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Tanzende in bunten Kleider-Trachten auf dem Marktplatz von Wolfenbüttel beim EUROTREFF
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Anderer Völker Lieder singen

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Kulturraub oder Empathie?
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Political Correctness und Cancel Culture haben ihren Weg inzwischen auch in die Welt der Kultur gefunden und damit in die Musik, wo sie zum Teil seltsame Blüten treiben und die Aktiven verunsichern.Eine Sängerin wird von einem vertraglich vereinbarten Konzert ausgeladen, weil sie Dreadlocks trägt. Das sei Aneignung von Ausdrucksweisen einer anderen Kultur und nicht zulässig. Es wird diskutiert, ob auf der Bühne „weiße“ Schauspieler:innen mit Hilfe von blackfacing „schwarze“ Rollen darstellen oder ob Heterosexuelle Homosexuelle spielen dürfen.

Gehen solche Fragen auch die Chöre etwas an? Chorwerke beinhalten fast immer auch Sprache. Es wird auf Englisch, Französisch oder sogar Koreanisch gesungen. Ist das Aneignung fremder Kulturen? In den Jahren des Nati­o­nalsozialismus war fremdsprachiges Liedgut verpönt. Die Machthaber sahen hierin tatsächlich die Aneignung fremder Kulturen. Dabei ging es ihnen aber nicht um den Respekt vor diesen Kulturen, sondern um die Reinhaltung der deutschen Kultur. Diese Haltung, zu der auch die Behauptung gehörte, Juden wie Felix Mendelssohn Bartholdy könnten keine für Deutsche wertvolle Musik schreiben, führte Deutschland in die kulturelle Isolation.

Aneignung beendet Isolation

Ich habe es noch selbst erlebt: Nach Kriegsende war in Deutschland die Sehnsucht nach Beendigung dieser Isolation, nach Öffnung und Kontakten groß. Als Reisen noch nicht möglich war, bot ausländisches Liedgut aller Genres eine erste Möglichkeit zum Kennenlernen anderer Kulturen. 1953 veröffentlichte Georg Götsch sein Englisches Liederbuch, alle Lieder auch in erstaunlich guten, singbaren Übertragungen. In den folgenden Jahren erschienen weitere ähnliche Liedersammlungen, dazu aber auch englische, französische oder ungarische Chorwerke, ebenfalls mit Übertragungen ins Deutsche, die aber oft unbefriedigend bleiben, weil es die Quadratur des Kreises ist, Sprachrhythmus, Syntax, den Inhalt und dazu auch noch das Reimschema in das musikalische Gerüst eines Werkes einzufügen. (Man betrachte einmal einige Wörter, die oft in Madrigalen vorkommen, nur in Hinblick auf die Silbenzahl im Englischen und Deutschen: sing and dance – sin-gen und tan-zen; a red rose – ei-ne ro-te Ro-se. Um solche zusätzlichen Silben in der vorgegebenen Melodie unterzubringen, müssen Töne unterteilt werden. Flüssige melodische Linien werden dadurch holpriger, wirken leicht gehetzt.) Diese Probleme wurden aber in Kauf genommen, da nur wenige Menschen damals Fremdsprachen beherrschten.

Mit zunehmenden Fremdsprachenkenntnissen und Reisemöglichkeiten entwickelte sich dann der Anspruch, in den Originalsprachen zu singen. Heute ist das die Regel. Es gibt auf dem Markt sogar Audio-Angebote, in denen Muttersprachler:innen Texte einzelner Werke auch in eher unbekannten Sprachen vorsprechen.
Müssen wir das nun wieder in Frage stellen? Kann (oder darf) etwa, wie ich vor Jahren bei der Programmplanung für ein internationales Chorfestival hörte, nur ein Italiener einen Workshop mit italienischer Musik leiten?
Länder, Städte, Gruppen sind stolz, wenn sich in ihrem Umfeld anerkanntes Weltkulturerbe befindet. Zum immateriellen Kulturerbe zählt die UNESCO auch Liedgut. Es ist World Heritage, Weltkulturerbe, gehört allen Menschen der Welt und muss für alle erhalten bleiben.

Altes Erbe in neuer Heimat

In unserer Migrationsgesellschaft leben Menschen aus vielen Kulturen, die ihr musikalisches Erbe in ihre neue Heimat mitgebracht haben. Sie sind stolz darauf und wollen es von der aufnehmenden Gesellschaft angenommen und wertgeschätzt wissen. Auf keinem Weg geht das einfacher als durch das Singen ihrer Lieder und Chormusik. Das ist Respekt vor dem Erbe anderer Kulturen, nicht aber Aneignung fremder Kulturen.

Ich sehe diese „postkolonialen“ Debatten mit Sorge (auch wenn das Grundanliegen natürlich gerechtfertigt ist). Sollten sie zu einer cancel culture führen in der Weise, dass Chöre sich auf ausschließlich original deutschsprachige Singliteratur beschränken? Das wäre nach mehr als 70 Jahren eine Rückkehr in die kulturelle Isolation, dieses Mal dann nicht aus politischer Engstirnigkeit, sondern aus falsch verstandenem Respekt vor dem Erbe anderer Weltkulturen. Eine solche Verarmung unseres kulturellen Lebens darf es nicht wieder geben.


Die Autorin Dr. h.c. Lore Auerbach ist Ehrenvorsitzende des AMJ

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