Hauptrubrik
Banner Full-Size

Aufreibung und Lebens-Kitzel pur

Untertitel
Die zehn von Seiten der nmz für den Grammy nominierten Pop-Platten für März 2006
Publikationsdatum
Body

Die Grammys sind durch und man darf feststellen: Die Veranstaltung unterscheidet sich kaum von der deutschen Bambi-Verleihung. Stets dieselben für die ewig gleiche Musik. Dauernd neue Kategorien, um politisch korrekt zu bleiben und die Liebe unter allen zu verteilen. Und so wird die Verleihung 2020 eine Woche dauern. Politisch korrekt auch, dass die Klassik-Grammys online bekannt gegeben werden, oder? Nun denn. Auf in die Präsentation.

Norwegen schickt gen Ende des Winters einen weiteren Singer/Songwriter. Robert Post heißt er samt Album; zugestellt wird Pop britischer Prägung, nordischer Grundmolligkeit und eisiger Weite. Die Vorbilder nennen sich Beatles, sicher schimmern rockige Töne eines Brendan Benson durch, aber Post findet einen klaren Adressaten: den erwachsenen Pophörer, dem Querverweise auf die Beatles immer reichen werden. Wilson jr. überraschen mit einem Maiglöckchen-Album. Emorock und alternativer Gitarrenrock, der sich mit deutschen Texten angenehm und vor Energie fröstelnd um die labile Winterschale schlingt. Das befriedigt unheimlich, insbesondere weil man sich nicht scheut Visionen durchzusetzen. Ein wunderbares Rockstatement mit glühenden Gitarren. Die wahre Kunst der Musik scheint bei der Kompilation Future Folk zu glänzen. Geschickt lässt man im Titel den Begriff „Folk“ fallen. Tollpatschig hechelt man als Hörer durch die Platte und möchte ihn nicht finden, den Folk der Zukunft mit Wurzeln des Perfekts. Versteckt hat man ihn hinter elektronischen Phrasen und verhaltenem Postrock. Eine kognitive Collage mit Künstlern wie Colleen, Caribou, Khonnor oder März.

Philipp van Endert samt Trio präsentiert wieder eine Platte des Leichtseins. Jazz mit Dramatik und offenem Ende. Klar geht Endert auf Nummer sicher. Seine alten Wege verlässt er nicht. Doch die fest gezurrten Wege aufs Neue schier perfekt zu präsentieren, darf man honorieren. Komposition, Emotion, Intention vereinen sich in diesem homogenen Jazz-Album. Ein alter Hase, der Philipp van Endert. Dass Glasgow mit Franz Ferdinand, Snow Patrol oder Belle & Sebastian für Furore sorgte, ist bekannt. Ähnlich unkonventionell und oft verrückt agierend sollten nun die Glasgower Vorstädter My Latest Novel dazustoßen. Es ist Pop. Doch in Manier der schottischen Songwriter. Mit Akustikgitarren, Fiedeln, Xylophon, Piano und unendlich romantischem Stoizismus. Diese Traurigkeit muss man sich gönnen.

aus Seattle rührte mit dem ersten Album „Leaving Not Arriving“ mächtig in der Nachgrunge-Ära, allerdings mutierte die Band zum Zweimann-Projekt, so dass Paul Hiraga als musikalischer Dirigent und Produzent Tucker Martine nun die Fäden in der Hand halten. Zu hören sind auf „Like You Believe it“ monströse Mauerwerke aus Ruhe, Introvertiertheit und tröpfchenweise Musikexplosionen. Dynamik ist wichtig, dennoch mangelt es keinem Song an Tiefe. Ein Album, das oft an REM erinnert, aller-dings mit vom Druck gefüllten Ohren. Bitte abstürzen mit „Downpilot“.

aus Hamburg sind mit den Widrigkeiten der Branche vertraut. Vertrieb weg, Verträge weg, Plattenmanager weg, Bandmitglieder weg. Also alles irgendwie weg. „Public Transport“ steht allerdings nichts im Weg. Ein Album, das den Weg frei räumt. Ihre Popmusik schert sich wenig um Discobeats und Independent-Rockgitarren. Sie koalieren geschwisterlich. Hände werden gereicht, eine kleine Dosis Seelenschmerz, der sich eher zur Weltbeschreibung dreht, schwingt konstant mit. Als Bonustrack gibt es bleibende Popmelodien, die man noch ein paar Stunden später pfeift. Taugt richtig gut.

, die großartige Jazz-Sängerin aus Thüringen mit Wahlheimat Berlin, knallt ein Hammeralbum auf den fast österlichen Gabentisch. „Love… And Then“ ist Intimität, Aufreibung und Lebens-Kitzel pur. Die von Marque Lowenthal und Finn Wiesner komponierten Songs zeugen von Klasse, Lyambiko reiht sich da gerne ein. Ein nicht antiquiertes Kuschel- Jazzalbum, dem nichts fehlt. Dem nur der Makel anhaftet, eine weitere Version des Klassikers „Over the Rainbow“ bereit zu halten. Das ist öde und phantasielos.

Scott Stapp könnte von der Pop- Grunge-Band Creed bekannt sein. Dort sang er, bis man sich nicht mehr lieb hatte und die Band sich auflöste. Trotz 25 Millionen verkaufter Alben, Grammy und Platinpreise. Nun zog er sich in sein Studio zurück, holte Freunde von Sonic Youth, Killing Joke oder Cure dazu und vollzog die Abnabelung von Creed. Was Stapp hier abliefert, ist mitleidsloser, zorniger Postgrunge. Harte Gitarren dominieren, der Gesang tendiert in Richtung wütender Eddie Vedder (Pearl Jam). Scott Stapp untermauert seinen Ruf als grandioser Rock-Songwriter, wenngleich die Pop-affinen Tendenzen von Creed in keiner Weise mehr vorhanden sind. Gut so.

Das dritte Album der holländischen Band mit der wunderbaren Sängerin Jacqueline Govaert muss als Scheideweg-Album gesehen werden. Die ersten beiden Alben wurden mit unbändigem Liveeinsatz beworben und ernteten auf allen Festivals Applaus, Beifall und Kopfnicken. Nur merkantil dürfte sich das noch nicht so rechnen.

„What Are You Waiting For“ hat sich definitiv zum Höhepunkt der Band entwickelt. Rockmusik mit Gitarren, mächtigen Refrains, dezenten Soundteppichen und Ohrwurmcharakter. Krezip haben sich entwickelt, vermeiden es fachgerecht nach amerikanischen Vorbildern zu klingen und erarbeiteten sich mit dem dritten Album ein glasklares Profil. Daumen hoch für diese talentierte Band auf dem Weg nach oben.

Diskografie

Robert Post – Robert Post (Mercury, 31.3.06)
Wilson jr. – Introinvasion (Consolidate Records, 24.3.06)
V.A. – Future Folk (Stereo Deluxe, 24.2.06)
Philipp van Endert Trio – Khilebor (JazzSick Records, 24.3.06)
My Latest Novel – Wolves (Bella Union, 03.3.06)
Downpilot – Like You Believe it (Tapete Records, 31.3.06)
OCKER – Public Transport (Cargo Records, 24.2.06)
Lyambiko – Love… And Then (Sony Classics & Jazz, 24.2.06)
Scott Stapp – The Great Divide (SonyBMG, 03.3.2006)
Krezip – What Are You Waiting For (SonyBMG, 31.3.06)

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!