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Ein Jugendchor beim Singen.

Singen bewegt, hier der Landesjugendpopchor. Foto: Patrick Ehrich

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Ziele beim Singen mit Schulklassen

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Ausgewählte Ergebnisse einer Online-Befragung von Musiklehrkräften
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Seit es schulischen Unterricht in Musik gibt, steht das Singen mit Schulklassen entweder im Zentrum oder nimmt zumindest einen prominenten Platz ein. Nach einer Phase, in der sich der Musik­unterricht stärker an der Betrachtung von Kunstwerken orientierte, wird in der fachdidaktischen Literatur spätes­tens seit den 2000er-Jahren von einer Renaissance des schulischen Singens gesprochen. Trotz dieser Popularität gibt es Unsicherheiten dahingehend, welche Ziele mit dem Singen im Klassenverband verfolgt werden beziehungsweise werden sollen.

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So schreibt Inka Neus in ihrer Dissertation „Es wird vermutet, dass … unklar ist, was das Singen im Musikunterricht leisten soll“ (2017, S. 73). In ähnlicher Weise betont auch Andreas Lehmann-Wermser: „Die Popularität des Singens darf allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass viele didaktische Fragen offen bleiben“ (2017, S. 90).

Diese Situation war der Anlass für eine Untersuchung (Ehrich, i. Vorb.), die der Frage nachging, welche Ziele in Bezug auf das Singen mit Schulklassen von verschiedenen Beteiligten des Musikunterrichts formuliert und verfolgt werden. Dabei wurden auch Musiklehrkräfte direkt befragt. Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse dieser Befragung vorgestellt.

Ziele in der Fachliteratur

Vor der Befragung der Lehrkräfte wurde zunächst ausgewählte musikpädagogische Literatur seit der Jahrtausendwende ausgewertet. Zusätzlich wurden knapp 50 Lehr- und Bildungspläne der Jahrgangsstufen 6 beziehungsweise 5 und 6 aller deutschen Bundesländer analysiert. Dabei konnten bereits gut 30 verschiedene Ziele identifiziert werden, die in den unterschiedlichen Quellen mit schulischem Singen verknüpft werden. Die Bandbreite reicht dabei von Formulierungen, die einen eindeutigen stimmlichen oder sängerischen Kompetenzzuwachs nennen, über Ziele, bei denen das Singen andere musikalische Bereiche fördern soll (z. B. Veranschaulichung theoretischer Inhalte, Gehörbildung), bis hin zu Zielen ohne direkten musikalischen Bezug (z. B. die Förderung von sprachlicher oder sozialer Kompetenz durch das gemeinsame Singen). Angesichts dieser Vielfalt an Erwartungen, die mit dem schulischen Singen verbunden werden, lag es nahe zu vermuten, dass Musiklehrkräfte auf der Basis persönlicher Überzeugungen aus diesem Zielkatalog auswählen – sei es, weil sie bestimmte Ziele für besonders wichtig halten oder weil sie glauben, dass sich manche Aspekte im Unterrichtsalltag besser umsetzen lassen als andere.

Online-Befragung von Musiklehrkräften

Vor diesem Hintergrund wurde im Herbst 2023 im gesamten deutschsprachigen Raum eine Online-Befragung unter Musiklehrkräften durchgeführt, die unter anderem auch vom VBS beworben wurde. An dieser Befragung haben insgesamt 181 Musiklehrkräfte aus dem gesamten deutschsprachigen Bereich und aus fast allen Schularten teilgenommen. Allerdings war die Stichprobe nicht ausgewogen: Ein überproportional großer Anteil der Teilnehmenden stammt aus Bayern (87%) und/oder unterrichtet an einem Gymnasium (62%).
Die teilnehmenden Lehrkräfte wurden zunächst gebeten, die drei aus ihrer Sicht wichtigsten Ziele des Singens mit Schulklassen in Form von Freitext­antworten zu nennen. Anschließend wurden ihnen die in der Fachliteratur und den Lehrplänen gefundenen Ziele präsentiert mit der Bitte, diese hinsichtlich ihrer Relevanz für den eigenen Unterricht zu bewerten. Zudem wurden eine Reihe von demografischen Angaben und ausgewählte Aspekte des künstlerischen Selbstkonzepts erhoben.

Ziele von hoher Bedeutung

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Die Ergebnisse bestätigen die Vermutung, dass Musiklehrkräfte sehr bewusst aus den möglichen Zielvorgaben auswählen. Mehrere Zielformulierungen wurden von den befragten Lehrkräften als besonders relevant  eingestuft. Dazu gehört, dass die Schülerinnen und Schüler am gemeinsamen Singen Freude empfinden sollen und dabei ein positives Gemeinschaftserlebnis haben. Die Musiklehrkräfte sind außerdem überzeugt, dass sich durch kontinuierliche Arbeit die Singleistung einer Klasse als Gruppe erkennbar verbessern lässt. Viele sehen eine besondere Bedeutung des schulischen Singens darin, dass es für viele Schülerinnen und Schüler die einzige Möglichkeit darstellt, selbst aktiv zu musizieren.
Gleichzeitig gibt es auch mehrere Ziele, die zwar in der fachdidaktischen Literatur und den Lehrplänen genannt werden, für die befragten Lehrkräfte aber nur geringe Relevanz zu haben scheinen: So messen die Musiklehrkräfte einem musikalisch bzw. stilistisch angemessenen Vortrag und der Gestaltung eines Lieds mit erkennbarem Ausdruckswillen auffallend wenig Bedeutung bei. Auch die Schulung von Kreativität oder des ästhetischen Urteilsvermögens durch das Singen ist für die Befragten von nachrangiger Wichtigkeit. Zudem zeigen sie eine erkennbare Skepsis dahingehend, dass Schülerinnen und Schüler im Schulunterricht lernen können, nach Noten zu singen. Diese Ergebnisse sind bemerkenswert, da einige der hier als weniger relevant eingestuften Ziele zu den „traditionellen Zielen“ des Musikunterrichts zählen, die sich häufig in einschlägigen Quellen aus der Zeit vor und um die Kestenberg-Reform finden (z.B. Rolle, 1924). Interessant ist zudem, dass vermeintlich selbstverständliche Ziele wie intonatorisch oder rhythmisch korrektes Singen ebenfalls als weniger wichtig eingestuft werden, wenn auch nicht so deutlich wie die anderen oben genannten Ziele.

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Überraschende Befunde

Im Rahmen der Lehrkräfte-Befragung gab es eine Reihe weiterer überraschender Ergebnisse. So bewerteten weibliche Lehrkräfte die Relevanz von Zielen, die auf Transfereffekte abzielen, im Schnitt höher als männliche Lehrkräfte. Dies betrifft beispielsweise Aussagen, dass das schulische Singen die soziale Kompetenz, die kognitive Leistungsfähigkeit und die Persönlichkeitsbildung positiv beeinflusst. Hierbei sollte nicht unerwähnt bleiben, dass der Glaube an die Transferwirkung von Musik und Musikunterricht im Alltag und gerade auch unter Musiklehrkräften hohe Konjunktur hat, während auf wissenschaftlicher Ebene hierfür auffallend wenige Nachweise existieren (Dartsch et al., 2018; Knigge, 2014).
Eine weitere Überraschung zeigte sich hinsichtlich der Frage, ob Musiklehrkräfte, die selbst gerne singen oder einen Chor leiten, die Relevanz bestimmter Ziele des Klassensingens anders bewerten. Für diese Annahme fanden sich in den Daten der Lehrkräfte-Befragung keine Hinweise. Offenbar ist das eigene singbezogene Selbstkonzept von Musiklehrkräften unerheblich dafür, welche Ziele ihnen beim Singen mit Schulklassen wichtig sind.

Freitextantworten bestätigen die Relevanzbewertungen

Die zu Beginn des Online-Fragebogens erhobenen Freitextantworten der Musiklehrkräfte bestätigen die im Nachhinein vorgenommenen Relevanzeinschätzungen: Spaß oder Freude am Singen, stimmlicher und sängerischer Kompetenzzuwachs sowie das Erleben von Gemeinschaft beziehungsweise die Stärkung des Gemeinschaftsgefühls sind Zielangaben, die so oder in ähnlicher Formulierung auch in gut bis knapp der Hälfte aller Fragebögen genannt werden. Ein zusätzliches Ziel von Klassensingen, das in der Fachliteratur kaum in Erscheinung getreten ist, wird vom Code „Schulung von Selbstwahrnehmung“ abgebildet. In dieser Form kodierte Segmente finden sich in gut einem Zehntel der ausgewerteten Fragebögen.

Auffälligkeiten und Widersprüche

In den Antworten der befragten Lehrkräfte finden sich einige Auffälligkeiten und Wiedersprüche. Besonders hervorstechend ist dabei, dass zum einen die klare Überzeugung geäußert wird, dass über das schulische Singen mittelfristig die Singleistung einer Klasse gesteigert werden kann, dass aber zum anderen im Rahmen von kurzfristig erreichbaren Zielen intonatorisch und rhythmisch korrektem Singen wenig Bedeutung beigemessen wird. Speziell der zuletzt genannte Befund ist deswegen auffällig, weil ein Großteil der befragten Lehrkräfte (91%) entweder ein Lehramtsstudium für Gymnasium oder für das Unterrichtsfach absolviert haben, in dem sich Studierende über viele Semester im Anleiten von Ensembles üben.
Ebenfalls bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die hohe Relevanz, die Musiklehrkräfte dem Spaß am Singen und einem positiven Gemeinschaftserlebnis beimessen. Diese beiden Ziele zeigen deutliche Bezüge zur Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan (1993). Nach dieser Theorie müssen drei Bedürfnisse erfüllt werden, damit sich die angeborene „Tendenz zu Lernen und Entwicklung“ auch in schulischen Kontexten (im Sinne einer „Freude am Lernen“) entfalten kann: „das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, nach Kompetenzerleben und nach sozialer Eingebundenheit“ (Hasselhorn & Gold, 2022, S. 105). Gerade hinsichtlich des Kompetenzerlebens zeichnen die Relevanzeinschätzungen der befragten Lehrkräfte jedoch ein ambivalentes Bild.

Ausblick

Die Ergebnisse der Lehrkräfte-Befragung zu den Zielen, die diese beim schulischen Singen verfolgen, zeigen klare Präferenzen. Auffallend ist, dass sich viele der als besonders relevant eingestuften Ziele unter dem Attribut „schülerorientiert“ zusammenfassen lassen. Die als weniger wichtig bewerteten Ziele hingegen fokussieren überwiegend auf die korrekte oder angemessene Wiedergabe der erlernten Lieder.
Für zukünftige Forschung wäre es wünschenswert, die hier gefundenen Ergebnisse mit einer ausgewogeneren Stichprobe zu überprüfen. Zudem fehlt in der vorliegenden Untersuchung die Perspektive der Schülerinnen und Schüler vollständig. Diese Sichtweise in zukünftige Studien einzubeziehen, sollte ein wichtiges Ziel weiterer Auseinandersetzung mit dieser Fragestellung sein.

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