerie miteinander verbindet. Es war eine betont leise, erzählende Show, die sichtlich alle Generationen in ihren Bann zog und vor einer eindrucksvollen Kulisse durch ihre künstlerische Ehrlichkeit faszinierte. Dabei machte Damián Elencwajg dann auch mit dem landläufigen Bild der „Stuhlkante“ und ein paar Tönen wirklich Ernst, dass einem der Atem stockte. Es sind genau diese Momente, die sich bei klaren Augen auf die Netzhaut brennen.
Reihe 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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