Berlin - Die Locken hat er gezähmt, sein Haar ist weiß geworden: Wenn Simon Rattle an diesem Mittwoch (20. Juni) nach 16 Jahren sein letztes Konzert als Chefdirigent in der Berliner Philharmonie dirigiert, schließt sich für den Briten ein Kreis. Bei seinem ersten Gastauftritt hatte der Sonnyboy aus Liverpool 1987 Gustav Mahlers 6. Sinfonie dirigiert - genau wie jetzt zum Abschied.
Rattle wechselt zum London Symphony Orchestra, das er im Wechsel mit Berlin seit einem Jahr leitet. Der Dirigent steht mit 63 Jahren auf der Höhe seiner Laufbahn. Sein Vorgänger Claudio Abbado hatte das Orchester körperlich gezeichnet als kranker Mann verlassen, Herbert von Karajan war zuvor im Streit gegangen. Seit Wochen bereiten die Philharmoniker den Abschied vor, das letze Philharmonie-Konzert wird live in mehr als 200 deutsche und europäische Kinos übertragen. Am Sonntag (24. Juni) ist mit dem Waldbühnen-Konzert dann ganz Schluss.
«Goodbye, Sir Simon», betitelt das Philharmonie-Magazin «128» seine jüngste Ausgabe. Ganz vergessen sind die Anlaufschwierigkeiten nach seinem Antritt 2002 nicht. «Dieses Orchester macht sich das Leben wirklich nicht leicht. Aber wenn man am Ziel ist und die Blasen an den Füßen verheilt sind, dann weiß man, dass es die Sache wert war», sagt Rattle im Interview des Magazins.
Geholt wurde Rattle, um die Philharmoniker ins 21. Jahrhundert zu führen. In Birmingham hatte der junge Dirigent das städtische Orchester zu einem zeitgemäßen Vorzeigeensemble reformiert. In Berlin sollte der coole Brite nach dem Orchester-Herrscher Karajan und dem Bewahrer Abbado den Philharmonikern eine Verjüngungskur verpassen. Neben einem erweiterten Repertoire jenseits von Beethoven und Bruckner sollte sich das Orchester der Gesellschaft öffnen
Das ist den Philharmonikern und ihrem Chef gelungen. Ob Filme in 3D, Live-Übertragungen in Kinos, die Digital Concert Hall als Internet-Stream und ein wegweisendes Bildungsprogramm - mit Rattle waren sie plötzlich auf allen Kanälen. Der Dirigent führte junge britische Komponisten wie Mark-Anthony Turnage und Thomas Ades oder den Deutschen Helmut Lachenmann ein. Mit Regisseuren wie Peter Sellars inszenierte er Bachs Passionen als mystische Spektakel. Er verabschiedete sich von den Salzburger Osterfestspielen, einem Relikt aus der Ära Karajan, und wechselte ins mondäne Baden-Baden.
Die Neugierde des Briten schien keine Grenzen zu haben - und er zog das zunächst zögerliche Orchester mit. Von Joseph Haydn bis John Adams - Rattle durchschritt Jahrhunderte Musik mit unbändiger Energie und leichten Fußes. Kritiker warfen ihm vor, das symphonische Repertoire zu vernachlässigen, das Orchester widersprach. Rattle habe auch Wagner, Brahms und Bruckner im Gepäck. Als Zeichen des Vertrauens stimmte es 2008 einer Vertragsverlängerung vorzeitig zu.
Das Leben in Berlin veränderte auch Rattle. Er wird in Zukunft mit seiner slowakischen Frau, der Mezzosopranistin Magdalena Ko?ená, und seinen Kindern den Lebensmittelpunkt in der Stadt behalten und nach London pendeln. «Berlin war meine erste Erfahrung als Immigrant», sagte er in einem dpa-Interview. «Bis dahin hatte ich immer in meiner eigenen Kultur und Sprache gelebt.»
Deswegen reagierte Rattle auch allergisch auf Vorhaltungen, als Brite sei er eigentlich nicht der richtige Dirigent für den «deutschen Klang», jene dunkle Farbe, wie sie etwa Daniel Barenboim und seine Berliner Staatskapelle pflegen.
«Diese Frage, was eigentlich deutsch ist, gibt es überall, nicht nur in der Musik», sagte er. «Ich kann das am Beispiel Berlin am besten beschreiben. In dieser Stadt leben Menschen aus mehr als 200 Ländern, in unserem Orchester gibt es 26 Nationalitäten, auch wenn die Deutschen in der Mehrheit sind. Aber wie lange noch? Und was Europa oder Mitteleuropa ist - diese Frage wird doch heute völlig anders beantwortet als noch vor Jahren.»
Rattles früh abzusehender Abschied setzte das Orchester vor eine schwere Probe. Erst in einem zweiten Wahlgang einigten sich die Philharmoniker auf den Russen Kirill Petrenko, Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper in München. Nach dem verklärten Claudio Abbado und dem aufgeklärten Sir Simon votierten die Musiker für einen akribischen Notenarbeiter, einen Besessenen. Rattle, das kündigte er bereits an, wird auch in Zukunft die Philharmoniker dirigieren - aber als Gast, wie schon vor mehr als 30 Jahren.
[update, 21.6.]
Ovationen für scheidenden Philharmoniker-Chef Rattle in Berlin
Berlin (dpa) - Ovationen und ein Riesenblumenstrauß: Zu seinem Abschied von den Berliner Philharmonikern ist Chefdirigent Sir Simon Rattle minutenlang gefeiert worden. Nach Gustav Mahlers 6. Sinfonie erhoben sich die Zuhörer am Mittwochabend von ihren Plätzen in der Philharmonie und spendeten dem Briten einen langen Beifall im Stehen. Einigen Zuhörern standen Tränen in den Augen.
Rattle musste immer wieder auf das Podium treten, herzte einige Musiker, umarmte sie und bedankte sich dann über Mikrofon bei seinem «wunderbaren Orchester». An das Publikum gerichtet sagte er: «Sie sind wundervoll und tief mit meinem Herzen verbunden.» Auch nachdem die Philharmoniker den Saal verlassen hatten, ließen die Zuhörer nicht locker: Rattle erschien noch einmal und bedankte sich alleine auf dem Orchesterpodium für den Beifall.
Zuvor hatte der Dirigent die fast 90 Minuten lange «Sechste» von Mahler dirigiert, die er bereits bei seinem ersten Gastauftritt mit den Philharmonikern 1987 aufgeführt hatte. «Ich hatte an diesem Tag das Gefühl, ich würde meine Stimmen finden», erinnerte er sich in dem Programmheft an seinen ersten Auftritt bei den Philharmonikern.
Es war das emotionale Ende einer 16 Jahre langen Ära, die Rattle 2002 begonnen hatte und in die er das Orchester, das als eines der besten der Welt gilt, fit für das 21. Jahrhundert machte. Unter Rattle starteten die Philharmoniker ein wegweisendes Bildungsprogramm und begannen mit der Live-Übertragung der Konzerte als Internet-Stream und in die Kinos. Der Brite öffnete die Philharmoniker für ein neues Repertoire, vor allem mit zeitgenössischen Komponisten.
Somit tritt der 63-Jährige zum Ende der Spielzeit ab - ganz aus Berlin wird er nicht verschwinden. Er wird weiter in der Stadt leben, zusammen mit seiner Ehefrau, der Mezzosopranistin Magdalena Kozena, und seinen Kindern. Doch er wird nach zwischen der deutschen und der britischen Hauptstadt pendeln, wo er seit einem Jahr das London Symphony Orchestra leitet.