Derzeit stehen alle Zeichen auf Entspannung: Die Corona-Inzidenzwerte haben den niedrigsten Stand seit 9 Monaten erreicht. Das gute Wetter ermöglicht Freiluft-Aktivitäten aller Art, die Hälfte der deutschen Bevölkerung ist mindestens einmal geimpft (Stand: 18.6.21). So manch einer findet inzwischen die Vorsichtsmaßnahmen in Schulen, Betrieben und der Öffentlichkeit übertrieben. Aber: Das vergangene Jahr hat gelehrt, dass das Corona-Virus sich genau so verhält, wie es die Virologen vorhersagen. Nach einer Phase geringer Aktivität in der warmen Jahreszeit müssen wir uns im Herbst wieder auf einen Anstieg der Infektionszahlen gefasst machen. Unter diesen Vorzeichen macht sich der VBS-Vorstand derzeit intensive Gedanken über den Neustart im kommenden Schuljahr. Besondere Aufmerksamkeit verdient die nach wie vor prekäre Situation der Kinder und Jugendlichen.
Es besteht begründet Aussicht, dass ab Herbst die (hoffentlich in ausreichender Zahl) geimpften Erwachsenen allmählich beim Proben und Aufführen von Musik, bei Konzert- und Theaterbesuchen wieder zu so etwas wie Normalität werden zurückkehren können. (Siehe u. a. die aktuelle „Riskoeinschätzung einer Coronavirus-Infektion im Bereich Musik – sechstes Update vom 7. Juni 2021“ des Freiburger Instituts für Musikermedizin (FIM)). Ganz anders sieht die Situation der Kinder und Jugendlichen aus: Sie werden überwiegend ungeimpft ins neue Schuljahr starten – und das dürfte gravierende Auswirkungen auf den Schulbetrieb haben. Vorsichtsregeln, Abstand, Masken und Tests werden uns wohl noch begleiten, bis auch bei Kindern und Jugendlichen Herdenimmunität erreicht ist – sei es durch Impfung, sei es auf „natürlichem“ Weg. Und dieser Prozess dürfte eine ganze Weile dauern.
Was bedeutet das für den Musikunterricht im kommenden Schuljahr? – Konsequenz dieser Situation kann und darf nicht sein, dass Kinder ein weiteres Mal den Kürzeren ziehen im pandemischen Geschehen. Zu den zahlreichen Einschränkungen, mit denen junge Menschen nun seit fast eineinhalb Jahren leben müssen, zählt auch ein extremes Ausgeschlossensein von musikalischer Praxis und kultureller Teilhabe ganz allgemein – nicht nur in der Schule. Es fehlen die positiven Erlebnisse beim gemeinsamen Musizieren.
Gespräche mit Kolleginnen und Kollegen zeigen, dass gerade Kinder aus prekären Verhältnissen seit geraumer Zeit völlig abgeschnitten sind von kultureller Teilhabe. Kinder aus ärmeren und bildungsfernen Familien haben keine Instrumente zuhause, auf denen sie spielen könnten, wenn im Schulorchester oder der Band gerade nichts geht. Sie haben keine Eltern, die mit ihnen gemeinsam singen oder spielen. Nur im schulischen Musikunterricht steht ihnen die Möglichkeit offen, wichtige musikalische Primärerfahrungen zu machen, Instrumente und stimmliche Möglichkeiten auszuprobieren, bisher unentdeckte Talente zu zeigen und ihren Emotionen Ausdruck verleihen.
Eine junge Mittelschullehrerin beschrieb diesen Umstand und seine Folgen im Interview mit Studierenden so: „Das lernen die halt dann nicht. Die erfahren nicht, was sie vielleicht können. Im Zeugnis sieht man oft nur: Der Schüler ist schlecht in Mathe. Was er aber eigentlich sonst noch draufhat, dass er vielleicht am Klavier total begabt ist, oder gut am Schlagzeug den Rhythmus halten kann, solche Sachen kriegt er halt dann nicht mit. Wenn wir im Musikunterricht keine Praxis machen können, fehlen wichtige positive Erlebnisse.“ Ein hohes integratives und inklusives Potenzial von Musikunterricht liegt also in diesen Zeiten brach. Und auch Kinder und Jugendliche aus privilegierteren Verhältnissen leiden unter den fehlenden Möglichkeiten, gemeinsam mit anderen zu singen und zu musizieren. Der VBS fordert deshalb für den Musikunterricht ab Herbst veränderte Rahmenbedingungen: Neue Forschungsergebnisse legen nahe, dass das Musizieren in Gruppen unter Einhaltung angemessener Sicherheitsvorkehrungen weitgehend risikolos möglich ist – auch für Vokal- und Bläser-Ensembles.
Wahlunterricht muss wieder möglich sein!
Jahrgangsübergreifende Wahlunterrichte müssen auch für Bläser und Vokalensembles wieder regulär möglich sein. Die dafür notwendigen Stundenkontingente dürfen nicht durch irrwitzige Aufholjagden im Stoff der Kernfächer aufgefressen werden! Wahlunterrichte in ihrer Vielfalt sind nicht nur ein hübscher Farbtupfer im Leben der Schulfamilie, sondern ein Lernangebot von essenzieller Bedeutung für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Hier begegnen sich Jüngere und Ältere, gestalten gemeinsam etwas Sinnvolles, lernen voneinander, erleben gemeinsam musikalischen Flow und machen die Erfahrung, dass es sich lohnt, auf Durststrecken durchzuhalten. Jenseits dieser wichtigen sozialen Erfahrungen lässt sich auch nur in jahrgangsgemischten Ensembles ein gehobenes musikalisches Niveau erreichen. Einschränkungen im Wahlunterricht verhindern wichtige musikalische und soziale Lernprozesse.
Angesichts der deutlich zahlreicher gewordenen Möglichkeiten, Schule unter Hygieneauflagen sicher zu gestalten, dürfen Bayerns Schulen nicht länger zu reinen „Wissensvermittlungsmaschinen“ degradiert werden. Eine Rückbesinnung auf den umfassenden und ganzheitlichen Bildungsauftrag von Schule, wie er auch in Artikel 131 der bayerischen Verfassung niedergelegt ist, tut dringend not. Musikunterricht und die musikalischen Wahlunterrichte sind ein zentraler Ort solch ganzheitlicher Bildung.
Auch Schulveranstaltungen müssen wieder zugelassen werden. Schulchöre, Orchester und Bands brauchen ein Ziel, auf das man hinarbeiten kann – also Aufführungen. Online-Projekte, wie sie in den vergangenen eineinhalb Jahren mit beachtlichem Engagement vielerorts durchgeführt wurden, werden auch in Zukunft attraktiv bleiben. Den Kontakt zu einem live anwesenden, unmittelbar reagierenden Publikum können sie aber nicht ersetzen. Aktuelle Publikumsstudien zeigen, wie sich Kulturveranstaltungen so organisieren lassen, dass für alle Beteiligten nur noch minimale Risiken bestehen.2 Auch im Schutzraum Schule muss das organisierbar sein.
Praktikable Schutzvorkehrungen
Instrumentales Musizieren und Singen im Klassenverband müssen wieder regelmäßig und unter alltagstauglichen Sicherheitsauflagen möglich sein. Wie und unter welchen Vorsichtsregeln dies organisiert werden kann, muss möglichst bald geklärt werden. So bietet sich beispielsweise eine Orientierung am österreichischen „3 G“-Modell an: Wer der Gruppe der Geimpften, Genesenen oder negativ Getesteten zuzurechnen ist, muss wieder in weitreichendem Umfang mit anderen singen und musizieren dürfen. Es muss geprüft werden, welche Abstands- und Hygienevorschriften für welche Aktivitäten konkret sinnvoll sind. Die mittlerweile zahlreich vorliegenden wissenschaftlichen Studien zum Thema sowie die daraus abgeleiteten Handlungsempfehlungen des Freiburger Instituts für Musikermedizin (FIM) können hier als verlässliche Richtschnur dienen. Der im aktuellen Rahmenhygieneplan für die bayerischen Schulen vorgeschriebene Mindestabstand von 2,5 Metern beim Singen und Spielen von Blasinstrumenten entbehrt einer wissenschaftlichen Grundlage; in der Literatur werden allgemein 2 Meter radial empfohlen – und bereits dies hat sich an vielen Schulen als organisatorische Herausforderung herausgestellt, die kaum zu bewältigen ist.
Angesichts dieser Situation sollte in allen Gemeinden geprüft werden, ob Schulen übergangsweise auch große außerschulische Räume nutzen können, in denen gemeinsames Musizieren unter Einhaltung der Abstandsregeln möglich ist. Jetzt wäre noch ausreichend Zeit, entsprechende Weichen für das kommende Schuljahr zu stellen!
Belüftungskonzepte und CO2-Messgeräte: wichtig auch nach der Pandemie
Im Herbst werden sich schulische Aktivitäten wieder verstärkt in geschlossenen Räumen abspielen müssen. Nicht verzichtbar sind deshalb geeignete Lüftungskonzepte. CO2-Messgeräte können nachgewiesenermaßen dazu beitragen, Lüftungskonzepte zu optimieren und Ansteckungsrisiken durch Aerosole zu minimieren.3 Für den Musikunterricht müssen solche Geräte in ausreichender Anzahl zur Verfügung stehen. In allen schulischen Räumlichkeiten ist eine angemessene Belüftung sicher zu stellen – ggf. durch Einbau entsprechender Frischluftanlagen. Gute Luftqualität sollte auch jenseits der Corona-Krise eine Selbstverständlichkeit sein!
Neue Wertschätzung für die Musik an Schulen
Außerdem braucht es eine neue Wertschätzung für das Fach Musik und seine Lehrkräfte: Etliche Musikkolleg*innen haben in der Zeit des Lockdowns innovative Konzepte zum Umgang mit Musik entwickelt und den kulturellen Raum Schule um neue Facetten bereichert. Auf dem VBS-Fortbildungstag im April wurde etliches vorgestellt, das auch nach der Pandemie weiter gepflegt und ausgebaut werden sollte.
Allen Musiklehrerinnen und -lehrern stehen im kommenden Schuljahr besondere Anstrengungen bevor, der Wiederaufbau der schulischen Ensembles wie auch einer neuen Kultur des Musikunterrichts im Klassenverband wird viel Zeit und Kraft kosten. Diese Arbeit sollte gesehen und gewürdigt werden: in den Schulen, durch die Politik, aber auch von Kolleginnen und Kollegen – aus der Musik wie aus anderen Fächern. Zu Leichtsinn und vorschnellen Forderungen nach „Rückkehr zur Normalität“ besteht nach wie vor kein Anlass, aber: Gut und professionell gehaltener Musikunterricht muss wieder weniger als Gefahrenquelle wahrgenommen werden, sondern als das, was er ist: ein wichtiges, positives und sinnstiftendes Element im Schulleben, eine Quelle bereichernder musikalischer und sozialer Erfahrungen für Alle, und für nicht wenige unserer Schülerinnen und Schüler auch eine wichtige und nicht verzichtbare Orientierungshilfe für die spätere Berufswahl.
- Siehe u. a. die aktuelle „Riskoeinschätzung einer Coronavirus-Infektion im Bereich Musik – sechstes Update vom 7. Juni 2021“ des Freiburger Instituts für Musikermedizin (FIM): https://www.mh-freiburg.de/service/covid-19/risikoeinschaetzung