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Stürmische Fahranfängerin

Untertitel
Die geschickt gesteuerte Erfolgsgeschichte des Songs „drivers license“ von Olivia Rodrigo
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Die Zeit zwischen dem Jahreswechsel und den Grammys, die normalerweise Ende Januar oder Anfang Februar verliehen werden, ist in Sachen neuer Veröffentlichungen im Bereich Popmusik traditionell eher ereignisarm. Umso überraschender ist der immense Erfolg, mit dem die Single „drivers license“ (1) der amerikanischen Sängerin Olivia Rodrigo Anfang dieses Jahres die weltweiten Popcharts eroberte. Wesentlich zum Erfolg des Songs beigetragen hat dabei eine geschickt gestaltete Kampagne auf den Social Media-Kanälen TikTok und Instagram. Dabei wurde den Fans nicht nur das Gefühl gegeben, die Entstehung des Songs und die Hintergrundgeschichte unmittelbar mitzuerleben; sie wurden außerdem ermutigt, das Narrativ des Songs in eigenen rewrites zu ergänzen und weiterzuspinnen.

A perfect storm“ – mit dieser schwer zu übersetzenden Metapher beschrieb ein Vertreter des Streaming-Dienstes Spotify die Umstände, die die Veröffentlichung von „drivers license“ begleiteten (2). Protagonisten dieser „perfekten Welle“ sind die 17-jährige amerikanische Sängerin und Schauspielerin Olivia Rodrigo und ihr drei Jahre älterer Kollege Joshua Bassett, beide Stars der Serie „High School Musical: The Musical: The Series“. Der Umstand, dass beide in dieser Serie ein Teenager-Paar spielten, führte schnell zu dem nie belegten (aber auch nie widerlegten) Gerücht, sie seien auch im wirklichen Leben liiert.

Teenager-Rosenkrieg und Spotify-Rekord

Als Rodrigo schließlich im August in den sozialen Medien bedeutungsschwanger von einer „failed relationship“ sprach, befeuerte dies sofort die Gerüchte, sie und Bassett hätten sich getrennt. Ein paar Monate später, am 4. Januar 2021 kündigte Rodrigo schließlich für den darauffolgenden Freitag, den 8. Januar, die Veröffentlichung ihrer neuen Single „drivers license“ an. Bassett folgte nur eine Stunde später mit der Ankündigung seiner eigenen Single „Lie Lie Lie“, die eine Woche später erscheinen sollte. Die jeweiligen Fan-Gemeinden im Netz goutierten dies mit der Vorfreude, offenbar bei einem sich anbahnenden Rosenkrieg Plätze in der ersten Reihe ergattert zu haben. Während Bassetts Single nur durchschnittlicher Erfolg beschieden war, brach Rodrigos „drivers license“ innerhalb weniger Tage sämtlich Streaming-Rekorde der Plattform Spotify für einen einzelnen Song: Am 11. Januar, drei Tage nach seinem Erscheinen stellte er den Rekord für die meisten Streams eines „Nichtweihnachtssongs“ an einem Tag ein (mit 15 Millionen Streams), ein Rekord, der in kommenden Tagen noch mehrmals erneut gebrochen werden sollte (3). In den darauffolgenden Wochen stand der Song in unzähligen Ländern auf Platz 1 der Charts, die amerikanischen Billboard Hot 100 führt er in dieser Position insgesamt 8 Wochen an. (4)

„drivers licence“ in der Schule?

Nun ist alleine der kommerzielle Erfolg eines Songs noch kein ausreichendes Argument für dessen Verwendung im Musikunterricht. Ganz im Gegenteil – in der Regel nähert man sich dem „neuesten Hit“ als Schulmusiker häufig mit einer gewissen Skepsis: „Ist das Stück überhaupt noch aktuell, wenn ich es behandle?“ „Lohnt sich der Vorbereitungsaufwand, wenn die Nummer nächstes Jahr eh’ schon keiner mehr kennt?“ sind hier häufig geäußerte Bedenken. Neben dem vordergründigen Argument des Erfolgs lohnt sich eine schulische Auseinandersetzung mit „drivers license“ aber noch aus einer Reihe von anderen Gründen: Der Song ist in vielerlei Hinsicht exemplarisch für die aktuelle populäre Musik. Im Folgenden werden einige Aspekte der Distribution und Rezeption des Songs sowie seiner musikalischen Gestaltung ausgeleuchtet.

„A perfect storm“: Soziale Medien und ihre Marketing-Techniken

Popmusik ist nicht nur gekennzeichnet durch ihre musikalische Substanz, sondern auch durch bestimmte Verfahren der Komposition und Produktion, Distribution und Rezeption und durch bestimmte Funktionen für Individuum und Gesellschaft. (5) Am Beispiel von „drivers license“ wird deutlich, welche enorme Kraft eine geschickt inszenierte Kampagne in den sozialen Medien, gepaart mit einem gut geschriebenen und einigermaßen originellen Song, entwickeln kann. Mussten Interpret*innen in vergangenen Jahrzehnten noch intensiv in den einschlägigen Talkshows präsent sein, um sich und ihr aktuelles Album zu vermarkten, erreichen Olivia Rodrigo und ihre Kolleg*innen ihre Fans direkt über Kanäle wie Instagram oder TikTok. Das suggeriert Nähe, denn hier teilen die Stars vermeintlich Intimes und Alltägliches aus dem eigenen Leben mit ihrer Community. Man ist als Fan zwar nicht direkt beim Sonntagsausflug dabei, kann aber am Abend schon die zugehörigen Bilder im Netz bewundern. So ist es auch nur konsequent, dass man die Neuigkeiten über die aktuellen Höhen und Tiefen im Liebesleben der Künstler ebenfalls direkt von diesen erfährt und nicht mehr wie früher über Jugendzeitschriften oder das Musikfernsehen. Stars werden menschlicher, nahbarer – zumindest geben sie sich diesen Anschein.

Beim Song „drivers license“ wirkt es bestechend, wie scheinbar beiläufig geäußerte Schnipsel auf den sozialen Medien rückblickend wie perfekt geölte Zahnräder ineinander greifen: zuerst die kolportierte, aber nie offiziell bestätigte Liaison der beiden Darsteller Rodrigo und Bassett, dann das vermutete Ende dieser Beziehung irgendwann im Spätsommer vergangenen Jahres, alles unterfüttert durch ambivalente Äußerungen oder entsprechend zweideutige Bilder. Bereits im Herbst vermuten Fans, dass die 21-jährige Sängerin Sabrina Carpenter der Grund für das „Liebes-Aus“ zwischen Rodrigo und Bassett sein könnte, taucht sie doch überraschend häufig auf gemeinsamen Fotos mit Letzterem auf – natürlich immer nur als „gute Freundin“. So überrascht es nicht, dass auch Carpenter auf der „perfekten Welle“ mitreiten wollte: Sie veröffentlichte am 22. Januar – wiederum eine Woche nach Bassett – ihren neuen Song „Skin“, in dem gleich zu Beginn unverhohlen Bezug auf „drivers license“ genommen wird. Dort spricht Rodrigo von einem „blonde girl“, das so viel älter als sie selbst sei, und bei dem sie ihren Exfreund vermutet. Die blonde und ältere Carpenter antwortete darauf mit der sarkastisch formulierten Textzeile, „blonde“ sei wohl der einzig verfügbare Reim gewesen.

Verkaufswirksame „battles“

So bedient sich das Trio Rodrigo-Bassett-Carpenter nicht nur eines geschickt inszenierten klassischen Liebesdreiecks, sondern außerdem einer anderen Technik des Pop-Kosmos, die eigentlich vor allem mit dem Hip-Hop assoziiert wird: der sogenannten battles. Dabei treten zwei Künstler im direkten verbalen Schlagabtausch gegeneinander an, für gewöhnlich entscheidet das anwesende Publikum per Akklamation über den Sieger oder die Siegerin. Schon früh wurden solche battles aus der Live-Situation ausgekoppelt und auf das Format „produzierter Song“ übertragen, so dass sich die so entstehenden Fehden verkaufswirksam über Monate oder sogar Jahre hinziehen konnten.

Doch nicht nur hinsichtlich der Aspekte „Distribution und Rezeption“ ist „drivers license“ exemplarisch; zeittypisch ist der Song auch hinsichtlich der Frage, welche psychischen und sozialen Anknüpfungsmöglichkeiten er jedem einzelnen Fan bietet (Stichwort: „Funktion für Individuum und Gesellschaft“). Man hat hier die Möglichkeit, sich in der Dreiecksgeschichte klar einem „Camp“ zugehörig zu fühlen (z.B. „Ich bin für Olivia, Joshua und Sabrina sind die Bösen!“), in Fan-Foren oder auf den sozialen Medien endlos über die Bedeutung der neuesten geschickt platzierten Andeutung zu diskutieren oder das Narrativ des Songs weiterzuspinnen (dazu später noch etwas mehr).

Geschickt gesetzte Uneindeutigkeiten – auch in der Musik

Auch musikalisch bedient „drivers license“ zunächst scheinbar genre-typisch die Erwartungen der Fangemeinde, spielt jedoch auch hier durch geschickt gesetzte Uneindeutigkeiten mit eben jenen. Aus mehreren möglichen musikalischen Aspekten soll im Folgenden einer – der formale Aufbau – exemplarisch betrachtet werden: Der Song beginnt zunächst vergleichsweise unspektakulär mit einem Intro, bei dem sich der Warnton eines Autos in einen Viertelpuls auf b’ verwandelt. Dieser erweitert sich zu einer Klavierbegleitung, die zunächst alleine den ersten Verse (6) trägt. Nach einer etwas ungewöhnlichen Verkürzung – Verse 1 besteht nur aus 14, nicht aus den hier zu erwartenden 16 Takten – und einem Soundeffekt, der ein wenig an einen absterbenden Motor erinnert, schließt sich unmittelbar Verse 2 an. Hier wird die Instrumentierung erweitert durch einen geklatschten Rhythmus. In beiden Verses fällt ein „roh“ wirkendes Klangbild auf: Rodrigos Stimme ist ausgesprochen nah mikrofoniert (in bestem Billie-Eilish-Stil mit allen gut hörbaren Nebengeräuschen) und das Klavier klingt nicht wie ein teurer Steinway, sondern eher wie ein altes, aus einem Nebenraum aufgenommenes Instrument, das seine besten Jahre bereits hinter sich hat. Fast wirkt diese erste Minute des Songs wie eine unbearbeitete Demo-Aufnahme – in schöner Analogie zu den scheinbar spontanen und vermutlich doch sorgfältig inszenierten Fotos vieler Stars auf Instagram.

An den ebenfalls nach 14 Takten endenden Verse 2 schließt nun ein Formteil an, der sich nicht mehr ganz so einfach einordnen lässt: Mit den Worten „And I know we weren’t perfect...“ schraubt sich zunächst die Gesangsmelodie Ton für Ton nach oben, während gleichzeitig der neu hinzugekommene Bass den Tonraum nach unten erweitert. Diese zunehmende Dramatik wäre eigentlich typisch für einen Prechorus, also einen relativ eigenständigen Formteil zwischen Verse und Chorus. Charakteristisch dafür sind ein harmonischer Kontrast zum Verse, insbesondere eine Harmonik, die spannungssteigernd wirkt und den nachfolgenden Chorus vorbereitet. Alle genannten Merkmale finden sich hier: In der Mitte des Prechorus, beim Höhepunkt der Gesangsmelodie, kommt ein volles Streichorchester hinzu und der Zuhörer bereitet sich innerlich auf den Chorus vor – nur dass dieser nicht folgt! Stattdessen stürzt die sorgfältig orchestrierte Dramaturgie wie ein Kartenhaus in sich zusammen und – als wäre nichts gewesen – folgt Verse 3.

Ambivalenz mit didaktischem Potenzial

Ob dieser Formteil nun ein Prechorus, ein Chorus oder beides ist, mag diskutabel sein. Genau diese Ambivalenz bietet aber didaktisches Potential: Schablonenhafte Formteile in populärer Musik erkennen und benennen zu können, ist ein mögliches Unterrichtsziel. Die Ambivalenz einer Struktur wie bei „drivers license“ erkennen und beschreiben zu können ist hingegen mehr als nur eine Anwendungsaufgabe – hier ist problemlösendes Denken gefragt.

Auch der weitere Verlauf des Songs hält formale Überraschungen bereit: Auf den zweiten Prechorus folgt kein Refrain, sondern eine Bridge. Diese ist mit 32 Takten nicht nur ungewöhnlich lang, sie wechselt auch in ein half-time-feel und – zumindest gefühlsmäßig – von B-Dur in die parallele Molltonart g-Moll. Ein neues Klangbild mit chorisch aufgenommenem und stark verhalltem Gesang verstärkt den Eindruck, als wäre man plötzlich in einem „neuen Song“ angekommen. Nach der Bridge wird der opulente Klangeindruck noch einmal stark reduziert und fällt auf die Anfangsinstrumentierung mit Gesang und Klavier zurück – ein durchaus gängiges Stilmittel in der populären Musik, auf das üblicherweise noch einmal ein energiegeladenes Finale, gerne in Kombination mit einem Tonartwechsel, folgt. Doch auch das bleibt hier aus: Stattdessen endet „drivers license“ in dieser verhaltenen Stimmung und – unerwartet – nicht auf der Tonika B-Dur, sondern nach einer Art Coda auf g-Moll. Hier gibt es keine Katharsis, keine archetypische Heldin à la Céline Dion, die triumphierend und verklärt aus den Ruinen des Liebeskummers als bessere Version ihrer selbst aufersteht. Hier bleibt nur die leise Trauer über das Ende einer Beziehung, die offenbar nicht hat sein sollen.

Möglichkeiten für den Unterricht

Eine Liedeinstudierung zu „drivers license“ ist sicherlich denkbar, Material hierzu ist auch bereits erschienen. Freilich sind hier Anpassungen notwendig, der Originalambitus von g-es’’ dürfte die meisten schulischen Singgruppen überfordern.

Eine Betrachtung der Erfolgsgeschichte des Songs vor dem Hintergrund der Rolle und der spezifischen Indienstnahme sozialer Medien bei seiner Verbreitung (wie unter „A perfect storm“ erläutert) bietet sich auf jeden Fall an. Und noch in einem anderen Punkt lässt sich an aktuelle Social-Media-Praktiken anknüpfen: „drivers license“ hat eine Vielzahl an rewrites nach sich gezogen (7) – Fanversionen, bei denen mal mehr, mal weniger erfolgreich die Lyrics des Songs umgedichtet wurden und die Geschichte des Songs entweder weitergesponnen oder aus anderer Perspektive erzählt wurde. Dies könnte zum Anlass genommen werden, selbst ähnliche rewrites zu produzieren.

Im Kontext einer umfassenderen Betrachtung formaler Prinzipien in der populären Musik kann an „drivers license“ gezeigt werden, wie sich Songs diesen Prinzipien eben auch einmal verweigern können. Ergänzend könnte auch das Musikvideo zum Song einbezogen und auf Bezüge zur musikalischen Struktur hin untersucht werden.

Anmerkungen

1) Die korrekte englischsprachige Schreibweise wäre eigentlich „driver’s license“. Vermarktet wird der Song aber unter der hier verwendeten Schreibweise: ohne Apostroph und stets in Kleinbuchstaben geschrieben.
2) Bayer, Felix (2021): Wie »Driver‘s License« zum Welthit wurde. https://www.spiegel.de/kultur/musik/olivia-rodrigo-auf-nummer-1-wie-driver-s-license-zum-welthit-wurde-a-f037a786-503d-40ea-95c8-5ee5433c090d
3) Ebd.
4) Trust, Gary: Olivia Rodrigo‘s ‚Drivers License‘ Leads Hot 100 for 8th Week. https://www.billboard.com/articles/news/9536569/olivia-rodrigo-drivers-license-number-one-eighth-week-hot-100/
5) Vgl. Hofmann, B.: „Popmusik“. In: Helms, S. u. a. (Hg): Neues Lexikon der Musikpädagogik. Sachteil. Kassel u.a.: Gustav Bosse. S. 206-207.
6) Zur Unterscheidung von verse und Strophe vgl. Kaiser, U. (2011): Babylonian confusion. Zur Terminologie der Formanalyse von Pop- und Rockmusik. ZGMTH 8/1, 43–75. https://doi.org/10.31751/588
7) Eine Kompilation mehrerer TikTok-Covers und Rewrites findet sich beispielsweise hier: https://www.youtube.com/watch?v=AiO74Rq6B5I&t=847s

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