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Martin Tchibas inzwischen dritte Veröffentlichung auf dem hauseigenen Label ist das Dokument eines Radio-Konzertes im ungarischen Rundfunk und trägt den naheliegenden Titel: „Live in Budapest“

Martin Tchibas inzwischen dritte Veröffentlichung auf dem hauseigenen Label ist das Dokument eines Radio-Konzertes im ungarischen Rundfunk und trägt den naheliegenden Titel: „Live in Budapest“

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Von der Kette gelassen

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Neue CDs neuer Musik, vorgestellt von Dirk Wieschollek
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„HÖREN – in dieser Zeit“ lautet das Motto der 24. Ausgabe der DEGEM (Deutsche Gesellschaft für elektro­akustische Musik). Das klingt gleichermaßen allgemein wie anspielungsreich. +++ Martin Tchibas inzwischen dritte Veröffentlichung auf dem hauseigenen Label ist das Dokument eines Radio-Konzertes im ungarischen Rundfunk und trägt den naheliegenden Titel: „Live in Budapest“ +++ Pünktlich zum 100. Geburtstag von Pierre Boulez veröffentlicht das Label bastille musique in Co-Produktion mit dem Schweizer Rundfunk ein Bündel zentraler Ensemblewerke.

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„HÖREN – in dieser Zeit“ lautet das Motto der 24. Ausgabe der DEGEM (Deutsche Gesellschaft für elektro­akustische Musik). Das klingt gleichermaßen allgemein wie anspielungsreich. Inwieweit lassen diese kunst- und geistesfeindlichen Zeiten ein offenes und kritisches Hören überhaupt noch zu? Das diesmal von Johannes S. Sistermanns kuratierte Programm gibt hierauf Antworten, die von Field Recordings zwischen Naturevokation und Alltagserfahrung gespeist wurden. Das können winterliche Dorfgeräusche mit ukrainischen Stimmen (Miri Berlin), Knalltüten (Frank Niehusmann), Neapel (Marcus Beuter), eine hölzerne Tür (Clemens von Reusner), Schritte, Bäume und berstendes Eis (Tim Helbig), das U-Bahn-System Istanbuls (Harald Muenz) oder das WM-Finale 2014 in Brasilien (Antje Vowinckel) sein, die nach allen Regeln der elektroakustischen Kunst verfremdet, verbeult, verlängert, rhythmisiert oder zersplittert werden. Angenehm aus dem Rahmen der akusmatischen Standards fällt mit Jakob Rieke (*1995) der Jüngste im Bunde. Er hat mit „instaswipe#4“ eine Collage aus Social-Media-Versatzstücken gefertigt, die die Absurdität des immersiv Realen auf den Punkt bringt. Insgesamt klingt das Gros dieser Wirklichkeits-affinen Audioprotokolle gerade „in d i e s e r Zeit“ allerdings erstaunlich harmlos. (Edition DEGEM)

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Martin Tchibas inzwischen dritte Veröffentlichung auf dem hauseigenen Label ist das Dokument eines Radio-Konzertes im ungarischen Rundfunk und trägt den naheliegenden Titel: „Live in Budapest“. Das erste Bündel von Stücken ist eine Auswahl aus Tchibas vielbeachteten Social-Media-Projekten „WIReless“ (2017) und „Netzwellen“ (2018). Zwischen impulsiver Expressivität, minimalistischen Loops und geräuschhafter Kontemplation werden in diesem vielgestaltigen Destillat globaler Interaktionen alle denkbaren Register aphoristischer Klangbilder gezogen. Besonders konzentriert und ideenreich zeigt sich Tchibas Klaviermusik jedoch im eigenen Zyklus „après – avant“ (2022/23) in der Spannung von Konstruktion und Improvisation. Das kann ausgesprochen düstere Züge annehmen wie im fast ein-tönigen „intro“, im Diptychon „in a cold night“ oder im „nachtstück“. Das kann aber auch impulsive Spontanität mit ständig wechselnder musikalischer Gestik ausstrahlen wie im „tagesstück 1“ oder „intermezzo 2“. Langweilig wird es in Tchibas pianistischen Kurzmitteilungen auch ohne elektronische Erweiterungen nie – und vordergründig virtuos schon mal gar nicht. (emt)

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Martin Tchibas inzwischen dritte Veröffentlichung auf dem hauseigenen Label ist das Dokument eines Radio-Konzertes im ungarischen Rundfunk und trägt den naheliegenden Titel: „Live in Budapest“

Martin Tchibas inzwischen dritte Veröffentlichung auf dem hauseigenen Label ist das Dokument eines Radio-Konzertes im ungarischen Rundfunk und trägt den naheliegenden Titel: „Live in Budapest“

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Pünktlich zum 100. Geburtstag von Pierre Boulez veröffentlicht das Label bastille musique in Co-Produktion mit dem Schweizer Rundfunk ein Bündel zentraler Ensemblewerke. Michael Wendeberg hatte bereits Boulez’ Klavierwerk auf bm eingespielt und kennt Boulez’ Klangsprache also praktisch aus der Innenperspektive. Nun steht er als Dirigent dem Collegium Novum Zürich und dem Ensemble Contrechamps vor, die Bekanntes und Unbekanntes zum Besten geben. Das beginnt mit dem markigen Startimpuls des Klavieres im Klassiker „Éclat“ (1964/65), aus dessen Resonanzen ein vielfarbiges Instrumentalgeschehen wächst. Ensemblekomposition at its best, das auch in den flüchtigsten Momenten mit großer Schärfe den klanglichen Augenblick feiert und in Passagen „gelenkten Zufalls“ kompakte improvisatorische Freiräume öffnet. Wie immens rhythmisch die Musik Boulez’ gedacht sein kann, demonstriert eindrucksvoll „sur Incises“ (1996–98) in der organischen Weiterentwicklung der Klavierminiatur „Incises“ (1994). 3 Klaviere, 3 Harfen und 3 Schlagzeuge lassen hyperaktive Wachstumsprozesse von der Kette. Eher selten zu hören ist das unvollendet gebliebene „Éclat/Multiples“ (1964–70), das mit größerer Besetzung und labyrinthischem Bezugsreichtum direkt an „Éclat“ anknüpft. 25 Spieler:innen entfachen hier fast orchestrale Dichte und einen Drive, der (manchmal in überraschendem Unisono) heftige Energieentladungen befeuert. Hochinteressante „Zugabe“: ein unveröffentlichtes Fragment, das den bisher publizierten Torso von „Multiples“ noch einige Minuten fortführt. In seiner rhythmischen Intensität unterstreicht es abschließend nochmal die ganze Vitalität und Präzision dieser Aufnahmen. (bastille musique)

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