Hauptbild
 Tisch 9 im Congress Centrum Heidenheim. Foto: mku

 Tisch 9 im Congress Centrum Heidenheim. Foto: mku

Hauptrubrik
Banner Full-Size

Reihe 9 (#104) – Europa im Spiegel

Vorspann / Teaser

Manchmal fügen sich die Dinge zu einem Ganzen. Wie etwa bei den diesjährigen Opernfestspielen in Heidenheim am nordöstlichen Ende der Schwäbischen Alb, wo (neben Gianni Schicchi und Elektra) auch Verdis Atilla auf dem ambitionierten Programm stand. Fortgesetzt wurde damit die chronologische Aufführung von Verdis offiziell numerisch ungezählten Bühnendramen – in diesem Jahr mit der neunten Oper, bei deren Premiere ich mich selbst wie zufällig am Ende der Pause an „Tisch 9“ wiederfand. Neun, das war auch die Zahl der frühen Mitglieder der Europäischen Union am 1. Januar 1973 – ein Gedanke, der sich angesichts der starken Bilder im zweiten Akt wie von selbst einstellte. Doch der Reihe nach …

Autor
Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Mit Atilla ging es weit zurück in die Zeit der Völkerwanderungen und des allmählichen Zerfalls des Römischen Reiches. Der legendäre Hunnenherrscher war dabei nicht nur ein grober Kämpfer in der Schlacht, sondern auch ein gewiefter Diplomat, der es verstand, den römischen Kaisern auf der Nase herumzutanzen. Denn statt sich frühzeitig zu bekennen und Allianzen zu schmieden, wählte man in Rom und Konstantinopel mit viel Gold und Gütern die Strategie des Appeasement, um Atilla zu besänftigen – weil man es sich wohl auch schlichtweg finanziell noch leisten konnte. Ein fataler Fehler, der Atilla womöglich erst erstarken ließ. Doch so schnell wie der aus der Steppe kam, so schnell verfiel nach seinem plötzlichen Tod (er starb an einem Blutsturz beim eigenen Hochzeitsgelage) das von ihm mit bürokratischem Eifer regierte Reich.

Bild
Atilla – oder wer auch immer. Europa im Spiegel © Oliver Vogel

Atilla – oder wer auch immer. Europa im Spiegel © Oliver Vogel 

Text

Dass der Stoff und die Oper auch viel mit der Gegenwart zu tun haben, offenbarte die nach dem Prolog in den drei Akten immer wieder neu ansetzende Inszenierung von Matthias Piro und seinem Team. Vor allem aber zeigte sie die Sichtweise der jungen Generation auf ein Europa, dessen Freiheit und gelebte Nachbarschaft unter Freunden fast überall durch ganz unterschiedliche Akteure von innen und außen bedroht und zersetzt werden: Die im Libretto beschriebene Verschwörung, das Festmahl und das Attentat (mit einer Geste zum Ohr, die jeder sofort verstand) wurden in einen Sitzungssaal verlegt, das mit einer Kamera einfangene (Rand-)Geschehen als Close-Up auf den Bühnenhintergrund projiziert und mit realen Bildern aus Geschichte und Gegenwart so entlarvend wie provozierend untermischt – dass beim Vorhang aus dem ansonsten eher genügsamen Auditorium Protest und erwidernde Bravos zu hören waren. Hier berührte nicht nur das unter der musikalischen Leitung von Marcus Bosch in Bestform agierende Festspiel-Ensemble, sondern auch der unserer Zeit vorgehaltene Spiegel. Oder kurz: Die Geschichte wartet auf ihre Schüler.

Bild
Attentat auf Atilla. © Oliver Vogel

Attentat auf Atilla. © Oliver Vogel

Text

Reihe 9

Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.

Weitere Artikel
Autor
Musikgenre