Der Anfang klang wie ein Treffen mit vertrauten Freunden: Steve Reichs „Music for Pieces of Wood“ von 1973 ist längst ein „Klassiker“. Auch Iannis Xenakis‘ „Rebonds a“ (1987–89) sowie Mathias Spahlingers „vorschläge – konzepte zur ver(über)flüssigung der funktion des komponisten“ (1992) sind keine Unbekannten. Bei Billie Eilishs Hit „No Time To Die“ (2020), arrangiert für Schlagzeugensemble von Eleonora Brennecke, und dem Ramstein-Kracher „Deutschland“ (2019), in einer Schlagzeugversion von Tom Kirchner, gingen alle mit. Großer Applaus. Das Eröffnungskonzert im Kulturzentrum Rathenow verlief wie ein Hörparcours. Er führte vom leicht(er) Auffassbaren, gespielt von der Percussion Band Rathenow, einem Schlagzeugensemble der Musik- und Kunstschule, in sperrigere Herausforderungen ans Zu- und Hineinhören und gipfelte in der für das Ensemble Rot (Teresa Grebchenko, Yuyoung Jin, Nanae Kubo, Nagisa Shibata) konzipierten Uraufführung des Stücks „Illusion for Betty“ von Zacharias Faßhauer. Die Dramaturgie folgte einer signifikanten kuratorischen Linie, nämlich Neues, ins Vergessen Gesunkenes, weniger und mehr anspruchsvoll Fixiertes und Improvisiertes zu präsentieren.
Pascal Pons spielt bei den RTFNM Alan Hilarios „Showdown“ für Multi-Percussion solo (2008). Foto: Stan Baranski
Hören, diskutieren, machen
Der zentrale Fokus der Veranstaltungsserie sollte auf der „Verknüpfung der Künstler:innen untereinander […] und mit dem Publikum“ (https://rtfnm.de/) liegen. Das ist wunderbar gelungen. In Nachgesprächen, Workshops, Vorträgen, Mehrweg- und Wohnzimmerkonzerten sowie nicht zuletzt bei den allabendlichen „Open Stages“ im Jugendhaus Oase bestanden reichlich Austauschmöglichkeiten. Die Nachgespräche galten Eindrücken, Kommentaren und kritischen Rückfragen. Auch am Grill auf der Oasen-Wiese und nach den Vorträgen entspanntes Geplauder. Bei den Wohnzimmerkonzerten, einem Event, zu dem Privatleute einluden, verlor sich die Scheu, Musiker:innen und Komponierenden in die Karten zu schauen. So entschloss sich David Auli Morales spontan, in einem kleinen Exkurs performative Gesten zu demonstrieren, um Mark Applebaums Aphasia zu erläutern. Darüber hinaus boten Florian Juncker (Posaune) und Boris Bell (Schlagzeug) eine feine offene Improvisationssession im Optikpark.
Die Impro- und Erkundungsworkshops von Richard Millig, Sebastian Berweck (mit Modular Synthesizer) und dem Ensemble Rot waren offen für alle. Wer wollte, konnte sich auch am Festivalorchester beteiligen, das gemeinsam mit Künstler:innen und Workshopgästen das Abschlusskonzert im Festsaal der Kunst- und Musikschule Alte Mühle bestritt. Geboten wurden „Bonanza“ von Annesley Black, „Wolpertinger“ von Georgia Koumará, „Skying“ von Sarah Nemtsov, Misha Cvijovićs „Iktsuarpok for Minimoog and Tape“ sowie für diesen Anlass bearbeitete Versionen von Pauline Oliveros’ Konzeptstück „Thirteen Changes“ und Alvin Currans „Monument for ten ambulant bassdrums“.
Jeder Tag bot andere musikalische Ereignisse etablierter und unbekannter Künstler:innen älterer und jüngerer Generationen. Präsentiert wurden etwa Werke und Performances von Alexander Reiff, David Auli Morales, Alessandra Riudalbas, Vinko Globokar, Claus Kühnl, Thomas Wenk, Nicola Termöhlen, Peter Schmuck, Rebecca Saunders, Beat Furrer, Morton Feldman, Kaija Saariaho, Liza Lim, Luciano Berio, Georges Aperghis, Julián Quintero Silva, aufgeführt von anwesenden Komponierenden, Mitgliedern des Arxis Ensembles, dem Ensemble Musikschule Rathenow und einzelnen Solisten, darunter Caroline Rode (Blockflöten), Teresa Grebchenko (Schlagzeug) und Zacharias Faßhauer (Kontrabass).
Als besondere Rarität habe ich im Konzert „Mehrweg 2“ Alan Hilarios aufwändigen „Showdown“ für Percussion und Video von 2007 genossen. Mit seinem um Metallkugeln und Spielzeugpistole erweiterten umfangreichen Instrumentarium trat der Schlagzeuger in Dialog mit kurzen Stummfilmsequenzen eines Showdowns. Das knallte. Über die Schallsensation hinaus entwickelte sich eine Bild und Klang verwebende Narration. Bei Cornelius Schwehrs „Quintus 3“ für Marimba und kleine Trommel dominierten sehr feine Timbres. Quasi jeder einzelne Ton war individuell gefärbt – ein intensives Lauscherlebnis. Beides fantastisch dargeboten von Pascal Pons.
Die Bezeichnung „Neue Musik“ ist weder eindeutig noch neutral. Vielmehr sind damit seit Beginn des 20. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum diverse Konzepte verbunden, wie die prominent von Theodor W. Adorno forcierte Idee einer Erneuerung musikalischen Materials. Gilt das noch? Diesem Aspekt widmeten sich die Vorträge von Rainer Nonnenmann (HfTM Köln), „Vom Versprechen der Neuen Musik“, und Stefan Fricke (hr2, HfM Mainz), „Neue Musik heute – Wunsch und Wirklichkeit“. Nonnenmann zeigte an einer beeindruckenden Beispielfülle, was beziehungsweise wie „Neues“ von Komponierenden in die Partituren eingegangen ist, und bot einen ebenso illustren wie informativen Streifzug durch die Geschichte der Avantgarde. Quasi ergänzend nahm Stefan Fricke diverse ideengeschichtliche Implikationen des Begriffs und ihre Hintergründe ins Visier. In den sich anschließenden Diskussionen wurde dann ein erweitertes, weniger geschichtsphilosophisch und ideologisch beladenes Verständnis des Neuen artikuliert, das die Perspektive auf die heutige Vielfalt musikalischer Phänomene und das im eigenen Erfahrungshorizont Unbekannte öffnete. In diesem pluralen Sinne kann auch die „Neue“ Musik der Rathenower Tage gelesen werden. Tab Bellmann (ÖAW Wien) spannte in seinem kurzweiligen Vortrag „Why do humans have music, and how? An introduction to answers from Music Psychology, Neuromusicology, Evolutionary Musicology, and Biomusicology“, gleich ein ganz großes Panorama auf, indem er unser begrenztes ästhetisches Musikverständnis und die Beschränkung des Musikalischen auf menschliches Handeln auf die Tierwelt erweiterte, was lebhaft debattiert wurde.
„Gute, freie Kunst ist per se politisch und unverzichtbar, um Demokratie zu sichern“ (https://rtfnm.de). Aus dieser Grundhaltung ist die Struktur der Rathenower Tage für Neue Musik hervorgegangen. Es funktioniert! Dieses Jahr fanden sie zum zweiten Mal statt. Das konnte nur gelingen, weil die Initiatoren Teresa Grebchenko und Zacharias Faßhauer mit grenzenlosem Idealismus und unfassbarer Energie junge Menschen und Kulturinteressierte motivierten, eigene Netzwerke aktivierten, neue vor Ort knüpften, Finanzierung, Werbung, Kommunikationskanäle und technischen Support organisierten. Neue Musik in professioneller Interpretation und durch eigene Versuche kennenzulernen, sich Höreindrücken auszusetzen, die in kein bekanntes Raster passen, die prickelnde Verführung in den eigenen Ohren zuzulassen, zählen zu bleibenden Erfahrungen. Wer je ein Konzert in sein Wohnzimmer einlud, wird fortan diese Erinnerung tradieren. Nach den fünf Tagen habe ich die Menschen und die Konzerte vermisst. Der ICE Hannover-Berlin saust an Rathenow im stillen Havelland vorbei. Das ist ein Fehler. Es lohnt sich, ein paar Ferientage dort für den Genuss Neuer Musik einzuplanen. Bringt Zelte und Kanus mit.
- Siehe auch den Beitrag von Teresa Grebchenko, unter anderem zum Festival, auf Seite 3.
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