Lange Zeit haben die Europäer – nicht immer nur freundlich – durch ihre Kolonialpolitik die Geschicke der Welt bestimmt. Das PHŒNIX festival in Hamburg wirft einen Blick insbesondere auf die kulturellen Einflüsse, die die Kolonialmächte in der Fremde hervorgebracht haben. Im Festival „Koloniale Interferenzen“ laden sie unter anderem auch Kulturschaffende aus ehemaligen Kolonien ein – unter anderen den Chor „Voices New Zealand Chamber Choir“, der viele unerwartete neue Klänge mitgebracht hat, aber dennoch keine zeitgenössische oder Neue Musik macht.
Phoenix Festival. Foto: Johanna Bock
Leben, Identität und Tod – Koloniale Interferenzen im Hamburger MARKK
Es sind diese ganz seltenen Momente, in denen sich wohl Himmel und Erde zu berühren scheinen, Gegenwart und Ewigkeit. Momente, die aus dem Nichts kommen und in denen man hofft, dass die Zeit plötzlich stehenbleiben möge – Momente intensivsten Erlebens.
Betrachten wir kurz die Schnittstelle zwischen Musik und der Großstadt Hamburg. Alles, wirklich alles, ist zu fast jedem Zeitpunkt erlebbar: das gesamte Spektrum der Musik in allen ihren Facetten, namhafte Ensembles, wunderbare Aufführungsorte und Spielstätten.
Und dann kommt da vom anderen Ende der Welt, aus Neuseeland, ein Chor und stellt mit seiner überirdischen Musikalität, seiner ehrlichen Freude und seiner Authentizität neue Maßstäbe auf – in der tollen Akustik des MARKK, dem ehemaligen Museum für Völkerkunde.
Angefangen hatte alles im vergangenen Jahr, als das PHŒNIX festival erstmals in Hamburg stattfand, ein nicht-kommerzielles Kulturfestival, das sich jedes Jahr aktuellen gesellschaftlichen Themen widmen wollte. Diese sollten, so die Veranstalter, „im Kontext verschiedener Kulturausdrücke verhandelt“ werden. Im ersten Jahr stand das Festival unter dem Titel „Verfemte Kultur lebt!“ und beleuchtete „Kulturausdrücke, die durch den Nationalsozialismus bedroht und angegriffen wurden. Von jüdisch bis queer, von Jazz bis Klassik, von Sinti&Roma bis Dragqueen“. Schwerpunkt dieses Festivals war es, unser kulturelles Erbe intersektional zu betrachten, also etwa jüdisch UND queer oder Klassik UND Jazz.
War das Festival 2024 eine Blockveranstaltung über elf Tage, so entschied man sich dafür, das Festival 2025 über sieben Monate hin laufen zu lassen. „Koloniale Interferenzen“ sind in diesem Jahr das Thema, das sich „mit Hamburgs kolonialer Vergangenheit beschäftigt, indem [das Festival] vielfältige Impulse zur kritischen Betrachtung unserer weißen und euro-zentristischen Kulturproduktion setzt“. Im Blick stehen in diesem Jahr unter anderem die Völkerschauen von Carl Hagenbeck, der Zusammenhang von Queerfeindlichkeit, Religion und Kolonialismus und die koloniale Vergangenheit eines Gebäudes.
Und dann kommt da vom anderen Ende der Welt, aus Neuseeland, ein Chor, der „Voices New Zealand Chamber Choir unter der Leitung von Karen Grylls. An zwei Abenden konnte man zum einen ein gemischtes Chorprogramm unter dem Titel „A View from the South“ und zum anderen eine Adaption von Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem KV 626, „Reimagining Mozart“, des neuseeländischen Komponisten Robert Wiremu.
„Reimagining Mozart“
Der erste Blick in das Programmheft konnte den Zuhörer möglicherweise etwas verstören. Da fanden sich unter anderem ein Satz über „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ von Michael Praetorius und die Motette „Komm, Jesu, komm“ BWV 229 von Johann Sebastian Bach. Die Frage, ob Mitglieder einer fremden Kultur, die nicht deutschsprachig sind, nach Deutschland kommen und hier – quasi als Referenz an das Gastland – die geheiligten Kulturgüter darbieten müssen, schießt einem kurz durch den Kopf. Was dann aber kam, ließ derartig kleingeistige Fragen schnell im Kopf verstummen.
Der Chor „Voices“ konnte sich vollumfänglich als der wahrscheinlich in jeder Hinsicht beste und hörenswerteste Chor in die Ohren und Herzen der Zuhörer singen, den sie je gehört haben: klare Stimmen mit einem geradezu ungeheuren Volumen, glockenreine Sopran- und Altstimmen, Präzision, dynamische Weite und Wendigkeit, … - und am Ende dann eine Aussprache der deutschen Texte, die ein Muttersprachler möglicherweise nur deutlich verwaschenener hinbekommen hätte. Das ganz gepaart mit einer greifbaren Sangeslust und einer in den Gesichtern der Sänger unübersehbaren Sanges- und Lebensfreude. Unüberhörbar auch der Stolz, mit dem die Sänger und Sängerinnen ihre Kultur in die Welt tragen konnten. Ein hochemotionales Konzert mit Menschen, die man – wenn man auf sein eigenes Bauchgefühl hört und ohne sie näher zu kennen – gern als beste Freunde hätte.
„Koloniale Interferenzen“
Wer mit diesem Selbstbewusstsein auf der Bühne steht, singt natürlich auch nicht einfach nur mal so Praetorius und Bach. Beide Sätze waren erste deutliche Hinweise darauf, was „koloniale Interferenzen“ bedeuten könnte. Sicher sind über die Briten, die von 1840 bis 1907 Kolonialherren in Neuseeland waren, viele kulturelle und natürlich auch musikalische Einflüsse in die Kolonie gekommen. Die beiden dargebotenen Werke von Praetorius und Bach sind zeitgenössische neuseeländische Bearbeitungen, Interferenzen, der Originalwerke und der eigenen Māori-Kultur. Eine Interferenz – so lesen wir es im Physikbuch – ist die Überlagerung von zwei oder mehreren Wellen. An den Überlagerungsstellen können sich die Wellen verstärken oder auslöschen.
„Es ist ein Ros‘ entsprungen“ und „Komm, Jesu, komm“ sind in beiden Bearbeitungen quasi in (durchaus größeren) Bausteinen ständig und unverkennbar präsent. Die immer wieder unterschiedlichen Bausteine erklingen am Anfang in ihrer Ursprungsgestalt, werden dann verändert, überlagert und in einer Art emotionaler Verstärkung zusammengeballt. Immer wieder treten dazu klangliche Neuschöpfungen (bis hin zu Luft- und Windgeräuschen) und Worte der Māori-Sprache. Es entsteht ein gut durchhörbarer Klangraum aus verschiedenartigen Klangereignissen, immer sehr nah an klassisch abendländischer Tonalität orientiert.
Musik, das kann man hier sehen und hören, ist nicht nur ein akustisches Darbieten, sondern ein Teil des eigenen Lebens der Sänger – bei jeder Aufführung immer wieder neu. Das macht diese Musik in berührender Weise lebendig. Aber es sind nicht nur die Tonalität und die Sprache, die das neuseeländische Idiom, den Geist der Māori, heraufbeschwören. Der Chor transportiert in seiner Interpretation das Heimatland, den Wind, die Weite, die Vögel, die Rufe der Ureinwohner und sich selbst als Teil dieser Kultur in seinen Konzerten – das ist besonders und entzieht sich glücklicherweise einer exakten verbalen Beschreibung, die hier nur zerstören könnte.
In dieser Tradition steht auch die Neugestaltung von Mozarts Requiem. Für den Komponisten Robert Wiremu ist ein Requiem etwas Heiliges – etwas Heiliges, das durch einen „Call“ (Ruf) einer Sängerin eingeleitet wird, ein Ruf der „die Kluft zwischen den physischen und spirituellen Welten durchdringt, zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit, zeitbegrenzt und unendlich“. Die Heiligkeit bekommt diese Komposition wohl auch durch ein konkretes Ereignis, das hier verarbeitet wird: Der Absturz des Air-New-Zealand-Fluges 901 am 28. November 1979 am Mount Eurebus gehört zu den größten Katastrophen des Landes. Es handelte sich um einen Rundflug über die Antarktis, bei dem auf Grund von Navigationsproblemen 237 Passagiere und 20 Besatzungsmitglieder ums Leben kamen.
„Der Komponist“, so kann man im Programmheft lesen, „nutzt die fiktive Idee, dass ein Passagier des Unglücksfluges zum Zeitpunkt des Absturzes Mozarts Requiem auf einem Kassetten-Walkman hörte. Obwohl ein Großteil der Musik erhalten blieb, wurde das Band beschädigt …..“
Auch hier wieder musikalische Bausteine und Interferenzen. Wiremu verwendet bei weitem nicht die ganze (soweit überhaupt von Mozart fertiggestellte) Komposition. Er nimmt einzelne Stücke heraus, stellt die Reihenfolge der Sätze um, instrumentiert mit einem Streichensemble und Vibraphon. Die Klänge – gerade auch durch das Vibraphon – sind so anders, als man sich Mozart gemeinhin vorstellt, und doch sind sie Mozart in emotionaler Reinform. Wiremu ergänzt Māori-Traditionen, den Call, den Wind und Vogelgesänge (gefährlich, weil sie vom Chor gepfiffen so „platt“ wirken könnten – aber in der Interpretation eher die Zuhörer in eine urwaldähnliche meditative Stimmung bringen). Am Ende des Stückes gedenkt der Chor einer jüngst verstorbenen Mitsängerin. Mozarts „Ave verum“ wird gesungen, das Vibraphon untermalt mit 43 „Glockenschlägen“, für jedes Lebensjahr der Verstorbenen ein Schlag. Gänsehaut pur – 60 Minuten lang!
Weitere Informationen:
- Die nächsten Veranstaltungen im Rahmen des PHŒNNIXX festivals finden am 14.11. um 19:30 und am 16.11. um 18 Uhr im MARKK, Hamburg, Rothenbaumchaussee 64 statt. Ein Cast aus klassischen Opernsänger*innen, Live-Musiker*innen und der Berliner Elektrik-Diva Malonda präsentiert Richard Wagners Oper „Der fliegende Holländer“ in einem von Emanuel Meshvinski arrangierten neuen Klagewand. (https://phoenix-festival.de/event/der-fliegende-hollaender-im-markk/)
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