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„Bilder einer Ausstellung“ im Anneliese Brost Musikforum: Percussive Dimensions Arrangement von Bernhard Schimpelsberger und Kateryna Titova (mehr dazu auf Seite 6).

„Bilder einer Ausstellung“ im Anneliese Brost Musikforum: Percussive Dimensions Arrangement von Bernhard Schimpelsberger und Kateryna Titova (mehr dazu auf Seite 6). 
 

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Abenteuerreise oder Lieferdienst?

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Gedanken zu Musik und Demokratie anlässlich der WDR-Reihe „Musik der Zeit“
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Idealerweise fallen Wollen, Können und Machen zusammen. Denn nur so gelingt etwas in Politik, Arbeit, Sport, Spiel, Kunst, Musik. Doch nicht selten klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander, beispielsweise wenn einer Komposition ein Thema von außen aufgepfropft wird, statt es konkret in Material, Struktur und Form zu gestalten. Bloß behaupteter Inhalt wird beliebig und unglaubhaft. Musik ist dann auch nicht mehr frei erlebbar, sondern auf bestimmte Aussagen kanalisiert, die sich bequem begreifen und abhaken lassen.

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Proklamierte Botschaften muss man nicht mehr eigens erleben, fühlen, bedenken und befragen, was sie mit einem selbst zu tun haben. Durch prätentiös suggerierte Bedeutung wird Musik zum Surrogat beziehungsweise zum bloßen Gebrauchsgegenstand, der seinen Sinn nicht mehr in der eigenen Materialität und Medialität hat, sondern primär der Vermittlung außermusikalischer Narrative dient. Statt zu begeistern, überraschen, verunsichern und auf Abenteuerreisen zu schicken, verkommt Kunst zum Lieferdienst frei Haus für austauschbare Botschaften.

Das jüngste Konzert der Reihe „Musik der Zeit“ bot in der Kölner Philharmonie vier Werke in exzellenter Aufführung durch das WDR Sinfonieorchester unter präziser Leitung von Patrick Hahn. Doch zwei neue Stücke lösten ihre vollmundigen Ankündigungen nicht ein. Stefano Gervasoni assoziiert sein Violinkonzert „Tacet“ mit Demokratie. Statt auf Stille basiert diese Gesellschaftsordnung aber eher auf Diskussion und Wettstreit um die besten Argumente und Lösungen. Der von Ilya Gringolts mit ausgezeichnetem Schwung und Klangsinn gespielte Solopart dominierte virtuos alle anderen Musizierenden. Mehr autokratisch denn demokratisch wirkten auch herrische Akzente des Schlagzeugs, das lautstark verschiedene Abschnitte markierte. Viele Passagen wurden mehrmals wiederholt, als habe sie der Komponist mit dem Notenschreibprogramm x-mal kopiert, um sein Stück auf eine halbe Stunde zu strecken. Die auf der Stelle kreisende Musik wirkte selbstverliebt, lethargisch, richtungslos, schlaff. Hoffentlich ist sie damit nicht symptomatisch für den Zustand unserer Demokratie.

Als Uraufführung war Mikel Urquizas „Un désire démesuré d’amitié“ zu erleben. Das Konzertstück für das solistische Trio Catch und vielfarbig instrumentierte Orchester schuf mit erweiterten Spieltechniken eine große Palette an Gesten, Charakteren und ungewohnten Timbres. Die Musik ist vielstimmig, quirlig, bunt, voll zirkushafter Betriebsamkeit und exotisch zwitschernder Vögel. Aber ist sie deswegen schon Ausdruck von Queerness, wie der Komponist behauptet? Warum solch verengende Zuschreibung? Widerspricht diese nicht der intendierten Offenheit, Freiheit, Mehrdeutigkeit? Warum so exklusiv, wo sich doch alle Menschen im heiteren Miteinander erkennen könnten? Die thematische Aufladung soll „gesellschaftliche Relevanz“ garantieren, verrät aber letztlich nur Misstrauen gegenüber der ästhetischen Stringenz und Wirksamkeit der Musik.

Wuchtige Schläge mit großem Holzhammer wie in Mahlers 6. Symphonie „Die Tragische“ kann man als Protest gegen Repressalien verstehen, die queere Menschen erfahren. Ebenso deuten lassen sich die Hiebe aber auch als kreative Destruktion oder wütende Auflehnung gegen Ausgrenzung und Faschismus. Instrumente, Aktionen und Klänge sind eben nicht ein-, sondern mehrdeutig. Urquizas „Grenzenloses Verlangen nach Freundschaft“ gipfelt in einer finalen Samba. Der Tanz ist eine mitreißende Feier der Leichtigkeit und Lebenslust. Zugleich zwingt er zu ein und demselben Rhythmus, mit dem jeder mit muss. Der Tanz ist deswegen auch Ausdruck von Unfreiheit, kultureller Aneignung, kommerziellem Ausverkauf, diversitätsfeindlichem Uniformismus und Totalitarismus, wogegen Urquiza doch eigentlich protestiert.

Am stärksten politisch wirkte ausgerechnet das politisch unverdächtigste Stück des Abends: Luciano Berios „Bewegung“ von 1971. Der vor hundert Jahren geborene Komponist gibt seiner Musik keine Agenda. Dennoch erwachsen aus der besonderen Behandlung und Klanglichkeit des Orchesters sozialpolitische Implikationen. Die achtzig Musikerinnen und Musiker spinnen gemeinschaftlich ein feines Geflecht aus kleinen Intervallfolgen, Rhythmen, Liegetönen, die abwechselnd hervortreten und wieder in der Gesamttextur aufgehen. Die vielen gleichberechtigten Stimmen generieren mit ihrer je eigenen Individualität eine vielfarbig schillernde Kollektivität, deren sanftes Wogen einen hypnotischen Sog entfaltet, sich zu ozeanischer Kraft steigert, am Ende in klirrenden Höhen verdampft und die Hörenden mit der Vorstellung einer freiheitlichen, vielstimmigen, gemeinsinnorientierten Gesellschaft beseelt.

Seit dem 10. November ist Anselm Cybinski Redakteur für Neue Musik bei WDR 3. Der Geiger, Musikjournalist und Musikmanager spielte im Osnabrücker Symphonieorchester, war Dramaturg des Heidelberger Frühlings, Producer bei Sony, stellvertretender Geschäftsführer des Münchener Kammerorchesters und zuletzt Intendant der Niedersächsischen Musiktage. Nun verantwortet er die Reihe „Musik der Zeit“ und die „Wittener Tage für neue Kammermusik“. Ihm ist zu wünschen, dass er primär Musik in Auftrag gibt und allenfalls sekundär Themen setzt, und dass er neue Musik nicht nur für das WDR-Orchester plant, sondern in möglichst verschiedenen Besetzungen, stilistischen Ausprägungen und medialen Erscheinungsformen programmiert, die die Vielfalt und Internationalität neuer Musik ausmachen. Das wäre ein starkes Plädoyer für Diversität und Demokratie.

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