Alles hat seine Zeit. Das gilt auch für Pop-Karrieren. Neil Young wurde in den 70er-Jahren vom Chef seiner Plattenfirma wegen „absichtlicher Unkommerzialität“ verklagt. Prince verärgerte die Major Companies durch ungebremste und Markwert schädigende Produktivität.
Thom Yorke scheint solche Probleme nicht zu kennen. All sein Pop-Bemühen läuft seit Jahren darauf hinaus, die Erwartungen von Produzent und Publikum zu enttäuschen – und doch landen die verquer-avantgardistischen Song/Sound-Collagen seiner Band Radiohead regelmäßig auf den vorderen Plätzen der internationalen Charts. Seine Lieder sind düster, künden nicht von Sonnenstudio, sondern von Sonnenfinsternis in der Welt und in den Herzen. Aber das scheint Thom Yorkes immer zahlreicher werdende Fans genauso wenig zu stören wie die Tatsache, dass er die „Ästhetik des geringsten Widerstands“, die für FAZ-Autor Richard Kämmerlings das Geheimnis von Stromlinien-Pop ist, konsequent meidet und es lieber mit der Erhöhung des Schwierigkeitsgrads versucht. Mit „Radiohead“ wurde spätestens seit den zermürbend-katastrophischen Milleniums-Sessions, die schließlich in die kultigen Kommerz-Alben „Kid A“ und „Amnesiac“ mündeten, der Anti-Hedonismus zum Mainstream glückseliger Dechiffrier-Syndikate, die in Thom Yorkes komplexen Sound-und-Semantik-Universen Erfüllung und Erleuchtung suchten. „Hail to the Thief“ (bei EMI), das neueste Radiohead-Album, dessen Titel auf George W. Bushs Stimm-„Diebstahl“ bei den umstrittenen US-Präsidentschafts-Wahlen 2000 anspielt, wurde schon vor Erscheinen vielberaunt: Es sollte „back to the roots“ gehen, roher, wüster Gitarrenrock mit klarer politischer Aussage sein. Quelle solcher Vermutungen war ein Internet-Auftritt der Band, der sie bei der Arbeit im Studio zeigte. Tatsächlich wurde „Hail to the Thief“ verhältnismäßig rasch in nur acht Wochen produziert. Das Album enthält außerdem einige Songs, die wie Wiedergänger funktionieren: Man glaubt sie schon immer zu kennen und sich bereits beim ersten Hören an sie zu erinnern. Und auch die Klänge sind diesmal, scheinbar zumindest, weniger synthetisch. Bereits der Opener mit dem paradoxen Titel „2 + 2 = 5“ beginnt mit dem Ur-Geräusch des Rock, das durch das Einstöpseln der Gitarren entsteht. Aber Thom Yorke hat nicht reduziert; er ist nicht simpler geworden, ganz im Gegenteil: er bietet alles auf, das vollständige „Radiohead“-Labyrinth, in dem weniger reale Gefahren als vielmehr diffuse Ängste und Hirngespinste aller Art lauern. „Hail“ ist beides: pure Apokalypse und zugleich auf eine euphorisierende Weise romantisch, auf der Suche nach Szenarien jenseits der vertrauten Bilder und Architekturen und nach Tönen, Soundscapes, die man unerhört nennen müsste, wenn das nicht für Thom Yorkes Anliegen zu bieder und konventionell klänge. Thom Yorke ist längst eine Art Jorge Luis Borges des Pop, der Groß-Klangmeister eines berückenden Sound-Kosmos, von dessen Details man oft nicht sagen kann, ob er sie „nur“ zitiert oder gerade erzeugt. Thom Yorke scheint sich seiner Identität so sicher, dass er sie permanent zerfetzt und verschleudert – und doch in jeder Maske und hinter jeder Rolle stets als der erkennbar bleibt, der an einem phantastischen Pop-Entwicklungsroman strickt, in dem das Neue, die Erfindung als Gedächtnisfunktion erscheint: „as time goes by“.
Dave Gahan hat ein anderes Problem. Mehr als 20 Jahre stand er in Leder, mit Tattoos und großen Gesten im Scheinwerferlicht; Millionen verehrten ihn als Vorsänger des Pathos-Pop und doch kam er sich bei Depeche Mode immer nur als „his master’s voice“ vor, als Stimm-Puppe des Sound-Tüftlers Martin Gore, als glänzende Entertainment-Maschine ohne eigene Identität. Dave Gahan hatte alles, was andere sich wünschen, er selbst aber vermisste so sehr das Elementarste: ein bisschen Respekt, wie er das nennt, Anerkennung, Gehörtwerden, Dasein, dass seine leere Popstar-Existenz vor ein paar Jahren beinahe im ultimaten Flash einer Überdosis implodiert wäre. Jetzt rächt er sich an Martin Gore für dessen Verweigerung durch ein Solo-Album („Paper Monsters“ bei Mute), das bekenntnishaft ein großes Thema variiert: den Wunsch, wahrgenommen zu werden; und die Rettung durch eigene Kreativität. Das Album, das Sigur Ros-Produzent Ken Thomas mitdesignt hat, ist nie peinlich. Es handelt wie die längst legendären Depeche-Mode-Produktionen von großen Gefühlen, aber nicht als Mythos oder Messe, sondern als sehr persönliche Suche.
Martin Gore, der als Pop-Überich, als stummer, das Gehör verweigernder Partner durch Dave Gahans Album und alle seine Interviews gespenstert, hat fast zeitgleich ebenfalls sein erstes Solo-Album (nach einer EP vor vielen Jahren) vorgelegt, das auch mit Identität zu tun hat, aber ganz anders als bei Thom Yorke und bei Dave Gahan. Martin Gore sucht nach den Spuren seines Selbst in den Songs, die er im Lauf seines Lebens gehört hat. „Counterfeit“ nennt er sein Album mit elf Coverversionen (ebenfalls bei Mute), also Nachahmung oder Täuschung. Dieser Titel ist irreführend. Denn es gelingt Gore zwar, den Gestus der anderen Sänger zu imitieren, täuschend bei David Bowies „Tiny Girls“, so betörend, dass nur die Repeat-Taste einem weiterhilft, bei Lou Reeds „Candy Says“, aber seine Annäherung an die verehrten Lieder und Sounds hat mit Fake oder Pose gar nichts zu tun, sie ist mimetisch im besten Sinn. Gore erforscht den Sinn des Originals, die identitätsstiftende Kraft, die er selbst erfahren hat, aber er wiederholt nicht, was war, sondern er schafft neue Originale. „Counterfeit“ ist eine sehr demütige und eine sehr selbstbewusste Platte, sicher einer der Höhepunkte des Pop-Jahrgangs 2003. Mit dabei: Julee Cruise, David Lynchs düstere Fee, Nick Cave mit seinem Loverman oder John Lennon & Yoko Ono mit einem Liebes-Duett.