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Hamburger Michel: Dachboden versteckt Seltenheit

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Orgelklang aus der Ferne - Michel-Dachboden versteckt Seltenheit

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Wer sich im Michel umschaut, entdeckt auf den ersten Blick drei Orgeln. Eine vierte Orgel gibt es in der Krypta, eine fünfte ist mobil und eine sechste ist oft zu hören, aber selten zu sehen.

Im Michel gibt es eine Orgel, die ganz versteckt auf dem Dachboden steht und doch fast jeden Tag in der berühmten Hamburger Kirche zu hören ist: mal sind es Trompetenklänge, oft ganz normale Orgeltöne und manchmal sogar das Geräusch von Regentropfen. Das Instrument auf dem Dachboden ist ein sogenanntes Fernwerk - eine Orgel, die Organist Magne Draagen von der Empore der St. Michaelis-Kirche aus spielt und deren Töne über ein Schallloch in der Decke in den Kirchenraum quasi rieseln.

Mystischer Effekt

«Diese Orgel ist eher ein Effekt», sagt der 50 Jahre alte Organist, der vor seiner Zeit in Hamburg bereits in Norwegen auf mehreren großen und berühmten Orgeln gespielt hat. Denn die Orgel steht nicht nur weit weg, sie hört sich logischerweise auch weit weg an. «Damit kann ich keinen Chor direkt begleiten. Aber ich kann einen Effekt erzielen, der etwas Mystisches hat, einen Klang aus der Ferne.»

Wer in den Mittagsandachten im Michel genau hinhört und sich auf das golden gestrichene Gitter an der Michel-Decke konzentriert, dürfte die besonderen Töne des Fernwerks heraushören. «Ich spiele es eigentlich in jeder Mittagsandacht. Unter anderem, weil es so einen Wow-Effekt hat», so Magne Draagen. Es sei interessant, die Besucherinnen und Besucher bei ihrer Suche nach der Herkunft des Klanges zu beobachten.

Unter dem Kirchendach

Wer nun glaubt, dass der Organist während der Mittagsandacht dafür zwischen zwei Orgelstücken fix alle 122 Stufen zum Fernwerk sprintet, der irrt. Die Orgel kann, wie zwei der drei Hauptorgeln, von anderer Stelle aus bedient werden: dem Zentralspieltisch.

Im Grunde genommen geht Magne Draagen nur dann auf den Dachboden zu dem Raum mit der seltenen Orgel, wenn sie gestimmt werden muss. Das muss er aber nicht sehr oft tun: «Nur, wenn das Fernwerk verstimmt ist. Aber in diesem Sommer ist es bislang ganz stabil. Es ist jetzt das erste Mal, dass ich hochlaufe.»

Neue Orgel dank spendabler Hamburgerin

Die Orgel ist sehr gut in Schuss, was sicherlich auch daran liegt, dass sie noch gar nicht so alt ist. Erst 2009 wurde sie Teil der Orgelanlage des Michels. Dank der Hamburgerin Lieselotte Powalla, die den Klang vom Vorgängerfernwerk aus ihrer Kindheit und Jugend kannte und liebte. Sie und ihr Ehemann finanzierten deshalb nicht nur die neue Orgel, sondern die Instandsetzung der gesamten Orgelanlage und einen Großteil der Innensanierung. Das erste Anspielen der rekonstruierten Dachboden-Orgel erlebte die Stifterin Lieselotte Powalla aber nicht mehr: Sie starb wenige Monate davor.

Das Michel-Fernwerk ist eines von wenigen in Deutschland. Magne Draagen geht von 15 bis 20 aus. Eines davon steht in der Nachbarschaft des Michels: In der Kirche St. Nikolai, wie Orgelbauer Reiner Janke weiß. Er hat die Michel-Orgeln mitgebaut und wartet sie regelmäßig. Auch im Freiburger Münster sei vor ein paar Jahren ein neues Fernwerk eingerichtet worden.

Fernwerke galten früher als Kitsch

Experte Janke kennt die Geschichte der besonderen Orgeln. «Fernwerke gibt es erst seit etwa 1900. Sie sind meist elektrisch angesteuert.» Vorher sei es technisch nicht möglich gewesen, diese Fernwerke zu spielen. Viele der stets unter dem Dach der Kirche angebrachten Fernwerke seien zudem durch Kriegseinwirkungen zerstört worden. «In den 50er, 60er Jahren waren Fernwerke ganz verpönt, sie galten als musikalischer Kitsch», so Janke.

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