„Miles Davis Quintet. 1965– ‘68“ heißt eine Box, ohne die jede Jazz-Sammlung unvollständig ist. Die Veröffentlichung des Labels „Music On CD“ basiert auf einer 1998 erschienenen Columbia-Box mit allen Studioaufnahmen der legendären Band.
Miles Davis und sein klassisches Quintett
„The Quintet“ wird seine Gruppe der Jahre 1965 bis 1968 meist nur genannt – ein Ehrentitel, der auch dem Miles Davis Quintett mit John Coltrane zustünde. Manch einer bevorzugt sogar das direkte Vorläuferquintett mit dem Tenorsaxophonisten George Coleman, auch wenn das nur hinter vorgehaltener Hand und mit Augenzwinkern eingestanden wird. Andererseits sind die vorliegenden Aufnahmen nicht ohne Grund einzigartig: Kaum je zuvor war Miles’ Muse so abenteuerlustig. Zu jeder Zeit war seine Musik zukunftsweisend, doch nie scherte sich Davis weniger um Publikumswirksamkeit als zu der Zeit mit dem Saxophonisten Wayne Shorter, dem Pianisten Herbie Hancock, dem Bassisten Ron Carter und dem Drummer Tony Williams. Das bedeutete von 1965 bis 1968 Spannung und Experimentierfreude pur. Erstmals komponierten alle fünf Bandmitglieder, und zwar so eigentümlich, dass Davis damals live eine ausgewogene Diät aus Standards und Original-Oldies präsentieren zu müssen glaubte. (Nachzuhören ist die „All Blues – All Of You-Kost“ etwa in den 1965er-Aufnahmen aus dem „Plugged Nickel“ oder den Bootleg Series. Die Studioaufnahmen erzählen nur einen Teil der Geschichte!)
Im Studio wies das Quintett den Mittelweg zwischen boppigem, modalem Modern Jazz und Free Avantgarde – mit Originals, die den Musikern harmonisch, melodisch, rhythmisch und formal neue Wege wiesen. Ein Balance-Akt, denn es hieß fortschrittlich zu sein ohne den radikalen Weg zu beschreiten, den Freund und früheres Bandmitglied Coltrane ging. Die Improvisationen blieben tonal, auch wenn die Stücke selbst bisweilen recht abstrakt waren, und der Fuß musste mitwippen können, auch wenn es polyrhythmisch zuging. Ironischerweise empfand man diese Art Musik erst zwei Jahrzehnte später als typischen Gegenwartsjazz, als Alternative zur radikalen Avantgarde, während sie in den 70er-Jahren vom Jazzrock übertönt wurde, nicht zuletzt von allen Mitgliedern dieses Quintetts selbst…
Chronologisch die Box durch die Entwicklung des Quintetts zu verfolgen ist ein Hörabenteuer: Auf der Suche nach dem Ungewohnten bewegen sich die Fünf immer ein Stückchen weiter weg von eingefahrenen Bop-Gleisen und sind gleichzeitig darauf bedacht, die roten Fäden Tonalität und Swing nicht zu verlieren. Der Weg beginnt noch relativ schlicht im Rahmen der vom modalen Jazz eröffneten Freiheiten. Traumwandlerisch sichere Interaktion gewährt dann in potenziellen Gestrüppen Kohärenz, in denen sich andere heillos verfranst hätten. Wenn dieses hervorragend integrierte Quintett gegen Ende seines Bestehens wieder zu einer groovigeren, neuen Simplizität findet, die direkt zum Jazz-Rock überleitet, ist tatsächlich ein „Circle In The Round“ vollführt, wie zufällig eine der Aufnahmen heißt.
In der schönen 6-CD-Box im Hochformat mit einem umfangreichen Booklet sind nicht nur all jene legendären Aufnahmen dieser Band zusammengefasst – die Alben „E.S.P.“, „Miles Smiles“, „Sorcerer“, „Nefertiti“ und „Miles in The Sky“ vollständig und der Besetzung entsprechende Partien aus „Filles De Kilimanjaro“ und „Water Babies“ –, die ohnehin in jeder Davis-Sammlung stehen. Besonderes Interesse verdienen 13 zusätzliche Aufnahmen, die nicht auf diese Alben kamen. Darunter finden sich Kompositionen, die Davis seinen Sidemen zur Erstveröffentlichung überließ, etwa Hancocks „Speak Like A Child“. Alternate takes zeigen, dass manches kunstvoll ausgetüftelte Werklein sich keineswegs auf dem ersten Anblas abspulen ließ. Das lässt sich freilich noch besser an der Box „Freedom Jazz Dance“ (Bootleg Series Vol. 5.) studieren, die auch noch Gespräche und Anspielproben enthält, die bei dieser „vollständigen“ Ausgabe noch fehlen.
Die Ergebnisse der musikalischen Erkundungen dieser Spitzenband klingen 60 Jahre später so selbstverständlich und klassisch, dass man versuchen sollte, die Jahre dazwischen im Geist auszublenden. Wie wohltuend klischeefrei muss diese Musik damals geklungen haben! Da Spätere die Spielweise dieses Quintetts zum Ideal erhoben und damit den hier erreichten Entwicklungsstand des Jazz sozusagen eingefroren haben, erleben wir in dieser Werkausgabe die Geburtstunde des heutigen Mainstreams. (Music On CD)
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