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Silvia Tarozzi und Cassandra Miller bei ihrem „Bismillah Meets The Creator in Springtime“ – später lieferten sie dazu noch ekstatisches Singen, Sirren und Kreischen. Foto: WDR / Claus Langer

Silvia Tarozzi und Cassandra Miller bei ihrem „Bismillah Meets The Creator in Springtime“ – später lieferten sie dazu noch ekstatisches Singen, Sirren und Kreischen. Foto: WDR / Claus Langer

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Ehrlich am Ende

Untertitel
Paradigmenwechsel bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik 2025
Vorspann / Teaser

Die gute Nachricht ist zugleich eine schlechte: Neue Musik tickt nicht mehr anders als die Gesellschaft. Statt im berüchtigten Elfenbeinturm der Avantgarde zu stecken oder sich mit dem Aktivismus der Millennials anzumaßen, die Finger in die Wunden der Gesellschaft zu legen, wollen die Musikschaffenden der jüngsten Generation Z die Welt nicht mehr retten. Die Gen-Z oder „Zoomer“ wissen um die gegenwärtigen Kriege, Krisen und Katastrophen, aber auch um die eigene Hilf- und Perspektivlosigkeit angesichts der Tragweite der Probleme. Sie sind mit Smartphone und sozialen Medien aufgewachsen, permanent online und vernetzt. Sie lehnen die Unterscheidung von U- und E-Musik ab und orientieren sich stattdessen an Games, YouTube, Selfie, Dancefloor und Pop. Statt für Fortschritt, Zukunft oder gar Ewigkeit machen sie lieber Musik für das Heute. Sie wollen spielen, unterhalten, feiern, Spaß haben, wirken harmonie- und gefallsüchtig, und kommen damit dem allgemeinen Bedürfnis nach Entertainment und Eskapismus entgegen. Das Ende der Welt vor Augen macht man sich ehrlich und legt alle überzogenen Wirkungsansprüche, Besserwissereien und Visionen ab, die einst die alte Neue Musik der Nachkriegsavantgarden und Boomer mit ihrer Intellektualität, Material- und Ideologiekritik verfolgte. Die jungen Desillusionierten leben und arbeiten dagegen nach der ironisch-verdrehten Redewendung des bald neunzigjährigen Helmut Lachenmann: „Die Lage ist aussichtslos, aber nicht ernst.“

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Selten war bei einem Festival der Neuen Musik der Wechsel von Generationen, Themen, Narrativen und Wertmaßstäben deutlicher erlebbar als jetzt bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik 2025. Zum Abschluss seiner kaum dreijährigen Festivalleitung bot Patrick Hahn ein Programm mit viel oberflächigem Entertainment, dessen gewollte Lustigkeit, lässige Unambitioniertheit und kantenloser Schönklang umso aggressiver mit alten Konzepten von Kunstwerk, Avantgarde, Agency und Widerständigkeit kollidierte, um sich als beiläufige Dekonstruktion dieser ästhetischen Kategorien entsprechend hartnäckig ins Nachdenken einzuschrauben. Die offensive Anbiederei an Popkultur entweder nur doof oder total cool und witzig zu finden, wäre zu einfach, denn es ist komplizierter, nämlich dialektisch. Gerade Stücke, die demonstrativ keine Neue Musik mehr sein wollen, erweisen sich dadurch zuweilen dennoch als eben solche.

Tanz auf dem Vulkan

Im Vergleich zu den Vorjahren waren die zehn Konzerte diesmal weniger gut besucht. Im Foyer des Saalbaus Witten gab es bis auf zwei Ausnahmen leider keine Stände von Verlagen mit Noten, Büchern, Zeitschriften und CDs. Mit 13 Komponisten und 11 Komponistinnen – darunter viele Debüts – waren die Geschlechter etwa gleich vertreten. Auf ungewöhnliche Orte und musikalische Aktionen im Stadtraum wurde verzichtet. Stattdessen spielte die Musik wie üblich in Saalbau, Werk-Stadt, Märkischem Museum und Steiner-Schule. Selbst medial erweiterte Projekte füllten lediglich das traditionelle Konzertformat mit starrer Bestuhlung und Bühnenzentrierung. Einzige Ausnahme bot eine Performance von Johannes Kreidler. Während der vormalige Leiter Harry Vogt das Festival bis 2022 nur lose an Themen ausrichtete, zog sich das aktuelle Motto „Upcycling“ substantiell durch die Mehrzahl der zwanzig Uraufführungen.

Gleich im Eröffnungskonzert prallten Welten aufeinander. Das Ensemble Musikfabrik war seit drei Jahrzehnten erstmalig wieder in Witten zu Gast. Die Programmauswahl verantwortete jedoch das intermediale Ensemble Scope mit Dirigentin Friederike Scheunchen. Dass Neue Musik ihre Bubble erkennt und sprengen will, ist ein wichtiger Impuls und wurde seit den 1970er-Jahren immer wieder mit Popmusik versucht. Aktuell verdichtet sich dieser Trend womöglich zum Paradigmenwechsel. Zur aufgekratzten Humpty Dumpty-Lustigkeit von ­„Scrunchy Touch Sweetly to Fall“ des momentan allgegenwärtigen Alex Paxton spulte ein dreigeteiltes Video bunte Bildchen wie auf den Drehscheiben eines Spielautomaten ab: Waffeleis, Marmeladentoast, Gummidrops, Pizza und sonstige Leckereien. Hinzu kamen großflächige Tableaus mit allerlei Blumen, Vögeln, Zeichnungen. Wie der Endless-Feed beim Scrollen auf dem Smartphone prasseln die Bildschnipsel in schneller Folge vorüber, inklusive Feedback-Schleifen. Das bliebe bloß eine naive Affirmation von Warenwelt und Konsumismus, brächten kleine Skelette, Panzer und ein gellender Schrei nicht wenigstens ein bisschen Irritation in die überschäumende Happiness.

Das durchinszenierte Konzert glitt nahtlos weiter zur dystopisch-düs­teren Elektronik von Lucia Kilgers „Shavaryon“ und den noisig verzerrten Streichquartett-Drones von Jessie Marinos „NO SALT“. Dazu bewegte sich Tänzerin Ria Rehfuss mit kubistischen Applikationen an den Gliedmaßen über Bühne und Video. Clemens K. Thomas recycelte in „Take Me to Funkytown“ den gleichnamigen Elektro-Popsong von Lipps Inc. aus dem Jahr 1980 in Kombination mit aktuellen YouTubern, die süffisant über brutale Folter- und Gewaltvideos labern. Zwischen den Clips sieht man den Komponisten im Selfie-Video mit – bewusst? – grottiger Theatralität und Do it Yourself-Ästhetik an seiner Workstation sitzen, recherchieren, hören, schauen und sich vor Angst unter dem Schreibtisch verstecken. Das grellste Mashup bot schließlich Nicolas Berges „Terminally Online Aliens“. Passend zum Konzerttitel „#Filter“ wurden Audio- und Videosamples von Barock, Klassik, Pop, Techno und Growling zusammen mit der live spielenden Musikfabrik durch digitale Filter klanglich und visuell manipuliert. Der Komponist sang beispielsweise mit infantilem Mickymaus-Stimmchen und appliziertem Katzengesicht. Auf die ernüchternde Ansage „The party is officially over“ folgte dann ein umso trotzigeres Feuerwerk an Glitch- und Hyper-Pop samt flackernder Diskokugel und Johlen im Saal: Tanzend geht die Welt zugrunde.

Schiffbruch mit Zuschauer

Eine apokalyptische Perspektive bezogen die „Songs for the End of the World“ von Sara Glojnarić. Die 1991 geborene und gegenwärtig auf sämtlichen Festivals präsente Kroatin kreierte das Format eines sowohl live im Konzertsaal über Kopfhörer als auch über das Kulturradio WDR hörbaren Podcasts. Thema ist der Untergang der angeblich unsinkbaren Titanic 1912, der zum Inbegriff der Katastrophe der Moderne wurde und den nicht zuletzt Hans Blumenberg in „Schiffbruch mit Zuschauer“ (1979) thematisierte. In der Rolle der Podcasterin erörterte Sopranistin Sarah Maria Sun das Unglück mit sanfter Stimme. Wer wurde gerettet? Wer nicht? Warum? Welche Musik spielte die Kapelle bis das Schiff im eiskalten Atlantik versank? Wer waren die Musiker? Was trieb sie an? Hingabe, Pflichtgefühl, Todesverachtung? Das Kuss Quartett spielte dazu eben jenen letzten Walzer und die Hymne „Nearer my God to Thee“, elektronisch verhallt, harmonisiert, gehäckselt, geloopt.

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„My Heart Will Go On“ singt ­Sarah Maria Sun bei den Tagen für neue Kammermusik Witten 2025. Rainer Nonnenmann beobachtet viel Popaffinität, aber keine Zukunftsvisionen. Foto: WDR/Claus Langer

„My Heart Will Go On“ singt ­Sarah Maria Sun bei den Tagen für neue Kammermusik Witten 2025. Rainer Nonnenmann beobachtet viel Popaffinität, aber keine Zukunftsvisionen. Foto: WDR/Claus Langer

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Partizipativ wurde es, als Quartett und Publikum sich der Reihe nach Musik für die eigene Beerdigung wünschen durften: Bach, Mozart, Beet­hoven, Mahler, John Miles, Talking Heads, Udo Lindenberg. Den krönenden Abschluss gab Céline Dion mit dem – allein im Internet eine Milliarde Mal gestreamten – Titelsong des Hollywood-Streifens „Titanic“. Im Konzertsaal saß man dazu wie auf der sinkenden Titanic, umspült von watteweicher Lounge-Sound-Atmo. So schön harmlos ist die Hitparade auf den eigenen Tod und das Ende der Welt. Denn Kitsch ist stärker als Ironie. Den fatalen Eisberg hatten Akteure und Publikum da freilich längst ebenso vergessen wie die Verkettung multipler Faktoren, die das gegenwärtige Untergangsszenario befeuern. Nur wer die Kopfhörer mal kurz anhob, saß plötzlich im Trockendock der in Wirklichkeit kargen Tönchen. Und wer sich die Scheuklappen wieder aufsetzte, cruiste erneut munter auf sanften Wellness-Wellen: Denn solange Mutterschiff Erde nicht gesunken ist, amüsieren wir uns weiter.

Geister der Vergangenheit

Das Thema „Upcycling“ hatte diverse Varianten. Das transkulturelle Trickster Orchestra aus Berlin platzierte Kompositionen von Leiterin Cymin Samawatie, George Lewis und Ondrej Adámek zwischen Improvisationen mit europäischen Instrumenten sowie Kanun, Koto, Nay und Scheng. Das Schwanken zwischen Folklore und Neuer Musik folgte allerdings stets demselben Schema: ein Instrument beginnt, andere kommen dazu, man steigert und kulminiert, bricht ab, ein anderes Instrument bleibt solis­tisch übrig, das Tutti tritt wieder hinzu, und so weiter. Ming Tsaos „Plus or Minus“ recycelte nicht nur Stockhausens Prozesskompositionsmethode „Plus-Minus“ von 1963, sondern auch Material und Klänge von dessen Klavierduo „Mantra“ von 1970. Das GrauSchumacher Piano Duo spielte die virtuosen Figuren und Ostinato-Schleifen des gut einstündigen Stücks mit sagenhafter Brillanz, wozu das SWR Experimentalstudio elektronische Klänge perfekt über Transducer ins Innere der Klaviere mischte. Michael Finnissy bot Weltflucht durch neo-gregorianische Klostergesänge für das Vokalsextett Exaudi. Und Johannes Kreidler führte im Märkischen Museum durch die Ausstellung und Performance „Witten Seufzer“ mit dem ­Death-Metal-Growler Giordano Bruno do Nascimento. Zu sehen und hören gab es lauter Seufzer, entweder grafisch verbildlicht und als Sonagramme vom 3D-Drucker ausgeworfen und zur Klagemauer geschichtet oder durch mechanische Schaber, Umwälzer und automatische Kugelwippen verklanglicht. Auch das Publikum durfte herzhaft mitseufzen. Am Schluss trugen die beiden Akteure – wie einst Atlas – die schwer lastende Kugel des Weltschmerzes. Doch es war ja nur Spaß für Jung und Alt.

Dann war da noch Porträtkomponistin Cassandra Miller. Die 1976 geborene kanadisch-britische Musikerin war bislang in Deutschland kaum bekannt. In Witten präsentierte sie jetzt gefällige Klangfarbenmusik. Wie Stockhausens „Stimmung“ ließ sie das Vokalsextett Exaudi einen Septnon-Akkord rauf und runter variieren und das Obertonspektrum durch drei Streicher in Mikrointervalle fortsetzen, ähnlich dem „Sonnengesang“ der kürzlich verstorbenen Sofia Gubaidulina. Millers Streichquartettsätze „Leaving“, „Warblework“ und „Thanksong“ basieren ebenfalls auf umspielten Dur- und Moll-Akkorden beziehungsweise dem Gesang von Drosseln und dem Anfang von Beethovens „Heiligem Dankgesang“. Zwischen wogendem Wohlklang des Bozzini Quartetts überraschte lediglich „Life“ mit schroff-dissonantem Cello-Part gegenüber sanft ein- und ausschwingenden Schwebeakkorden. Eine warme Klangdusche bot das von Miller zusammen mit Silvi Tarozzi geschriebene und aufgeführte „Bismillah Meets The Creator in Springtime“. Das Klavier gab hier mit dem Adagio aus Bachs Cembalo-Bearbeitung von Marcellos Oboenkonzert d-Moll den Puls vor, zu dem sich das im Theatersaal paarweise um das Publikum herum platzierte WDR-Sinfonieorchester zu immersivem Flirren und Orgeln steigerte. Die beiden Solistinnen lieferten dazu ekstatisches Singen, Sirren, Kreischen und zugespielte Babylaute. Außerdem bot das Abschlusskonzert unter Leitung von Elena Schwarz eine differenzierte Farbflächenklangmalerei von Lisa Illean sowie von Malika Kishino das rhythmisch kraftvolle und gestisch pointierte Cellokonzert „Quinta Materia“.

Zukunft war gestern

Alle Kunst hat mit Gegenwart zu tun, wie direkt oder vermittelt auch immer. Doch Musik wird affirmativ, wenn sie nur faktisch Gewesenes und Gegenwärtiges abbildet, remixt, recycelt, statt – wie kurz- oder weitsichtig – auch einen Vorschein auf eine mögliche andere, erhoffte oder befürchtete Welt zu entwickeln. Die Beschränkung aufs Hier und Jetzt macht leicht betriebsblind, beliebig und langweilig, weil die Häufung und Steigerung von Quantitäten nicht automatisch zu anderen Qualitäten führt, sondern sich bei gleichbleibendem Erfahrungs- und Informationsgehalt schlicht abnutzt: noch mehr Schönklang, noch mehr Hall, noch mehr Pop, noch mehr Glitter. Vor allem aber verkürzt solcher Positivismus die Musik und menschliche Existenz auf bloße Präsenz.

Einst suchte Neue Musik das Nicht-Identische, ganz Andere, Utopische, um Differenzerfahrungen zu ermöglichen. Es ging um Fortschritt, Genauigkeit, Sensibilisierung und kritische Analyse zum Zweck der Erkenntnis und gegebenenfalls Veränderung exis­tierender Verhältnisse. Neben der Überfülle an Content aus Geschichte, Gegenwart, Pop und Internet wären heute vielleicht gerade auch diese Ideen der historischen Avantgarden wieder ein „Upcycling“ wert. Doch momentan steht das nicht auf der Agenda. Stattdessen orientiert sich die jüngste Generation am Gegebenen, Gängigen, Naheliegenden, Populären, liebäugelt mit Zeitgeist, Modetrends, Mainstream. Sie folgt damit womöglich derselben „Ambiguitätsintoleranz“, die Thomas Bauer in seinem Buch „Die Vereindeutigung der Welt“ (2018) diagnostizierte und die aktuell beim GEMA-Reformvorhaben in die geplante Abschaffung der Unterscheidung von E- und U-Musik mündet. Der mehr oder minder oberflächlich oder hintergründig zur Schau gestellte Unterhaltungswert hat indes auch seinen Erkenntniswert. Neue Musik macht sich und andern nichts mehr vor: sie ist am Ende ehrlich, und ehrlich am Ende.

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