„Musik wirkt, Musik hilft, Musik fördert. Musiktherapie kann man studieren.“ Derart warben sechs Studiengänge im Rahmen der Kleine Fächer-Wochen an deutschen Hochschulen Anfang des Jahres 2020 für ihre Studienangebote. Die Standorte in Deutschland sind Augsburg, Berlin, Friedensau, Hamburg, Heidelberg und Würzburg/Schweinfurt. Doch was genau ist Musiktherapie heute? Und was hat sie mit Musikpädagogik zu tun? Diesen Fragen gehen auf den Dossierseiten 13 und 14 unsere Autorinnen Irmgard Merkt und Cordula Reiner-Wormit nach. In unserem nmz-Gespräch kommt Volker Bernius zu Wort, seit 40 Jahren Redakteur des Fachmagazins „Musiktherapeutische Umschau“ der Deutschen Musiktherapeutischen Gesellschaft.
neue musikzeitung: Musiker und Musikpädagogen sind derzeit stark von der Virus-Krise betroffen. Stellt sich das im Bereich der Musiktherapie ähnlich dar?
Volker Bernius: Das ist sehr unterschiedlich, je nachdem, wo und wie Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten arbeiten. Wenn sie in Kliniken angestellt sind, dann sind sie Teil des Gesundheitssystems und sorgen mit ihrer systemrelevanten Arbeit dafür, dass es zum Beispiel in psychosomatischen und psychiatrischen Kliniken auch gerade jetzt den Menschen besser geht. Das wird als unverzichtbar angesehen. Ganz anders ist es dagegen im ambulanten Bereich oder bei den frei und mit Honorarverträgen arbeitenden Musiktherapeuten zum Beispiel in der gerade so nötigen Unterstützung in Einrichtungen für alte Menschen, da ist es eher so wie bei den Künstlern und Musikpädagogen: Hier kann nur, wenn überhaupt, sehr reduziert gearbeitet werden und das ist für viele Patienten wie auch für etliche musiktherapeutische Kollegen sehr fatal.
nmz: Sie waren viele Jahre Bildungsredakteur beim Hessischen Rundfunk. Eigentlich haben Sie aber Theologie, Musik und Psychologie studiert. Wie sind Sie auf die Musiktherapie gestoßen?
Bernius: Meine Verbindung dieser Studienfächer war die Musiktherapie, die damals – Ende der siebziger Jahre – ihre ersten zarten Versuche in Deutschland machte. Und Neues hat mich schon immer interessiert. Zu der Zeit bot sich für mich aber die Gelegenheit, zum Hessischen Rundfunk zu gehen, wobei ich die musiktherapeutische Beziehung und das Interesse an der weiteren Entwicklung immer beibehalten habe.
Musiktherapie heute
nmz: Schildern Sie unseren Lesern den Stand der Musiktherapie heute: Wie verläuft die typische Ausbildung und was sind die zentralen Aufgaben eines Musiktherapeuten?
Bernius: Seit 1980 gibt es Studiengänge, die zu akademisch ausgebildeten Musiktherapeuten führen – zunächst in Heidelberg, dann in Hamburg an der Musikhochschule. Heute gibt es Bachelor- und Masterabschlüsse.
nmz: Mit der Zeit sind zwar Ausbildungsmöglichkeiten entstanden, mittlerweile wurden aber auch schon einige geschlossen. Wie erklären Sie sich diese gegenläufigen Tendenzen?
Bernius: In Münster, Frankfurt (und auch Magdeburg) gab es Ausbildungen, die heute nicht mehr existieren. Das liegt nicht an fehlender Nachfrage, sondern daran, dass sich die Länder und Hochschulen nicht entschließen konnten, diese Studiengänge aufrecht zu erhalten, nachdem die Studiengangsleiterinnen pensioniert wurden. Es gibt insgesamt noch sechs akademische Ausbildungen, davon eine nur mit Bachelorabschluss, die anderen sind Masterstudiengänge: hier braucht man einen anderen anerkannten Abschluss zum Beispiel als Musiker, (Sozial-)Pädagoge, Mediziner, Psychologe. Es gibt aber auch adäquate privat-rechtliche Ausbildungen.
nmz: Muss dieser Zugang als Manko empfunden werden? Ist Berufserfahrung nicht ein Plus?
Bernius: Das ist ganz in Ordnung, aber ein einziger grundständiger Studiengang für ganz Deutschland ist nicht ausreichend. Die Deutsche Musiktherapeutische Gesellschaft versucht da eine Veränderung zu initiieren, aber so etwas braucht einfach Zeit.
Politisch wirken
nmz: Wie wollen Sie die Anliegen der Musiktherapie kulturpolitisch durchsetzen?
Bernius: Der Deutsche Musikrat hat sich darauf festgelegt, dass der „Musiktherapeut“ zu den musikalischen Berufen gehört. Musiktherapeuten haben aber ein berufliches Dilemma: Sie sitzen immer zwischen zwei Stühlen, genauer zwischen dem Gesundheitswesen und dem Kultur- und Musikleben. Manchmal kommt noch ein dritter dazu, wenn die Bildungsverwaltung gefragt ist. Da müssen sich Musiktherapeutinnen und -therapeuten positionieren, denn sie wollen und müssen auch als Gesundheitsberuf anerkannt sein und nicht (nur) als Musikberuf. Der Beruf ist gesetzlich nicht geschützt, es braucht aber eine rechtliche Regelung, damit die Patientensicherheit und die therapeutische Qualität gewährleistet sind. Denn leider kann sich derzeit jeder Musiktherapeut nennen – auch dann, wenn er sich nur an drei Wochenenden fortgebildet hat. Die große Aufgabe der Verbände ist es also, politisch darauf hinzuwirken, dass es neben einem Ausbildungsrecht auch ein Berufsrecht gibt zum Wohle und zur Sicherheit aller, wie es zum Beispiel in Österreich seit 2008 als Gesetz eingeführt wurde.
nmz: Was bedeutet denn die Aufwertung zu einem kleinen Fach im Hochschul-Fächerkanon, die erst vor Kurzem stattgefunden hat?
Bernius: Musiktherapie wird als wissenschaftliches Fach anerkannt und auch gefördert. Das Fach kann seine Alltagsrelevanz zeigen als ein für die Gesellschaft bedeutsames therapeutisches Verfahren, das immer da wirkt, wo Menschen sich mit Sprache allein nicht ausreichend verständigen können. Die Musik kann ein erstes Mittel sein, um in Kontakt zu treten und therapeutische Beziehungen zu entwickeln. Ob es nun ein Baby in der Frühgeborenenstation ist oder ein Mensch auf der Palliativstation: Musiktherapie umfasst alle Lebensphasen von Anfang bis Ende. Dass Musik immer mit uns ist, selbst in der Erinnerung bis zum Schluss, zeigt uns ja die Neurowissenschaft seit etlichen Jahren.
nmz: Was gibt es denn neben dem Musikrat für andere natürliche Partner? Die Musikpädagogen ziehen ja nicht unbedingt am gleichen Strang wie die Musiktherapeuten …
Bernius: Bei aller auch nötigen Abgrenzung zwischen Therapie und Pädagogik: Es gibt heute einige Initiativen, Musiktherapie in pädagogische „Settings“ einzubringen, nicht nur in Musikschulen, sondern auch in anderen Schularten, in der Jugendarbeit et cetera.
nmz: In Ihrer Zeitschrift haben Sie vor kurzem ein Buch besprochen mit der Überschrift „Musiktherapie in pädagogischen Settings“ ...
Bernius: … in meinem Resümee habe ich auch gefragt, was denn die Schulverwaltungen zu „Musiktherapie in der Schule“ sagen. Die große Aufgabe derjenigen, die das unterstützen, wird künftig sein, dort den Kontakt aufzubauen. Es gibt bereits musiktherapeutische Angebote für Schulen, wie zum Beispiel ein Projekt in Bayern zum Thema Gewaltprävention. Die Musiktherapeuten sollen also unbedingt innovativ bleiben und werden, das gehört zum Fach dazu.
nmz: Was ist innovativ in der Musiktherapie? Können Sie Beispiele nennen?
Bernius: In den letzten Jahren etwa ist ein Zweig entstanden: die neurologische Musiktherapie. Dabei geht es um Patienten mit Parkinson oder Schlaganfall. Hier kann man mit musikalischen Mitteln, zum Beispiel rhythmusbetont, Bewegungen wieder neu lernen.
Auch neu ist die Arbeit mit „Frühchen“, wo man nicht nur mit der Stimme der Mutter, sondern auch mit ganz sensiblen weichen Klängen arbeitet und wo beobachtet wird, dass diese Kinder durch qualifizierte musiktherapeutische Angebote in ihrer Entwicklung gefördert werden können.
nmz: Musiktherapeuten sind auch sehr innovativ, was Instrumente angeht. Sie haben ja auf der Musikmesse 2019 schon einige davon präsentiert.
Bernius: Wir haben einen Wettbewerb gemacht für Musikinstrumente, die sich besonders für die Therapie eignen, analoge wie digitale, und die ganz einfach ohne Vorkenntnisse spielbar sind. Solche, die beim Improvisieren die Kommunikation fördern und Gefühle auslösen oder Entspannung ermöglichen können. Von daher entwickeln Musiktherapeuten immer neue klangliche Möglichkeiten. Nur ein Beispiel von vielen: Es wurde eine neue Klangsäule entwickelt, die nach dem Prinzip des Regenrohrs funktioniert. Nur, dass beim Regenrohr der Klang bestenfalls 15 Sekunden andauert und hier sind es zwischen 7 und 15 Minuten durch die spezielle Bauweise. Es ist als stresshemmender, aufbauender Hintergrundklang konzipiert und funktioniert analog.
Digitalisierung
nmz: Also spielt die Digitalisierung keine allzu große Rolle in der Musiktherapie? Es wird doch sicher Therapeuten geben, die auf eine digitale Klang-Bibliothek zurückgreifen?
Bernius: Digitalisierung wird zunehmend wichtiger, gerade auch in der musiktherapeutischen Arbeit mit Jugendlichen oder in der inklusiven Arbeit. Gerade in der Corona-Zeit werden Musiktherapeuten, wie viele, digital aktiv bis hin zur Frage, wie sich Therapie online durchführen lässt. Es wird spannend sein zu sehen, was sich da in Zukunft entwickeln wird.
nmz: Wie ist es mit dem späteren Berufsbild? Ist schon eine gewisse Sättigung erreicht oder ist Musiktherapie ein Wachstumsfach?
Bernius: Aus meiner Sicht ist es ein Wachstumsfach. Ich will ein Beispiel nennen: Die SRH-Hochschule in Heidelberg hat in den letzten beiden Jahren ein Forschungsprojekt mit alten Menschen durchgeführt – finanziert unter anderem vom Bundesforschungsministerium. Das Projekt wandte sich an die drei Gruppen in Alteneinrichtungen: Patienten, Angehörige und Pfleger. Die Studien zeigen, dass die Musiktherapie für alle drei Gruppen von Nutzen war. Die Pfleger hatten zum Beispiel eine große Stress-Entlastung, die Angehörigen haben neue Beziehungen geschaffen und für die alten Menschen verbesserte sich die Lebensqualität. Rechnet man diesen potenziellen Bedarf jetzt hoch und nimmt an, dass jedes Altersheim zum Beispiel einen Musiktherapeuten braucht, dann wären allein in Baden-Württemberg eine vierstellige Zahl von Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten nötig.
Musiktherapie auf Rezept?
nmz: Ein Problem ist, dass Musiktherapie als Heilmittel nicht anerkannt ist, oder? Der freiberufliche Musiktherapeut kann sich also nicht wie ein Psychotherapeut niederlassen.
Bernius: Dies trifft vor allem auf den ambulanten Bereich zu, auf die freiberuflichen Musiktherapeuten, deshalb braucht es ja die rechtlichen Regelungen. Gerade im letzten Jahr gab es verstärkt Gespräche mit dem Gemeinsamen Bundesausschuss und Ministerien. Ich hoffe, dass sich in einigen Jahren Musiktherapeuten auch niederlassen können.
nmz: Fehlen denn die Mittel zur Wirkungsforschung oder liegt ein anderes Problem vor?
Bernius: In den letzten 30 Jahren sind unzählige Forschungen zur Musiktherapie dokumentiert. Die internationale Wissenschaft hat also geliefert und wird weiter liefern. Im letzten November gab es einen Bericht der WHO zum Nutzen kultureller Aktivitäten für die Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung. Über 900 weltweite Studien wurden dort ausgewertet. Bisher ist dieses Gutachten überwiegend unbeachtet geblieben. Die Frage ist, wie bekommen wir die wissenschaftlichen Erkenntnisse und den vielfältigen praktischen Nutzen mit einem Handlungsauftrag zu politischen Entscheidungsprozessen.
Die Musiktherapie ist nicht die Automobilindustrie oder die Deutsche Fußball-Liga …, es fehlt also an Lobbyisten, diese gesellschaftlich relevante Aufgabe der Musiktherapie zu unterstützen und damit politisch Nachdruck zu verleihen.
nmz: Und wenn ich wissen will, in welchen Berufsfeldern ich als Musiktherapeut arbeiten kann, wo schlage ich nach?
Bernius: Musiktherapeutinnen und Musiktherapeuten arbeiten heute in vielen beruflichen Feldern, einen guten Überblick gibt die website www.musiktherapie.de. Dort sind die Arbeitsfelder auch mit eindrücklichen Beispielen dargestellt.
Das Gespräch führte Andreas Kolb