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Performance von und mit Teresa Grebchenko. Foto: Justyna Koeke

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Das Liebesversprechen der Neuen Musik

Untertitel
Vom Leben im und außerhalb des Elfenbeinturms in Brandenburgs brauner Realität · Von Teresa Grebchenko
Vorspann / Teaser

Teresa Grebchenko (Pseudonym: Thomas Faust Grebchenko) – geboren 1984 in Krakau – ist eine intermediale Künstlerin. Sie studierte Komposition bei Michael Reudenbach, Schlagzeug bei Marta Klimasara und Bernhard Wulff sowie Figurentheater bei Werner Knoedgen. Sie hatte einen Lehrauftrag für Instrumentales Musiktheater am Institut für Neue Musik der Musikhochschule Freiburg. Zurzeit lebt sie in Rathenow, schreibt Texte, Musik und Theater, gehört zum Ensemble Rot, arbeitet als Honorarlehrkraft an der Musik- und Kunstschule Havelland, promoviert im Fach Komposition an der HfMT Hamburg und ist künstlerische Leiterin der Rathenower Tage für Neue Musik. Im Folgenden zeichnet sie für unsere Leser ihren Weg von Polen über Freiburg nach Rathenow in Brandenburg nach.

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Der öffentlich zugängliche Elfenbeinturm, die Neue Musik – Kunst auf höchstem intellektuellem Niveau; eine staatlich subventionierte internationale Brutstätte von Komponist:innen und Spitzeninstrumentalist:innen; die Philosophie Adornos; Experimentalstudios der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, in denen Stockhausen und Nono meine Lieblingsmusik entwickelten; ein Fernsehen, das in den 70er- und 80er- Jahren Samuel Beckett zur besten Sendezeit ausstrahlte – Deutschland.

Schon immer liebte ich die Berge – den wechselnden Klang des Widerhallens meiner kindischen Gesänge, das verschieden erzeugte und gefilterte Rauschen, den mühsamen Weg, das Überwinden der Grenzen, die Anstiege, Hindernisse, die Verirrungen und das Suchen nach Wegen. Es ist ein besonderes Gefühl, oben am menschenleeren Gipfel den schweißnassen Rucksack von den Schultern zu werfen und den Ausblick auf eine Welt zu genießen, die man für kein Geld, sondern nur durch eigenen Willen und Mühe bekommt.

Der glänzende Elfenbeinturm erhob sich über Deutschland, meine neue Heimat, wie ein hoher Berggipfel. Dieses Land, in dem mein Großvater in Folterverhören das Gehör seines linken Ohres verlor, brachte mich dazu, mein feuriges Versprechen einer Rückkehr zu brechen. Ja, mein geliebtes Zuhause war schöner, doch der Elfenbeinturm hier war höher. In ihn, wo die Neue Musik wohnt, und in seine Größe verliebte ich mich unsterblich.

Doch wer ist er? Und wer ist sie? Wen sehe ich liebesblind, wenn ich über die beiden spreche? Wer sind sie in meinem für die Welt wertlosen Kopf, der für mich hingegen das „Alles“ ist?

Blinde Liebe?

Der Elfenbeinturm ist ein ungeheurer, von weitem sichtbarer Turm, der aus vielen kleineren Türmen, Türmchen, Brücken, Balkonen und Zinnen besteht – fast wie ein Kristall oder eine geschnitzte Skulptur, die sich in den Himmel windet – in der die kindliche Kaiserin in der Mitte Phantasiens wohnt, was von einem geheimnisvollen Nichts bedroht wird. Der Elfenbeinturm ist aber auch ein Ideal, ein Symbol der Schönheit, Reinheit, menschlicher schöpferischer Größe, ein geistiger Ort in dem fern von allem fleischlichen „Nützen“ nach wissenschaftlicher und künstlerischer Wahrheit gesucht werden darf.

Die Neue Musik ist eine in „zeitlicher Form“ verkörperte Idee vom Wagnis, vom Mut zum Unbekannten, von der Fähigkeit, Gedanken in physikalische Strukturen umzuwandeln; die Frechheit der Freiheit, sich in eigene Regeln zu fesseln, in Konsequenzen zu bleiben – oder sie zu brechen. Sie ist die Kunst der bohrenden Reflexion, der Sublimierung von Wahrnehmung und Emotionen. Sie ist die Verbindung zwischen Fühlen und Verstehen. Sie verkörpert die Herausforderung, die Faszination und die Begeisterung über den individuellen menschlichen Geist.

Sie sieht mich, sie erlaubt mir, das unnachahmliche Universum meines Selbst und jedes meiner Nächsten wert zu schätzen. Sie steht ohne Furcht gegen die Tornados der Totalitarismen – als Ermunterung zum altruistischen, wahren Individualismus. Sie ist das Symbol der Freiheit des Geistes, des Wagnisses zu eigenständigem, immer wieder neuem Fühlen und Denken.

Sie ist selbst ein großes „Nein“ zu kollektiven Zwängen und Manipulation. Sie, die Schönste mit all ihren hässlichen Makeln, flüstert uns die Furcht vor Horden zu. Sie lädt in ihre kleinen Räume ein – zur Vorbeugung der Entstehung einer vernichtenden verantwortungslosen Masse, im Sinne von Elias Canettis „Masse und Macht“.

Harte Realitäten

Mir ist bewusst, dass das Verliebtsein auf dem Weg zur wahren Liebe Taten fordert – nur Narzissten lieben mit Worten. Daher musste ich etwas tun angesichts der durch meine blindverliebten Augen erblickten Tatsachen von säurehaltigem Reinigungsmittel im Inneren des Turmes, verseuchter, säurehaltiger Regenfälle von außen, und drittens fortschreitendem klebrigen Nichts.

Kurzer Einschub: Einer meiner geis­tigen, polyamoren Partner, der Komponist Hans Wüthrich, sagte im Jahr 2000 in einem Interview mit Carolin Nau­jocks, dass „die Welt auf eine Diktatur des schlechten Geschmacks, auf globale Vereinheitlichung, Nivellierung und Verflachung zusteuere – und dass jedes eigenständige Denken und Handeln ein politischer Akt sei, dass jeder Künstler, der eigene Werke schafft, eigene Einfälle hat und diese gegen alle Widerstände realisiert, per se subversiv und politisch engagiert ist“. – Sprach er da nicht genau gegen dieses fortschreitende Nichts, und zugleich von den Mitteln des politischen Engagements?

Nach Brandenburg

Ich verließ das Freiburger Paradies, voller aufgeklärter, besserer Menschen sowie Möglichkeiten für publikumswirksame Kunstprojekte. Ich verließ den Schwarzwald sowie ein starkes Netzwerk an Freunden, Kollegen und Unterstützern. Ich fand eine Wohnung im wilden Osten, deren niedriger Preis mir Zeit zum Kunstmachen versprach. Ich begann, die gehassten, verwöhnten oder vernachlässigten, kindlichen, immer brauner werdenden Menschen zu unterrichten, um ein unabhängiges Urteil, Geld und Zunge zu verdienen.

In aller Pein einer konsequenten Liebe, mit stechendem Schmerz des Fremdseins, umgeben von echten Rechten – nicht den imaginären aus Bildschirmen, sondern solchen, die bedrohen, einschüchtern und zu vertreiben versuchen –, unterrichtete ich Kinder, die Hitler für einen Helden hielten, weil ihnen offensichtlich Menschen fehlten, die den Mut hätten, mit ihnen darüber zu reden.

Ich sah die alarmierend mangelnde Bildung, denn all jene, die sich für Demokratie einsetzen und viel über eine gerechte Welt zu sagen haben, klagen lieber in ihren eigenen Kreisen und auf sicheren Kulturveranstaltungen über den Rechtsruck, als tatsächlich etwas dagegen zu tun – zum Beispiel zu unterrichten oder gar bloß in unangenehmen Gebieten zu spazieren. Ich galt in Rathenow als Fremde – nicht nur, weil ich Ausländerin bin (die große Abwertung als Polin erlebte ich bereits in Baden-Württemberg), sondern auch, weil ich aus dem Westen kam, als intellektuelle Akademikerin, die hier vermeintlich nichts zu suchen hatte. Es war schlimm – ich wollte zurück in meine wunderbare, regenbogenschimmernde Blase, die Lüfte und Sonnenstrahlen durchqueren. Doch die Tapferkeit meiner leiblichen und geistigen Großväter sowie meine große Liebe mahnten mich, zu bleiben.

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Rathenower Tage für Neue Musik. Foto: Stan Baranski

Rathenower Tage für Neue Musik. Foto: Stan Baranski

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Hier vor Ort wird die Neue Musik von vielen als bedrohlich und zutiefst politisch wahrgenommen (ihre Förderung war ja Teil des Marshallplans). Sie gilt als Musik des Feindes – des überheblichen Westens und des Werteverlustes der Großstädte. Sie wird als Beweis dafür gesehen, wie unnütz und ungenießbar das Akademikertum sei. Die wahre Arbeiterklasse will nicht länger für intellektuelle Eliten und bunte Faulenzer arbeiten und Steuern zahlen; sie will demokratisch ihre Stimme erheben, indem sie die AfD wählt. Der braune Geist ist zutiefst proletarisch.

Die Menschen hier lieben Einfachheit, Gleichschritt, Gleichförmigkeit und Gehorsam. Daher ist es wichtig, ihnen zu zeigen, dass wir keine Feinde sind – dass der Elfenbeinturm wohltuenden Schatten spendet und einen wunderschönen Ausblick auf eine gemeinsame Zukunft eröffnet.

Niederschwellige Türen zur hohen Turmtreppe

So ließ ich die Idee zu, in der Havelland Musikschule ein Festival für Neue Musik zu gründen, dort, wo sich die meisten netten Eltern beim Wahlkreuzsetzen verirren, sowie im Garten, wo mein Nachbar einen Trinkbecher mit der Aufschrift „Deutschland Ewige Treue“ liegen lässt. Ich tat das nicht, um Menschen für die Neue Musik zu missionieren oder zu bekehren, sondern um zu dem wunderschönen Elfenbeinturm meiner Geliebten für alle offene Eingänge zu errichten.

Mit Partnern, vereint in der Liebe zur gleichen Geliebten, erschufen wir – mit Zacharias Fasshauer als zweitem Kopf der Doppelleitung und mit Hilfe von Alex Reiff, Caro Rohde, und Richard Millig und anderen Neue-Musik-Partnern aus Frankfurt/Main, Freiburg und Lübeck – ein Festival: die Rathenower Tage für Neue Musik. Wir versuchen, die exklusiven Perlen des menschlichen Geistes den Omas aus der Kirchengemeinde, der unsicheren Jugend im Jugendzentrum, den Putin- oder Weidel-liebenden Kindern, den Ökoaussteiger:innen, den gebildeten Demokratiekämpfer:innen, den überarbeiteten, sich nach der DDR sehnenden Lehrkräften, den müden und den eifrigen Weltverbesserern sowie Weltzerstörern zugänglich zu machen.

Wir kämpfen gegen viele Widerstände – fremde Interessen ebenso wie eigene Ängste und die Abneigung gegen das verschlingende Sachbearbeitertum. Ob wir den Kampf im nächs­ten Jahr gewinnen, weiß ich nicht. Ich weiß aber, dass es wunderschön war, in unserem Garten und im Jugendtreff „Oase“ mit Festivalkünstler:innen und Teilnehmer:innen am Abend den Durst nach aufbauendem Austausch zu stillen – nicht nur nach Kontakten und Karrierepunkten. Denn wir brauchen die Stärkung, die uns die Kraft gibt, das Liebesversprechen der Neuen Musik zu halten.

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