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Lavinia Dames, Gürzenich-Orchester Köln. Foto: © Matthias Jung

Lavinia Dames, Gürzenich-Orchester Köln. Foto: © Matthias Jung

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Bechers Bilanz – Mai 2025: Brücken abreißen in Köln

Vorspann / Teaser

Von allen Websites tönen Warnungen über die an der Hamburgischen Staatsoper uraufgeführte große Oper von Unsuk Chin: zu lang, zu viel Text. Stimmt. Opern reüssieren heute entweder als tönende Diskurspapiere mit einer Collage inkommensurabler Verse von nah und fern oder als Dramatisierungen schicker Filme. Aber dass eine Komponistin sich eine Geschichte ausdenkt, eine faustische zumal, und sie weitschweifig, witzig und mit mollweichem Finale auf die Bühne bringt, das provoziert Widerspruch.

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Hamburg: „Die dunkle Seite des Mondes“

Wenn man ihr denn Raum lässt

Unsuk Chin, die so lebhafte Orchestermusik zwischen Zerbrechen und Tumult schreiben kann, misstraut ausgerechnet in der Oper dem Gesang. Eine Deutung oder auch nur Charakterisierung der Personen mittels Gesangslinie unterbleibt in „Die dunkle Seite des Mondes“. Syllabisch verkünden die Sänger ihren Text, ein scharlatanöser Seelenklempner nervt mit beharrlich aufgesagter Küchenpsychologie. Oper kann mehr, wenn man ihr denn Raum lässt. Am besten gelingen der Komponistin jene Passagen, wo sie das Narrativ der Männer zur Seite legt und sich den Frauen überlässt, insbesondere Siobhan Stagg als Miriel mit weichem Sopran und runder Phrasierung sowie Ensemblemitglied Narea Son, deren mit klarem hellem Ton gesungene Silben den Träumen angehören, die die rationale und zynische Welt des Physikers Kieron bedrängen. In den Traumsequenzen fasziniert Chins Musik durch Farbenreichtum und Leichtigkeit, die den jähen Umschlag in Aggression – zu der das Duell zwischen Wissenschaftler und Schamane einlädt – nicht scheut. Sie würde auch dreieinhalb Stunden lang faszinieren, aber man nimmt sie kaum wahr unter den aufgepegelten Textmengen, auch in der Audiothek der ARD nicht.

Die Vorstellung am 27. Mai vor halb vollen Sitzreihen gehört Thomas Lehmann, der die Riesenpartie des Professor Kieron mit nicht nachlassender Energie und Gestaltungskunst singt, und dem Regieteam „Dead Centre“, mehr noch den Videos von Sophie Lux und der Bühne von Jeremy Herbert, die für starke Theaterbilder sorgen und nicht über das Stück hinweggrinsen. Kent Nagano (der schon Chins erste Oper „Alice in Wonderland“ uraufgeführt hatte) dirigiert das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit Genauigkeit und Balance, wenn man denn … aber das hatten wir ja schon.

Köln: SWR Symphonieorchester

Rundfunkorchester mit allen Wassern gewaschen

Während Hamburgs Oper die Kritiker verdrießt, trägt Köln sein Vorzeigefestival „Acht Brücken“ zu Grabe. Die Stadt streicht ab 2026 die Gelder, aber der scheidende Intendant Louwrens Langevoort zelebriert eine Beerdigung Erster Klasse. Schon das Gastspiel des SWR Symphonieorchesters am 11. Mai bereitet große Freude. So kenntnisreich, mitreißend und klangsensibel wird ein komplettes Programm des 20. und 21. Jahrhunderts heute fast ausschließlich von Rundfunkorchestern gespielt. Dirigent Bas Wiegers – gefragt von allen wichtigen Neue-Musik-Ensembles – eröffnet mit der neoklassizistischen, fröhlich funkelnden Kleinen Suite von Witold LutosÅ‚awski und schließt mit „La mer“, dessen Wellenberge überraschend schnell abfließen. Etwas unter Wasser irren die Streicher umher; Wiegers überlässt sie auch dort sich selbst, wo ihre Linien klare Konturen bräuchten.

Eine eigenwillige Lichtregie will es, dass das Publikum durchgehend angestrahlt wird – eine platte Umsetzung des Festivalmottos „Licht“. Vergeben und vergessen, angesichts der Gelegenheit, eine derart aufregende Komposition wie „Verblendungen“ von Kaija Saariaho zu hören. Ihr Orchesterwerk beginnt mit kraftvoller Geste, die im klein besetzten Orchester immer weiter ausdünnt und gleichzeitig von elektronischen Klängen unterspült wird. Die Musik öffnet ihre Wunden und gewährt tiefe Einblicke – bis hin zum Wispern, mit dem „Verblendungen“ endet.

Köln: „La Passion de Simone“

Liebeserklärung an Simone Weil

Acht Brücken umkreist in seinem erzwungenermaßen letzten Festivaljahrgang die Musik der in Helsinki geborenen, bis zu ihrem Tod 2023 in Paris lebenden Kaija Saariaho. Die Oper Köln beteiligt sich daran mit dem Bühnenwerk „La Passion de Simone“, in dem Saariaho das Leben der französischen Mystikerin, Gottsucherin und Politaktivistin Simone Weil (1909–1945) nachzeichnet, ohne dass Librettist Amin Maalouf das Geschehen dramatisieren würde. Inszenierung (Friederike Blum) und Ausstattung (Lise Kruse) verstärken den diskursiven Eindruck, indem sie Gipsbüsten und Merksätze der unglücklichen Philosophin ins Rampenlicht stellen. Eine musikalische Liebeserklärung, dennoch gestaltet Saariaho die 15 Szenen wie eigenständige Porträts, verwendet etwa metallene Werkzeugklänge (Weil mischte sich unter die Arbeiter von Renault), rhythmisch markante Passagen, süße Messiaen-Akkorde, ein traumhaftes Oboensolo (Jeong Hun Heo) und scharf abreißende Streicher.

In der Premiere am 18. Mai triumphiert vor allem Laviana Dames. Die Sopranistin, Ensemblemitglied in Düsseldorf, füllt mühelos den akustisch ungünstigen Saal 3 im Staatenhaus. Dames flüchtet sich nie ins Vage, sondern gestaltet ihre Partie konkret wie ein Berlioz-Lied, ihr Vibrato hat sie vollständig unter Kontrolle. Das von Christian Karlsen geleitete Gürzenich-Orchester und das zwölfköpfige Vokalensemble der Oper realisieren die Partitur konzentriert und klangschön. Mit dem Jubel des Publikums sei der Stadt Köln die Bitte hinterhergeschickt, nicht alle Brücken abzureißen und insbesondere die trotzige und unnötige Zerschlagung der Acht-Brücken-GmbH aufzuhalten. Man wird sie noch brauchen können, egal wie die Festivallandschaft der Domstadt zukünftig aussieht.

Köln: Ensemble Intercontemporain

Sternstunde mit Boulez

Wenn Kaija Saariaho auf dem Festival-Programm steht, liegt eine Einladung an das Pariser Ensemble Intercontemporain nahe, mit dem die Komponistin viele ihrer Werke erarbeitete. Zwei erklingen am 15. Mai in der gut besuchten Kölner Philharmonie, 35 Jahre liegen zwischen ihnen: „Lichtbogen“ (1985/86) und „Semafor“ (2020). Beide Werke gehen von einem Ton aus, halten ihn, schreddern ihn und gründen schließlich auf ihm die für Saariaho charakteristischen schillernden Klangräume. Liveelektronik vergrößert diese Räume im älteren Stück zu regelrechten Kathedralen, aber „Semafor“ ist das kantigere, ja rotzigere Stück, in dem der Puls, der von Anfang an zwischen Pikkolo und Violine umherspringt, bis zum Schluss zappelt.

Was vor allem in Erinnerung bleiben wird von diesem Konzertabend, ist „sur Incises“ (1996), nach „Pli selon pli“ im März ein weiterer großer Pierre Boulez in Köln. Das Werk hört man seiner markanten Besetzung wegen kaum jemals im Konzert. Je drei Klaviere, Harfen und Stabspiele fließen ineinander und gründen – bei aller Heftigkeit einzelner Tonkaskaden – einen samtenen Hörkosmos. Hier herrscht Harmonie, keine von Dur oder Moll, sondern von Timbre und Klangfarbe. Wenn die Schlagzeuger einmal ein Ölfass traktieren, gerät das akustische Gefüge sofort aus dem Tritt. Die kribbelig aufeinander einstürzenden Arpeggien, Cluster und Läufe verbergen überraschend klare Gesten; mit der Zeit meint man kanonische Einsätze zu vernehmen, und jedes Atemholen und Hineinhorchen in den Klang ist eine Sensation. Das von Pierre Bleuse dirigierte Ensemble spielt mit erlesener Eleganz bis zur allerletzten, nach rund 40 Minuten aufgeblätterten Partiturseite. Eine Sternstunde nicht nur des Acht-Brücken-Festivals, sondern des ganzen Kölner Musiklebens.

Köln: Quatuor Agate

Rising Stars mit Ravel und Korngold

Einen weiten Bogen schlägt das französische Quatuor Agate am 25. Mai. Köln, Dortmund und Paris haben das Quartett nominiert für die Reihe „Rising Stars“, die herausragende junge Musikerinnen und Musiker durch die bedeutendsten Konzerthäuser Europas schickt, darunter die Kölner Philharmonie. Der Bogen also reicht von Haydn bis hin zu einem (zu lapidaren) Auftragswerk, um dann doch bis zum Gipfel der französischen Kammermusik zu reichen: Maurice Ravels Streichquartett. Die Agates (benannt nach einer Flamme von Johannes Brahms) spielen das mit ausgesuchter Klangdelikatesse, aber auch mit muskulöser Dringlichkeit. Die Pizzicati im zweiten Satz geraten rockig, das Finale strotzt vor Spielfreude, andernorts flüstern die vier oder lassen einer beseelten Kantilene des Bratschers den Vortritt.

Erich Wolfgang Korngolds Drittes Streichquartett steht auf der anderen Seite der Skala. Korngold wollte am Ende seines Lebens den Ruf des genialen Filmkomponisten abschütteln und wieder mit der Tonsprache anerkannt werden, mit der er aufgewachsen war: der von Brahms und Wagner inspirierten Spätromantik. Ein inspiriertes Werk, dessen reichhaltige Motivik das Quatuor leidenschaftlich und sensibel offenlegt. Die Herzen des Kölner Publikums fliegen den Musikern zu – nicht nur (aber auch) dank charmanter Ansagen auf deutsch.

Köln: Berliner Philharmoniker mit Mahlers Neunter

Hochamt der Klassik

Ein Gastspiel der Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko mit der Neunten Symphonie von Gustav Mahler ist ein Hochamt für Konzertbesucher. Die Kölner Philharmonie ist am 21. Mai ausverkauft (inkl. Stehplätze), tout Cologne gibt sich die Ehre. Natürlich sehen Kulturpolitiker es gerne, wenn in Konzerten Symphonieorchester und Rapper einander die Bälle zuwerfen, wenn sich ganze Abteilungen an speziellen Konzertformaten abrackern, um das Publikum zu verjüngen, wenn diskursive Begleitveranstaltungen die Klassik kontextualisieren – all das ist richtig und wichtig. Aber dass Musik Magie und Aura verbreitet, dass sie ihre Hörer verzaubert, sie in einen konzentrierten Zustand der reinen sinnlichen Wahrnehmung versetzt, das vermag ein Abend mit den besten Orchestermusikerinnen und -musikern der Welt, mit einem gänzlich uneitlen, nur für sein Orchester da seienden Dirigenten und mit einer Partitur, die von der Dorfkirmes über Trost und Trauermarsch bis zur Todesahnung schreitet. Die das Publikum in den Arm nimmt und nicht belehrt.

Das Orchester braucht ein paar Minuten, um auf Temperatur zu kommen. Petrenko glättet die Polyphonie im ersten Satz klanglich nicht, Bläsereinwürfe verdrängen Streicherkantilenen (ein Hoch auf den Ersten Hornisten Yun Zeng, stellvertretend für alle Bläser), die Durchführung bricht mit existenzieller Härte zusammen. Die Burleske nimmt Petrenko scharf und schnell – die Musiker wippen lächelnd mit –, das Finale unsentimental zügig. So bleiben die Phrasen kenntlich, ihr Zerfall wirkt am Ende umso trauriger. tout Cologne springt aus den Sitzen. Wie schön, dass wir dabei sein durften.