[…] Den stärksten Eindruck inmitten des Wittener Novitätenrummels, der unter den 41 aufgeführten Werken zehn Uraufführungen und fast doppelt so viele deutsche oder westdeutsche Erstaufführungen präsentierte, machten drei Werke sowjetrussischer Komponisten, die sich wohl noch am ehesten die Zeit lassen, ein Stück reifen zu lassen und in einem Arbeitsprozeß daran zu feilen, und nicht, wie lhre westlichen Kollegen jede vermeintliche Idee sogleich in einer dann meist unausgegorenen musikalischen Miniatur ausspielen.

Vor 50 Jahren: Wittener Tage für neue Kammermusik
Edison Denissows Klaviertrio läßt in der Geigen- und Cellostimme serielle Linien langsam herabgleiten, das Klavier webt sich dazwischen, ohne die Streicher akkordisch abzustützen. In einem kaum merklichen Transformationsprozeß wandeln sich diese Linien, die jeweils durch Atempausen voneinander abgesetzt werden. Der zweite Satz, ein Presto, bietet gleichsam die Durchführung des Eingangssatzes. Kürzere Phrasen, abruptere Ansätze, Auflösungserscheinungen, die dann im dritten Satz zum Zusammenbruch der Formen führen. Der Schlußsatz, wie der erste ein Lento, rekapituliert dann noch einmal das Ausgangsmaterial, aber nun leiser, gemessener, con sordino: eine Revokation in Anführungszeichen, in dem vollen Bewußtsein, daß sich die Geschehnisse der schnellen Sätze nicht ignorieren lassen.

Vor 50 Jahren: Wittener Tage für neue Kammermusik
In seinem „Hymnus I“ hat Alfred Schnittke, ein Russe deutscher Herkunft, einen alten Kirchenchor des 19. Jahrhunderts für Violoncello, Harfe und Pauken variiert. Changierende Chromatik festigt sich zur Diatonik, drei Instrumente unterschiedlichsten Charakters beginnen zu korrespondieren. Sowohl in ihrer Materialanalyse wie auch in ihrer instrumentalen, oft punktualistischen Ausgestaltung übt dieses Werk eine leise, aber eindringliche Faszination aus.
Wie schon mit Denissows Stück erspielte sich das VIDOM-Trio, drei im vergangenen Jahr nach Israel ausgebürgerte Russen, auch mit Alexander Rabinowitschs „La belle musique No. 2“ den nachhaltigsten Interpretenerfolg des Kurzfestivals. Sichtlich genossen die drei jungen Musiker die vitalistische Attitude, in der Rabinowitschs Stück geschrieben ist: ein Tummelplatz, auf dem sie gleichermaßen ihre romantische Virtuosität wie ihre Freude an wildem Zeitgenossentum austoben konnten.
Reinhard Beuth, Neue Musikzeitung, XXIV. Jg., Nr. 3, Juni 1974
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