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Inklusives Musizieren bei einem Community-Music-Projekt der Münchner Philharmoniker, Leitung: Wolfgang Schlick und Marja Burchard. Foto: Andrea Huber
Inklusives Musizieren bei einem Community-Music-Projekt der Münchner Philharmoniker, Leitung: Wolfgang Schlick und Marja Burchard. Foto: Andrea Huber
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Inklusiver Musikunterricht

Untertitel
Ein Musikunterricht für alle!?
Publikationsdatum
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Der Untertitel dieses Beitrags beinhaltet eine Frage und eine Aufforderung zugleich. Mit der Frage sollen die vielfältigen Unsicherheiten zum Ausdruck gebracht werden, die Musiklehrkräfte, Schüler/-innen, Eltern oder die Schuladministration mit dem Thema Inklusion verbinden. In der Aufforderung hingegen ist die politische, gesellschaftliche und pädagogische Zielperspektive inklusiver Bildungsprozesse im Fach Musik verankert, die als zutiefst humane Leitvorstellung (bzw. als erstrebenswerte Utopie) zukunftsweisend und motivierend sein kann. Der vorliegende Beitrag möchte dazu anregen, Inklusion nicht als Bedrohung zu verstehen, sondern vielmehr als Potenzial für die Zusammenführung und Neugewichtung verschiedener didaktischer und pädagogischer Orientierungen, in denen die Schüler/-innen mit ihren Bedürfnissen, Anlagen und Vorerfahrungen im Vordergrund stehen.


Von Integration zu Inklusion

Die gemäß der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen aus dem Jahr 2006 und aus ihrer Ratifizierung in Deutschland 2009 resultierende Forderung „Eine Schule für alle“ bedeutet konsequenterweise auch „Ein Musikunterricht für alle“. Im Sinne inklusiven Denkens und der damit verbundenen Anerkennung und Wertschätzung von Heterogenität wird darunter ein Musikunterricht verstanden, der einerseits die Verschiedenartigkeit der Schüler/-innen als wertvolle, bereichernde Potenziale und Chancen begreift und andererseits in verstärktem Maß auf deren Individualität und die Beseitigung möglicher Bildungsbarrieren eingeht.

Das Fach Musik kann im Zuge der aktuellen, grundständigen Veränderungen schulischer Lernkulturen, -strukturen und -praktiken mit dem Ziel einer „Pädagogik der Vielfalt“ in besonderer Weise von den Potenzialen der Beteiligten profitieren und gilt vielfach als prädestiniert für inklusive Bildungsprozesse. Zwar sind die derzeit vor allem im Kontext von Flüchtlingsarbeit inflationär verbreiteten Slogans à la „Musik verbindet“ oder „Musik – eine Weltsprache“ hinsichtlich ihrer Pauschalgültigkeit kritisch und differenziert zu betrachten, dennoch gibt es auch hinreichend viele Beispiele, die die (nonverbal) verbindende Kraft von Musik überzeugend illustrieren, etwa Ethno-Crossover-Projekte, Singen und Musizieren bei Konzerten, in Schulen, Kirchen, Fußballstadien.

Der Wandlungsprozess von einem integrativen Denken und Handeln zur Umsetzung des Menschenrechts „Inklusion“ bringt aber auch große Verunsicherungen und Herausforderungen für die Lehrenden, den institutionalisierten Musikunterricht und für das System „Schule“ mit sich, die im Wesentlichen auf eine jahrelange Verschleppung des Diskurses und eine recht überstürzte politische Umsetzung zurückzuführen sind. So zeigt allein die alltägliche Rede von „Inklusionsschülern“ oder von „Inklusionsklasse“, dass offenbar keine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Begriff „Inklusion“ stattgefunden hat, sind doch derartige Bezeichnungen in höchstem Maße exklusiv.

Inklusion als vielschichtiges Aufgabenpaket

Im Sinne des „Index für Inklusion“, der 2000 von Tony Booth und Mel Ainscow in einer Urfassung veröffentlicht, weiterentwickelt und 2003 von Andreas Hinz und Ines Boban für deutsche Verhältnisse übersetzt und adaptiert wurde1, bedarf es eines grundlegenden, gesamtgesellschaftlichen und     systemimmanenten Umdenkens hinsichtlich des Umgangs mit Diversität. Erinnert sei diesbezüglich daran, dass sich die inklusive Sichtweise im Gegensatz zur integrativen dadurch auszeichnet, dass sich Menschen nicht an die jeweils vorfindlichen, häufig unflexiblen bis starren Kulturen, Strukturen und Praktiken anzupassen haben, sondern eben diese für die individuellen Bedürfnisse jedes Einzelnen zugänglich gemacht werden müssen.

Konkret bedeutet dies, dass gesellschaftliche Wertorientierungen und Haltungen nicht auf einer Defizitorientierung in Bezug auf Menschen, sondern auf einer potenzialorientierten Sichtweise in Verbindung mit Anerkennung und Wertschätzung von Heterogenität beruhen (Ebene der „Kulturen“). Eine inklusive, schulische Unterrichtspraxis entspricht der Vielfalt der Schüler im Sinne einer „Bildungspolyphonie“ und nimmt Stärken, Potenziale und Erfahrungen als Ausgangspunkt für individuelle Bildungs- und Erziehungsprozesse.

Auf der Basis der konsequent auf Inklusion ausgerichteten „Kulturen“ als verbindlichen Bezugsrahmen bedarf es entsprechender „Strukturen“, etwa durch geeignete Rahmenbedingungen und Unterstützungssysteme. Hierzu gehören im System Schule alle räumlichen, zeitlichen, inhaltlichen, sozialen und individuell-förderlichen Anpassungen an die Vielfalt der Schüler, im Fach Musik zum Beispiel eine vielfältige, flexibel nutzbare Ausstattung, geeignete Musikräume oder ein breites Spektrum an Wahlangeboten.2

Gleichermaßen sind fachspezifische, unterrichtspraktische Antworten auf Fragestellungen zu entwickeln, die sich im Rahmen der Gewährleistung barrierefreier, gleichberechtigter und individuell angepasster Bildungschancen für alle Menschen stellen (Ebenen der „Praktiken“). Hierzu zählen zum Beispiel die Adaption von Unterrichtsmaterialien und Arbeitsblättern, der Einsatz barrierefreier Instrumente, inhaltliche Differenzierung und methodische Vielfalt sowie die gezielte Nutzung digitaler Medien.3

Diversität im Spannungsfeld fachlicher Besonderheiten

Da alle Menschen unabhängig von ihren Dispositionen erlebnis- und lernfähig sind und sowohl die unterschiedlichsten Erscheinungsformen von Musik(en) als auch das Schulfach Musik eine Vielzahl an Zugangsmöglichkeiten bieten, ist davon auszugehen, dass grundsätzlich jeder Mensch im Sinne einer inklusiven schulischen Musikpädagogik erreicht werden kann. Dabei gilt es, verschiedene Formen von Diversität auf Basis eines breit gefächerten Inklusionsverständnisses kritisch in den Blick zu nehmen. Insbesondere bedarf es eines professionalisierten fachlichen und fachdidaktischen Umgangs mit denjenigen Diversitätsfaktoren, die eine einschlägige fachspezifische Relevanz haben. Dazu gehören im Fach Musik nicht nur unterschiedliche Formen von Behinderung, sondern zum Beispiel auch besondere Lebensbedingungen durch Migration, Religion oder sozialen Status, unterschiedliche musikalische Vorerfahrungen, Alters- und Geschlechtsfragen oder der Aspekt „Hochbegabung“.

Herausforderungen, aber auch Chancen ergeben sich dabei durch die Besonderheiten des Faches, zu denen ästhetische Erfahrung und Emotionalität, die sehr enge Verbindung von Privatem und Unterricht, die rasante Dynamik des „Fachgegenstandes“ Musik und eine starke Heterogenität der Schülervoraussetzungen (musikalische Interessen, Vorerfahrungen, Präferenzen, Musikbegriff, ästhetische und unterrichtsbezogene Meinungen, Einstellungen und Vorstellungen etc.) gehören.

Durch Inklusionsprozesse erweitert sich die Bandbreite an Heterogenität und löst auf Lehrerseite verständlicherweise vor allem bei denjenigen Beklemmungen und Ängste aus, die sich einer defizitären systemischen Umsetzung einerseits und eigenen Kompetenzdefiziten andererseits hilflos gegenübersehen, aber auch auf Schülerseite gibt es Hürden, zum Beispiel in Bezug auf Offenheit, Flexibilität, Leistungsbeurteilung, Identitätsbildung (vgl. Eberhard/Höfer 2016, 35–41).

Aktuelle Aufgaben der Musikpädagogik im Hinblick auf Inklusion

Die aktuellen Aufgaben der Musikpädagogik zum Umgang mit inklusiven Fragestellungen und Szenarien erweisen sich als vielfältig: Zum einen bedarf es entsprechender fachübergreifender und fachspezifischer Grundlagenforschung im Hinblick auf die Forschungsfelder „Inklusive Schule“, „Inklusive Pädagogik“ und „Inklusiver Musikunterricht“.

Da Forschung und Praxis hierzulande noch in den Kinderschuhen stecken und es aktuell dringend Antworten auf die politisch verordnete und an Schulen bereits zu verwirklichende Inklusion braucht, müssen zunächst auch ohne entsprechende Forschung Impulse für die Unterrichtspraxis entwickelt werden.

In Bezug auf das Fach Musik bedeutet dies, dass sowohl Grundprinzipien einer inklusiven Pädagogik (individualisiertes, kooperatives, handlungsorientiertes, fächerverbindendes, inter-/transkulturelles, kreatives Lernen) als auch musikdidaktische Umgangsweisen für die veränderte Lehrerrolle, das Selbstverständnis des Faches, die Aspekte „Leistungsmessung“ und „Feedbackkultur“ sowie methodische und mediale Aspekte neu überdacht und interpretiert werden müssen. Ein besonderes Potenzial stellt diesbezüglich der zunehmende Ausbau der Ganztagesschule dar, so dass sich künftig die schulische und außerschulische Musikpädagogik in weitaus stärkerem Maße als bisher verschränken werden.

Zunehmend sind Musiklehrer gefragt, die über theoretisch fundierte, pädagogische und didaktisch-methodische Kenntnisse im Kontext von Inklusion, über ein reichhaltiges Handlungsrepertoire hinsichtlich der unterschiedlichen musikalischen Umgangsweisen, der Klassenführung und des Sozialmanagements sowie über geeignete Persönlichkeitseigenschaften (z.B. Offenheit, Flexibilität, Empathie, Kreativität) verfügen. Breit gefächerte Kompetenzen in Bezug auf musikalische (Gruppen-)Improvisation, Ensemblemusizieren und vokale/instrumentale Praxis, auf Differenzierung oder die Diagnose, Messung und Bewertung von Schülerleistungen sind dabei Grundvoraussetzung.

Berührt werden im Rahmen eines inklusiven Musikunterrichts aber nicht nur unmittelbar fachinhaltliche und fachdidaktische Kompetenzbereiche, sondern auch die Rahmenbedingungen des Musikunterrichts. Ein inklusiver Musikunterricht bedarf eines geeigneten Raumes, etwa in Bezug auf Größe, Raumausstattung, Ordnungs- bzw. Orientierungssysteme (z.B. für Schüler mit Schwierigkeiten im Hinblick auf die Raum-Lage-Beziehung und das Körperschema) sowie einer dem Fach angemessenen Raumästhetik, einer reichhaltigen, variabel einsetzbaren Ausstattung an Instrumenten, Unterrichts- und Arbeitsmaterialien und ggf. audiovisueller Ergänzungen (z.B. Brailleschriftlesegerät). Neben räumlichen Bedingungen bedarf es der zeitlichen Flexibilisierung, damit Lehr-/Lernprozesse an die Voraussetzungen der jeweiligen Zielgruppen angepasst werden können.

Zur Qualifizierung dienen dabei sämtliche Ebenen der Lehrerbildung von der hochschulischen, vorwiegend wissenschaftlich fundierten Ebene über den Vorbereitungsdienst und den Fort- und Weiterbildungssektor. Die auch auf hochschulischer Seite sukzessive zu entwickelnde Expertise umfasst in der Zielperspektive für die Lehramtsausbildung vor allem ein vertieftes, forschungsbasiertes fachliches und überfachliches, pädagogisches, sonderpädagogisches und psychologisches Wissen, vertiefte fachdidaktische bzw. künstlerisch-pädagogische Kompetenz sowie ausgewählte Aspekte der Persönlichkeitsbildung.

Masterstudiengang „Inklusive Musikpädagogik/Community Music“

Neben strukturellen Änderungen sowie einer zunehmenden Anzahl von Publikationen und  Fortbildungen entstehen in Bayern derzeit auch neue Bildungsangebote. So bietet die Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt als erste und einzige Hochschule in Europa einen Masterstudiengang für „Inklusive Musikpädagogik/Community Music“ an, der unter anderem Absolventen/-innen der Lehramtsstudiengänge in wissenschaftlichen, didaktischen, künstlerisch-kreativen sowie berufsvorbereitenden Modulen hinsichtlich des Umgangs mit heterogenen, inklusiven Gruppen professionalisiert.

Anmerkungen:

1    Boban, Ines/Hinz, Andreas (Hrsg.) (2003): Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in Schulen der Vielfalt entwickeln. Halle (Saale): Martin-Luther-Universität, URL: http://www.eenet.org.uk/resources/docs/Index%20German.pdf [26.07.2017]
2    vgl. Eberhard, D. M. (2016): „Musik braucht Freiräume“. Überlegungen zu einem ideal gestalteten Fachraum für inklusiven Musikunterricht. In: Schönig, W., Fuchs, J. A.: Inklusion – raumtheoretische, didaktische und schultheoretische Zugänge. Bad Heilbrunn: Klinkhardt. p. 121-135.  
3    Für Sek. I siehe: Eberhard, D. M., Höfer, U. (2016): Inklusions-Material Musik. Klasse 5-10. Berlin: Cornelsen. Für GS siehe: Eberhard, D. M., Hirte, G., Höfer, U. (2017, im Druck): Inklusions-Material Musik. Klasse 1-4. Berlin: Cornelsen. Zur Mediennutzung siehe: Eberhard, D. M. (2017): Digitale Medien im inklusiven – Potenziale und Nutzungsmöglichkeiten. In: muc – Musikunterricht und Computer. Ausgabe 6. p. 30-34.

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