München - So viel Wirbel um die Absage eines Opernstars war selten. Für den britischen Musikjournalisten Norman Lebrecht war Anna Netrebkos Rückzug von der Premiere von Puccinis «Manon Lescaut» in München die «Absage des Jahres». Der Eklat wirft erneut ein Licht auf den globalisierten Klassikzirkus.
Als die russische Diva Anna Netrebko zwei Wochen vor der Premiere von Giacomo Puccinis «Manon Lescaut» an diesem Samstag (15.11.) die Titelrolle Knall auf Fall hinwarf, hielt die Klassikwelt den Atem an. Als «Absage des Jahres» bewertete der britische Musikjournalist Norman Lebrecht in seinem bekannten Blog «Slippedisc» den Eklat an der gerade zum «Opernhaus des Jahres» gekürten Bayerischen Staatsoper.
Offiziell waren Unstimmigkeiten zwischen Netrebko und Regie-Altstar Hans Neuenfels der Grund für den spektakulären Rückzug. Insider fragen sich erstaunt, wie man überhaupt auf den Gedanken kommen konnte, einen in der ganzen Welt tätigen Superstar wie Netrebko ausgerechnet mit Neuenfels zusammenzuspannen. Christine Lemke-Matwey, Musikkritikerin der «Zeit», sieht denn auch den «eigentlichen Skandal» in der Behauptung der Bayerischen Staatsoper, das «flüchtige Startheater» sei so ohne weiteres mit dem deutschen Regietheater zusammenzukoppeln.
Auf jeden Fall wirft der für das Münchner Opernhaus durchaus publicityträchtige Vorfall wieder einmal ein Schlaglicht auf den internationalen Klassikzirkus. Mit gekränkten Diven, eitlen Regisseuren, mehr oder weniger skrupellosen Agenten, event-geneigten Intendanten und beständig durch die Welt jettenden Stand-by-Stars.
Früher seien Absagen eine «absolute Sondersache» gewesen, sagt Brigitte Fassbaender. Die einstige Mezzosopranistin, Intendantin und heutige Opernregisseurin kennt den Markt aus allen Perspektiven. Heute hätten zumindest die Superstars «Carte blanche». Als Intendant oder Regisseur sei man völlig ausgeliefert. »Die Stars braucht man für die Kasse, und da geht man auch gewisse Risiken ein.» Sie kenne sogar einen Sängerkollegen, der überhaupt keine Verträge mehr unterschreibe, sondern sich bis zuletzt alles offen halte. «Wenn sich etwas Lukrativeres bietet, steigt der rigoros aus. Und weil er keinen Vertrag unterschrieben hat, bleibt das ohne negative Folgen.»
Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass Anna Netrebko als vergleichsweise uneitel und kollegial gilt. Dass sie sich kurzfristig für eine Vorstellung von Peter Tschaikowskys «Eugen Onegin» bei den Münchner Opernfestspielen 2015 zur Verfügung stellte, wirft ein gutes Licht auf die russische Künstlerin. Wobei man sich fragen muss, ob ihr die gewagte Inszenierung des polnischen Regisseurs Krzysztof Warlikowski mit einem verkappt schwulen Onegin und einer Rotte lasziver Cowboys mehr liegen wird als die bislang noch unbekannte Sicht von Neuenfels auf Puccini. Zumindest dürfte sich der Probenaufwand für Netrebko im nächsten Sommer in Grenzen halten.
Viel zu vollgestopft seien heute die Terminkalender nicht nur der ganz großen Stars, wettert Fassbaender. «So was wie früher, drei bis vier Monate an der MET für ein oder zwei Produktionen und eine ganze Serie von Aufführungen, das gibt es nicht mehr. Heute reisen die Sänger zwischen zwei Aufführungen für andere Engagements einmal um die ganze Welt. Das ist doch der totale Raubbau.» Nicht selten stehen Stars dann mit Jetlag oder Klimaanlagen-Erkältung auf der Bühne und versuchen, sich mit Tabletten und doppeltem Espresso über Wasser zu halten.
Im vergangenen Jahr hatte die österreichische Sängerin Elisabeth Kulmann die angebliche «Sklavenmarkt-Politik» der Branche öffentlich angeprangert. Sie beklagte zu schwere Rollen, zu hohe Aufführungsdichten und in der Breite schlechte Bezahlung. Vor allem freie Sänger ohne festes Engagement seien gezwungen, immer mehr unannehmbare Verträge zu unterzeichnen.
Natürlich sei das Leben für international tätige Sänger infolge der Globalisierung schwieriger geworden, sagt Rolf Bolwin, Geschäftsführer des Deutschen Bühnenvereins. Doch die Verantwortung liege auch bei den Sängern selbst. Welche Engagements man annehme oder ausschlage, welche Partie man sich zumute, ob man einem Theater helfe, kurzfristig einspringe und dafür vielleicht eine weite Reise in Kauf nehme, das sei doch letztlich die Entscheidung der Künstler. Wobei sich selbst Stars mit häufigen Absagen ins eigene Bein schnitten: «Das spricht sich in der Branche schnell herum und schadet dem eigenen Marktwert.»
Fassbaender erinnert sich an Zeiten, als mit Sängern noch «wissender» umgegangen worden sei. Früher seien die meisten Rollen mehrfach besetzt gewesen, mit Sängern aus dem eigenen Ensemble. «Das war alles abgesichert, hinten und vorne.» Heute seien viele Ensembles unter dem Spardruck stark geschrumpft. «Da gehen die Sänger von einer Produktion in die nächste und singen alles, was kommt.» Die Kollegen müssten viel Vernunft und Verantwortungsbewusstsein mitbringen, um sich nicht dem Betrieb auszuliefern. «Doch die meisten lassen sich kaputt machen. Die Selbstüberschätzung ist dem Sängerleben leider immanent.»
Georg Etscheit