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10 Jahre Transcultural Music Studies 2019 an der HfM Franz Liszt. Foto: Maik Schuck
10 Jahre Transcultural Music Studies 2019 an der HfM Franz Liszt. Foto: Maik Schuck
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Fetischisierung oder Entzauberung ?

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Vom Umgang mit dem musikalischen Kanon
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Im April 2021 richtete Fabien Lévy kritische Fragen an die Ausbildung und zur Rolle deutscher Musikhochschulen (nmz 4/2021). Seine Verwunderung bezieht sich auf die stark kodierte und eng am westlichen kulturellen Erbe ausgerichtete Instrumental- und Gesangspraxis in diesen Institutionen. Die Tendenz, dass demzufolge Absolventinnen und Absolventen von Musikhochschulen ein „eher konservatives bürgerliches Publikum“ bedienen, das kaum bereit ist, „andere Repertoires, andere Autor*innen und andere Hörweisen“ als die der sogenannten europäische Kunstmusik zu rezipieren ist offensichtlich. Für Fabien Lévy sind Lehre und Praxis der „ernsten Musik“ an Musikhochschulen wesentlich bestimmt von Virtuosität und von der Kontinuität einer bestimmten Aufführungstradition, die er beschreibt und kritisch hinterfragt.

Daran anknüpfend soll im vorliegenden Text – aus Anlass des 150-jährigen Jubiläums der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar – der Hegemonieanspruch des kanonisierten europäischen Musikwerks gegenüber den Musikkulturen der Welt thematisiert werden. Auch die Rolle der Musikwissenschaft und insbesondere der Musikethnologie rückt angesichts globaler Vielfalt von musikalischem Kulturerbe in das engere Blickfeld. Das Interesse dabei ist zu verstehen, wie und warum es zu dem kommen konnte, was wir heute an unseren Musikhochschulen leben – und erleben.  

Musik

Es geht um Musik im engeren Sinne, um Musik als eine Tätigkeit von Menschen (musizierend, rezipierend, vermittelnd, reflektierend etc.), als alltägliches Erlebnis, als eine jede Gesellschaft und alle Zeiten auszeichnende spezifische Ausdrucksform, die wie kaum eine andere menschliche Äußerung sowohl Gemeinsamkeiten als auch grundlegende Unterschiede unterstreicht. Das heißt, Musik ist intra-, inter- und transkulturell bedeutsam, spielt sich in jeder gesellschaftlichen Schicht und in mannigfachen Kontexten ab, wird genutzt und bekämpft, wird gleich gut oder schlecht von Profis wie von Amateuren erzeugt, ist wichtigstes nonverbales Mittel von Kommunikation, muss andererseits nichts aussagen, ist bedeutsam und bedeutungslos in einem, kann überlebenswichtig oder aber auch überflüssiges Beiwerk sein. Musik ist für jede und jeden wieder anders, wirkt identitätsstiftend und verbindend, ist das alles und sehr viel mehr zugleich.

Musik ist in jeder Gesellschaft elementar. Selbst in noch so schwierigen Zeiten bleibt Musik ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Und wenn sie nicht erklingt, ist das Motiv dafür ein schwerwiegendes: In Afghanistan ging die Machtübernahme der Taliban mit dem augenblicklichen Verstummen von Musik einher (nmz 2/2022); an einem Vormittag in Kiew, Anfang März 2022, zwei Wochen nach Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine, „schreit die Stille auf den Straßen.“ [1]

Wissenschaftlich gesehen beschränkt sich Musik weder alleine auf bestimmte Schallwellen, noch auf ein Autograph oder die Notenausgabe einer Komposition. Sie ist immer viel umfänglicher und komplexer als diese beide zusammen – sie ist derart vielfältig, dass ich selbst als Musikwissenschaftler und als Direktor eines Instituts für Musikwissenschaft nicht in der Lage bin in zwei Sätzen zu definieren, was das Objekt bzw. das Subjekt meines wissenschaftlichen Faches ist: die Musik.  

Der Vermittlung dieses hochkomplexen Phänomens haben sich Lehrende an Musikhochschulen verschrieben, und sie tun dies auf einem sehr hohen Niveau: „Anders als die deutschen Universitäten, genießen die deutschen Musikhochschulen international einen uneingeschränkt hervorragenden Ruf.“ So hat sich einmal der Präsident der Humboldt Universität Berlin zur universitären Musikausbildung in Deutschland geäußert.[2]

Unbehagen

Mit diesen Vorüberlegungen ist es im Hinblick auf die professionelle Musikausbildung hierzulande nicht getan. Innerhalb und auch außerhalb deutscher Musikhochschulen kommt vermehrt ein Unbehagen an der eigenen Kultur auf,[3] ein schlechtes Gewissen oder zumindest das Kopfschütteln darüber, dass an diesen Institutionen überwiegend abendländische, vor allem klassische Musik vermittelt wird. Der Ausbildungsfokus liegt auf einem Verständnis von Kunstmusik, das die Vielfalt an anderen musikalischen Ausdrucksformen exkludiert, eine musikalische Vielfalt, die im überwiegenden Teil des Lehrprogramms nicht vorgesehen ist. Von diesem Unbehagen ausgelöst rücken die Errungenschaften der musikalischen Kultur, um die es in den Musikhochschulen vorrangig geht, in ein fragwürdiges Licht. Ihr Kanon, das Repertoire also, dem sich die künstlerische Ausbildung primär widmet, steht heute zunehmend auf dem Prüfstand.

Der musikalische Kanon

Dass der musikalische Kanon, über den an deutschen Musikhochschulen der größte Konsens herrscht, aus Musikwerken einer Zeitspanne von nur 170 Jahren besteht (1850–1920), die von weißen und männlichen Komponisten geschaffen wurden, weitgehend in Ländern, die im 19. Jahrhundert Kolonialmächte waren, ist ein Fakt.[4]

Lässt sich dieser Kanon angesichts des Bewusstseins darum erweitern bzw. können einzelne Werke neu eingeschätzt und ihm hinzugefügt werden? Oder muss sich nur der Umgang mit ihm ändern?[5] Einen gewichtigen Beitrag dazu kann an Musikhochschulen geleistet werden. Hier werden auf ideale Weise künstlerisch-pädagogische Praxis und Wissenschaft in einen fruchtbaren Austausch gebracht. Diese Verbindung ist sehr bedeutsam und fehlt zum Beispiel an Universitäten. Sie fehlt oft auch an Theater- und Konzerthäusern, in Medienanstalten, Produktionsstätten und in der sogenannten Musikwirtschaft.

Einzigartigkeit

An Musikhochschulen geht es zunächst nicht primär um musikalische Vielfalt, auch wenn diese Forderung, vom Deutschen Musikrat voran getrieben, immer stärker in den Debatten um das öffentlich geförderte Musikleben ertönt.[6] Es ist die Einzigartigkeit, die sich mit den einzelnen Werken des zu erlernenden Repertoires an Musikhochschulen verbindet, die zählt. Dies kommt sowohl im Spezifischen, bei für einzelne Instrumente relevanten Werken zum Tragen, bei Kontrabass-Studierenden andere Stücke als die in einer Hornklasse. Zugleich spielt auch die Einzigartigkeit einzelner Werke bei der künstlerischen Ausbildung eine wichtige Rolle, vom Instrument aus in die Kammermusik und dann in das Orchesterrepertoire, wenn wir bei der klassischen Instrumentalausbildung bleiben, die sich wesentlich an der Besetzung eines klassisch-romantischen sinfonischen Orchesters orientiert.

Mit dem Unikat im musikalischen Werk verbinden sich die Begriffe der Uraufführung und der Interpretation. Das heißt, nur in der abendländischen kunstmusikalischen Tradition, und auch dort wo sich dieses Konzept etabliert hat, lässt sich im eigentlichen Sinne Musik uraufführen und interpretieren. Bei einer Interpretation stellen sich Musizierende in den Dienst der urheberrechtlich geklärten Komposition. Diese muss der Forderung etwas Neues auszusagen standhalten (Mozart durfte nicht mehr wie Bach, Brahms nicht mehr wie Mozart komponieren usw.). Dies bedeutet zugleich, dass so genannte europäische Kunstmusik spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts zweck- und funktionslos wurde, sie stand für sich (war „autonom“ bzw. „absolut“), was eine völlig abwegige Vorstellung in meisten anderen Musikkulturen wäre. Bestenfalls spiegelt die abendländische Musikgeschichte gesellschaftliche Gegebenheiten ihrer Zeit und ihres Umfeldes, ist aber selbst nicht sozial, korreliert dabei nur als Spiegelbild des hier stattfindenden sozialen Fortschritts (wie z.B. in der Musiksoziologie Theodor W. Adornos und in marxistischer Musikästhetik thematisiert).

Die Tatsache, dass nur in „abendländisch konzipierter“ Musik Uraufführungen stattfinden, führte den Musikhistoriker Tom Kelley, Harvard University, dazu den Undergraduates seiner Universität seit Jahren die Vorlesung „The First Night“ anzubieten, bei der er Geschichten um die Uraufführungen bekannter – kanonisierter – Werke des abendländischen Musikrepertoires kommentiert. Kelley belegt hiermit die buchstäbliche „Entjungferung“ eines musikalischen Werkes („the first night“), wenn es erstmals in der Öffentlichkeit erklingt, meist im Rahmen eines abendlichen Konzerts. Während Uraufführungen nach wie vor integraler Bestandteil des europäischen Konzert- und Festspielwesens sind, verbindet sich bei orientalischen Musiktraditionen jede musikalische Darbietung alleine mit dem Moment der Klangwerdung immer wieder von neuem. Es gibt hier mithin nicht diesen ausschließlichen und einmaligen „Urmoment,“ sondern jedes Spiel, jedes musikalische Ansetzen der Stimme birgt ihn wieder neu in sich.

Experiment und Tradition

Einzigartigkeit, Fortschritt und Absolutheit fordern das Experiment heraus. Es ist geradezu ihre zwanghafte Präsenz im abendländischen Musikerbe, die das Experimentieren, insbesondere in der so genannten zeitgenössischen Musik ermöglicht. Hier ist das Experimentelle in der Musik vorgesehen, ist geradezu Programm geworden. Wo hingegen ein persönlicher Umgang mit einem tradierten Regelwerk erwartet wird, ist man eventuell dem Experimentieren gegenüber weniger aufgeschlossen: Ein indischer Raga innerhalb des modalen Systems in der klassischen indischen Musik lässt die Veränderung spezifischer skalarer Konfigurationen kaum zu. Während jedoch erstere, die uraufgeführte Musik, universellen Anspruch erhebt, entbehrt die Musik, die im Augenblick entsteht und auf diese Weise immer wieder erneuert wird, einen vergleichbaren universellen Anspruch.[7] Womöglich tritt sie je nach kontextuellem Anlass in Resonanz mit dem Universum; selbst universal sein zu wollen – wie die abendländische Kunstmusik – war jedoch nie ihr Ansinnen und Zweck. Diese sind und bleiben Anspruch der kanonisierten abendländischen Tonkunst.

Hegemonie

Daraus folgt die immer wieder gestellte Frage: Kann die abendländische Kunstmusik für eine aus heutiger Sicht auf den Kanon zurückzuführende und zu kritisierende Komponente – nämlich ihren globalen Hegemonieanspruch und ihre Machtrepräsentation – zur Verantwortung gezogen werden? Zwar wird Musik nicht automatisch von einem hegemonialen Kern bestimmt, sie wurde und wird aber dafür instrumentalisiert und mit hegemonialen Intentionen eingesetzt. So war Franz Liszts Sinfonische Dichtung Nr. 3 „Les Préludes“ nicht schuld daran, dass ihr Finale fast 80 Jahre nach ihrem Entstehen in der „Deutschen Wochenschau“ zur Verherrlichung der Wehrmacht 1941 missbraucht wurde, als Klangspur unter anderem zum Bombenhagel deutscher Flugzeuge auf russische Städte.[8] Weder sein Werk noch Franz Liszt können dafür in die Verantwortung genommen werden.

Transkulturation

Die Globalgeschichte zeigt, dass Hegemoniestreben auch unerwartete Prozesse auslösen kann: Hegemoniale Einflussnahme wird in kolonialen Kontexten nicht nur gezwungenermaßen erduldet, wie es postkoloniale Diskurse nahelegen, sondern erfährt vielfach offenes Interesse und kreative Weiterverarbeitung. Das hat zu musikalischer Transkulturation geführt, indem kanonisierte europäische Musik anderweitig derart verinnerlicht wurde, dass sie neue und eigene Ergebnisse hervorbrachte. Hierbei sind Vorgänge musikalischer Entwicklung mit denen innerhalb von Religionen vergleichbar: Das Christentum wurde vielen Völkern missionarisch aufgezwungen. Heute spielt es aber in spezifischen sozialen Kontexten eine eigenständige Rolle, auch und gerade im transkulturellen Austausch mit anderen religiösen und ethischen Überlieferungen. Die christlichen Konfessionen aus dem gegenwärtigen Religionsleben in Asien, Afrika oder Lateinamerika herausfiltern zu wollen, nur aufgrund ihrer von Kolonialismus und Missionierung geprägten Geschichte, wäre selbst ein autoritäres, gewissermaßen re-missionierendes (und re-kolonisierendes) Ansinnen. Was Musik betrifft, verhält es sich ebenso: das Verbot etwa von Dur-Moll tonalen Strukturen jenseits des Abendlands – weil im 19. Jahrhundert dorthin gebracht – wäre eine den lokalen Musikschaffenden von außen aufoktroyierte, widersinnige Forderung.   

Eine konsequente Reaktion auf die globale Verbreitung europäischer Ästhetik stammt vom brasilianischen Poeten und Denker Oswald de Andrade. 1928 entwarf er eine „Ästhetik der Anthropophagie“, des kulturellen, menschenfressenden Aneignens sämtlicher Einflüsse von außen. „Só me interessa o que não é meu. Lei do homem. Lei do antropófago“ („Mich interessiert nur, was nicht meins ist. Gesetz des Menschen. Gesetz des Menschenfressers“).[9] Dieses „anthropophagische Aneignen“ von Kultur macht auch vor der abendländischen Tonkunst nicht halt. Der Appetit nach ihr war immer besonders ausgeprägt. Seit Jahrhunderten wird europäische Musik in der ganzen Welt „verschlungen“ und „verdaut“. Die Ausscheidungen jedoch, die sie mit verursacht, müssen nichts mehr mit ihrem ursprünglichen (Rein-) Zustand zu tun haben. Sie diente gewissermaßen als „Nährstoff“, der eine „stoffwechselartige“ Erneuerung erfuhr, ein Prozess, der viel natürlicher, weniger konstruiert oder artifiziell vonstatten ging als umgekehrt, wenn Komponisten klassischer Musik volksmusikalische oder exotische Strukturen für ihr eigenes Œuvre nutzen.

Musikalisches Erbe

Wenn sich die Frage um das musikalische Kulturerbe anlässlich der Ratifizierung der „UNESCO Konvention zum Schutz immateriellen kulturellen Erbes“ (2003) neu gestellt hat, dann in Bezug auf die Diskussion über Musik als einer immateriellen Form von kulturellem Erbe. Hierbei taucht ein Aspekt auf, der bisher in dieser Deutlichkeit nicht vorkommen war: Laut UNESCO-Übereinkommen von 2003 nehmen die kanonisierten Meisterwerke der abendländischen Musik – zum „Kunstwerk“ gehört hier auch seine individuelle Urheberschaft – nicht eigentlich am immateriellen, sondern vielmehr am materialisierten Kulturerbe einer Nation teil. Als Beispiel: Der Status der 9. Sinfonie von Beethoven als Weltkulturerbe wird nicht an der klingenden Musik ausgemacht, sondern am Autograph, das sich in der Berliner Staatsbibliothek befindet. Somit gehört Beethovens Werk zum „Weltdokumentenerbe“, ist materiell, nicht wie lebendige Musiktraditionen „immateriell.“ Erst ein über Generationen getragener klingender Umgang mit dieser Sinfonie kann als immaterielles, weil lebendiges Kulturerbe bezeichnet werden.[10]

Anders als die Werke des abendländischen Kanons, wird Musik in anderen Musikkulturen nicht vorrangig „interpretiert“. Pansori oder Gagok , Sprach- und Gesangsgattungen aus Korea, werden aufgeführt und wiedergegeben. Musik wird gemacht, wird gelebt, wird in den Zusammenhang gestellt, der ihr gehört, erklingt in dem Kontext, den sie bereichert und aus dem sie zugleich schöpft. Interpretiert wird sie erst, wenn sie bis in Details fixiert, gewissermaßen – zumindest im Bereich einer lebendigen Praxis – „folklorisiert“ ist. Alleine aus dieser Perspektive wäre es jedoch unsinnig Gagok oder Pansori – um bei der Musik aus Südkorea zu bleiben – in den abendländischen Musikkanon mit zu integrieren. Dieser Kanon kennt nur fixierte, bis zuletzt auskomponierte Musik. Daher kann er leicht wie das konservierende Museum wirken, gar zur „Gefriertruhe“ musikalischer Werke geraten.

Doch Musikhochschulen sind keine Museen, fungieren nicht als Gefriertruhen, die aufbewahren und einen bestimmten musikkulturellen Zustand einfrieren: in Ihnen wird musikalisches Erbe vorrangig gelebt. Die teils verlautbarte Kritik an diesen Institutionen, entzündet sich genau an dem, was hier nicht sein sollte: am unveränderlichen Festhalten an einem gewissen musikalischen Status quo. Dabei gelingt der Erhalt von lebendigem Musikerbe ohnehin am optimalsten wenn Musik zum Erklingen gebracht, vermittelt, gedacht, erforscht und produziert wird, und damit auch „formbar“ bleibt. Insofern sind Musikhochschulen geradezu dafür prädestiniert, mit Musikerbe umzugehen, es aufzuwerten und immer wieder in der ihm jeweiligen Zeit zu verorten. Selbst ein historisches und digitales Musikarchiv an einer Musikhochschule – in Weimar zugleich das Thüringer Landesmusikarchiv – ist nicht alleine Reservoire sondern stellt zugleich wertvolle Ressourcen für kreatives Weiterarbeiten am Musikerbe zur Verfügung.[11] Weiterentwickeltes und stets erneuertes Musikerbe kommt an Musikhochschulen auch durch die hier umgesetzten vielfältigen Wissensformen von Musik zustande, ein Aspekt, der ihr universitäres Profil untermauert.

Vielleicht können wir uns darauf verständigen, dass es zwei Formen des professionellen Umgangs mit Musikkultur gibt: ein passives Bewahren musikbezogener Artefakte („Dokumentenerbe“) und ein aktives  musikalisches Tun und Denken („lebendiges Kulturerbe).[12] Letzteres ist allerdings nicht von einer bestimmten Zuschreibung, wie E- oder U-Musik, „außer- oder innereuropäisch“ etc. abhängig. Derartige Kategorisierungen verlieren mittlerweile immer mehr an Bedeutung.[13]

Fortschritt

Merkwürdig genug, dass an Musikhochschulen der Zwang zum Fortschritt nicht so gegeben ist wie in der abendländischen Musikgeschichte. Die Lehre eines Musikinstruments aus dem klassischen Bereich, sei es Violine, Klavier oder ein Blasinstrument, vor allem aber auch der klassische Gesang, geschieht heute kaum anders als noch vor einem halben Jahrhundert und früher.[14] Das heißt, der korrekte Fingersatz samt Bogenstrich im 1. Satz von Mozarts A-Dur Violinkonzert KV 219 ist weiterhin genauso zentraler Gegenstand des hochschulischen Instrumentalunterrichts. Daran wird nach wie vor gedeutelt. Das Ergebnis gleicht am Ende womöglich dem bei Geigerinnen und Geiger vergangener Generationen.

Doch bei allem Unbehagen darüber, auch das ist ein Aspekt von Kulturerbe, vor allem dann, wenn wir von bestimmten pianistischen, oder Violin-Schulen ausgehen können, das heißt von Schule als Begriff für einen Zugang, einen Stil im Musikmachen, die von Generation zu Generation weiter gegeben werden . So strebten viele der heute tätigen weltbekannten Geigerinnen und Geiger zum Studium bei Ivan Galamian (1903–1981) nach New York. Der Zugang zu ihm garantierte nicht nur eine der großen – die „russische“ – Geigenschulen (insbesondere die Bogenarmtechnik), sondern gleich die Aura dieses einzigartigen Pädagogen mit.[15] Nicht anders verhält es sich mit den Meistern / Ustads u.a. der indischen, oder der afghanischen Musik im Umgang mit ihrer Schülerschaft. Dieses ganz besondere Meister-Schüler-Verhältnis, das in der indischen Musik, aber auch im klassischen indischen Tanz (bharatanatyam) eine Vorrangstellung einnimmt, ist derart ausgeprägt, dass Lehren und Performen sich gegenseitig bedingen, das heißt Ersteres ist keineswegs der künstlerischen Praxis auf der Bühne unterlegen. Beides gehört untrennbar zusammen.  

Die Frage danach, was Musik uns heute bedeutet und in welche immer neuen Kontexte – sozial, politisch, bildungsrelevant – wir als Lehrende an Musikhochschulen sie gewinnbringend für uns und nachhaltig für die Folgegenerationen einsetzen, lässt sich auch auf sämtliche anspruchsvolle und historisch bewusste musikalische Traditionen in Asien oder Afrika und darüber hinaus stellen. Sie stellt sich ebenso für die Popmusik in all ihren stilistischen und weltweit verzweigten Erscheinungsformen.

Fetischisierung musikalischer Meisterwerke

Eine der kritischen Anmerkungen, die Fabien Lévy mit der musikalischen Kanonbildung verbindet, ist der Begriff der Fetischisierung einzelner Werke der europäischen Tonkunst. Werken, die ästhetisch überhöht werden, haftet die Aura der Unantastbarkeit und zugleich die Fähigkeit des „Verzauberns“ an. Vom Portugiesischen feitiço/enfeitiçado (Zauber/verzaubert) wurde Fetisch vor allem in der Ethnologie und der Religionswissenschaft als Terminus eingesetzt. Diese Zuschreibungen des Fetischcharakters kultischer Objekte entspringen daher meist von außerhalb der Sphäre des Bezeichneten. Theodor W. Adorno verband den Fetischcharakter insbesondere mit industriell produzierter und marktorientierter Musik, ein Bereich, der ihm sehr fremd war.  

„Fetischisierung“ nun für die Musik etymologisch umzukehren muss folglich zur vollkommenen Abwesenheit von Zauber führen. Lässt sich diese Umkehrung so denken, dass die „Entzauberung“ der großen klassischen Werke der Tonkunst ihre Infragestellung, somit auch ihre Dekanonisierung vorantreibt?[16]

Musikwissenschaft

Fremdheit als eine auf Musik bezogene Kategorie ist es auch, die in der Musikethnologie – zunächst als „Vergleichende Musikwissenschaft“ bekannt –  erste selbständige Gedanken zu musikalischen Äußerungen aus anderen Kontinenten anregte. Während man also die Werke des abendländischen Kanon fetischisierte, begann zeitgleich in der Wissenschaft die „Entzauberung“ der Musiken der Welt. Das analytische Auseinandernehmen von Musik aus „Fremdkulturen“ (Curt Sachs)[17] mit dem Ziel sie zumindest auf einer phänomenologischen Ebene, nebst ihren Besonderheiten in die Vorstellungswelt abendländischen Denkens über Musik zu übertragen, sollte mit transkribierten Notenbeispielen erfolgen. Zugleich war die Anfertigung von Transkriptionen aus dem klingenden, auf Tonträger festgehaltenen Artefakt der Bemühung geschuldet, Anschluss an die herkömmliche, vorwiegend philologisch orientierte Musikwissenschaft zu finden. Für die untersuchte Musikkultur blieben die Ergebnisse dieser Analysen weitgehend bedeutungslos und der bis dahin unerreichte abendländische Kanon der Musik rückte für sie deswegen nicht näher.

Musik mittels Transkriptionen für ein besseres Verstehen zu visualisieren und zugleich auseinanderzunehmen, das heißt zu „de-komponieren“ (Komponieren, vom lat. componere meint das „Zusammenstellen“ einzelner Teile), half bestenfalls dabei, das große musikalische Reservoire der Menschheit zu sortieren und die einzelnen Bestandteile daraus miteinander zu vergleichen. Ein museal gedachtes Ganzes führte um 1900 zur Etablierung der vergleichenden Musikwissenschaft, die musikwissenschaftliche Teildisziplin aus der später die Musikethnologie/Ethnomusikologie entstehen sollte. Zum intrinsischen Verstehen der musikalischen Besonderheiten aus anderen geographischen und kulturellen Kontexten konnte die so etablierte Musikethnologie vorerst nicht wirklich Substantielles beitragen, begann zumindest aber ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die abendländische nicht als die einzige als historisch gewachsene, von einem professionellen Musikertum erhaltene und weitergegebene „Musikkultur“ zu bezeichnen ist. Auch wenn Musik als eine universale Manifestation der Menschheit jetzt erkannt war, die Suprematie des abendländischen Musikerbes hierin ließ sich auch musikwissenschaftlich weiterhin untermauern. Als materieller Beleg dafür stand der musikalische Kanon – bewusst nicht immateriell, das heißt auch nicht im Sinne eines lebendigen kulturellen Erbes, sondern als eine primär philologisch gedachte und vermittelte Tonkunst.

Theorie

Jede Form von Musikmachen beinhaltet Reflexion über sie, also Musiktheorie. Da wo über Musik reflektiert wird – und wo Musik erklingt, wird über sie reflektiert – findet ein musiktheoretischer Diskurs statt. In allen Musikkulturen, überall auf der Welt. Eines ist von dem anderen nicht zu trennen. Es geht um das begriffliche Verstehen des jeder Musik zugrunde liegenden Regelwerks. Und jedes Musikmachen untersteht einem Regelwerk, gleich wo und wann, verbindet sich dann symbiotisch mit der Persönlichkeit der Musizierenden. Auch hier drückt sich die große Vielfalt musikalischer Kulturen aus. Nur die klassische Musiktheorie, wie sie im Lehrkanon der Musikhochschulen vorgesehen ist anzuerkennen (und zu vermitteln), verdeckt tatsächlich den offenen Blick für die musikalische Vielfalt in der Welt.

Wäre unter Berücksichtigung dieser Vielfalt die Absonderung eines Bereichs durch die abendländisch orientierte Musikbeschäftigung als außereuropäisch, schriftlos und mündlich sinnvoll? Oder äußert sich in dieser Haltung weiterhin ein tendenziöses, im 19. Jahrhundert begründetes Denken der historischen Musikwissenschaft, die Auffassung aus der Zeit also, in der sich auch der Kanon der abendländischen Musik zu formen begann? Noch ist in der Musikwissenschaft zu hören, dass der musikalische – „außer-europäische“ – Rest der Welt außerhalb einer „musikhistorischen,“ das heißt auch abendländischen Zuständigkeit fällt. Doch was ist angesichts globalen Austauschs und Migrationen musikalisch noch strikt außereuropäisch, schriftlos, mündlich?[18]

Nichtsdestotrotz hat sich die in der 2.Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem im anglo-amerikanischen Raum konzipierte Ethnomusikologie das musikalisch „Außer-Europäische“ auf die Fahnen geschrieben. Hieße das nun, dass Musikhochschulen dieses Konstrukt aus dem 19. Jahrhunderts einfach akzeptieren und verinnerlichen? Oder vertreten sie eher das Gegenteil dazu, d.h. die fragwürdige Ausrede es nicht aufzunehmen, weil „andere“ dafür zuständig sind? Tatsächlich stellen Lehrpläne an Universitäten und Musikhochschulen diesen „anderen“ Forschenden, die sich der Musikethnologie zuordnen, weiterhin nur eine Nische zur Verfügung. Und dabei sollte das Gebiet offen sein für einen alle musikalische Sparten umfassenden Dialog und kreativen Austausch. In diesem Fall mögen die verschiedenen Spezialisierungen innerhalb der Musikethnologie – inklusive ihrer Fachbezeichnung an und für sich – zur Schwierigkeit im akademischen Umgang mit Musik aus aller Welt beitragen.[19]

Dekolonisierung und Dekanonisierung

De- oder Kontra-Kolonialisierung? Maßnahmen der Dekolonialisierung sind rückwärtsgewandt, insofern sie vom mentalen Ballast der Kolonisierung befreien und, extrem ausgedrückt, das Geschehe anprangern um es damit wieder gut machen wollen. Demgegenüber ist die von kulturellen Akteuren wie Nego Bispo geforderte Haltung jene einer Kontra-Kolonialisierung. Denn, so der quilombola[20] aus São João do Piaui, Bundessaat Piaui, Brasilien, die kolonialistische Perspektive ist überall gegenwärtig und kann nicht mit dem nachträglichen Prozess einer argumentativ geführten Entkolonialisierung gemildert werden. Die kontra-kolonialistische Haltung fußt im hier und jetzt, rückt nicht Vergangenes in der Gegenwart zurecht. Sie hinterfragt jeden Akt nach seinem kolonialistischen Potential und reagiert entsprechend darauf. Statt die Korrektur der Vergangenheit vorzunehmen, investiert Kontra-Kolonialisierung in die Gestaltung der Zukunft, so Nego Bispo. In einem gereimten Spruch drückt er sein eigenes Dasein in diesem Kontext wie folgt aus:

Quando nós cantamos desafinando / E dançamos descompassado / Quando pintamos borrando / E desenhamos enviesado     / Não é por que estamos errando / É porque não fomos colonizados.
Wenn wir falsch singen / und aus dem Takt tanzen, /  wenn wir verschmiert malen / und verdreht zeichnen, / dann heisst das nicht, dass wir Fehler begehen / sondern lediglich, dass wir nicht kolonisiert wurden.)[21]

Falsch zu singen heißt nicht falsch zu sein, sondern in diesem Fall richtig, im Sinne eines wirklich diversen und „weltumspannenden“ musikalischen Selbstverständnisses.

Und dieses Selbstverständnis fehlt noch gelegentlich eklatant an Musikhochschulen. Dies betrifft das Festhalten an hegemonialen Vorstellungen von musikalischem Kulturerbe. In der musikalischen Bildung ist das vor allem in der Rolle des Klaviers in der Musikpädagogik bzw. in der entsprechenden Lehramtsausbildung zu beobachten. Warum gilt als notwendige Voraussetzung für dieses Studium immer noch die gute bis sehr gute Beherrschung des Klavierspiels, ungeachtet anderer hervorragender musikalischer Fähigkeiten der Bewerberinnen und Bewerber? Warum werden junge Talente, die sich gerne der musikalischen Ausbildung von Kindern und Jugendlichen an Grundschulen und Gymnasien verschreiben möchten, deswegen kategorisch von diesem Studium ausgeschlossen? Als „Interne Dekolonialisierung“ an Instituten für Musikpädagogik ließe sich ein grundsätzliches Überdenken dieser unzeitgemäßen klavierbetonten Studienvoraussetzung denken, denn kolonialgeschichtlich ist seit dem 19. Jahrhundert das Klavier wie kein anderes europäisches Musikinstrument vorbelastet, hat als Artefakt und als „Gefriertruhe“ eines temperierten Tonsystems die Welt erobert und beherrscht.

Nur noch das Akkordeon, bzw. die Konzertina, hat vergleichbar musikalische „Missonierungsarbeit“ wie das Klavier bis in die noch entfernteren Winkel der Erde geleistet, beide vor allem von Deutschland aus. Interessant, dass bei der Konzertina, anders als am Klavier, lokal Veränderungen an den Stimmungen des Instruments vorgenommen wurden: ein schönes Beispiel für transkulturelle Prozesse, die zu eigenen musikalischen Genres führten wie der vallenato in Kolumbien. Zwar folgt daraus, dass wenn kein Export von Klavier und Akkordeon stattgefunden hätte, die Musik in der Welt heute anders aussähe/sich anhörte, zugleich wäre aber diese „Weltmusik“ heute um ein vielfaches ärmer, denn diese beiden Instrumente haben nicht nur Vorhandenes eliminiert, sondern auch zu einer in Europa nicht denkbaren Vielfalt an musikalischen Genres, Spielformen und Neuentwicklungen beigetragen. Transkulturation lässt sich an diesen Beispielen als einen Prozess erkennen, der den tatsächlichen Gewinn einer neuen Entwicklung sichtbar macht, statt vorrangig den Verlust zu beklagen, der durch Neues entstanden ist.[22]

Aus dieser Perspektive erscheint auch eine Pflichtveranstaltung der Musikwissenschaft, die als „Musik vor 1600“ bezeichnet wird, zu hinterfragen. Allein der Titel ruft banal anmutende Erkundigungen auf: „1600“ was? Welche Musik, wo und von wem? Noch stellen sich diese Fragen nicht, noch wird die Sinnhaftigkeit dieser Charakterisierung innerhalb des Faches nicht angezweifelt.[23] Doch diese Modulbezeichnung belegt auf ihre Weise die Enge mit der Musikgeschichte, einzig als Phänomen des Abendlandes, und hieselbst überaus schmal gehalten, weiterhin verstanden wird.

Erweiterung des Kanons?

Kanonbildung entsteht und wird durch Übernahme von Expertenwissen und Urteilen anderer aufgebaut.[24] Dieses geschlossene Ordnungssystem abendländischer Musik solle nun aufgebrochen werden, so die lauter werdende Forderung, die sich der Kritik am Kanon anschließt. Zu vernehmen ist, es sei nun Zeit Musikkulturen aus aller Welt in den bestehenden, europäischen klassischen Kanon mit aufzunehmen. Aber soll damit tatsächlich das bestehende Kanon-Modell anderen Musikkulturen einfach übergestülpt werden, sollen wir sie von selbigem einverleiben lassen? Sicher nicht, denn das Anliegen musikalisch zu dekolonialisieren und damit eine globale Öffnung des Kanons zu erwirken, zeigt sich in Teilen selbst kolonialistisch. Denn nichts anderes als einseitig und autoritär wirkt es den bestehenden Kanon von Mitteleuropa aus um Musiken aus aller Welt zu erweitern. Kann dies ohne die Sinnhaftigkeit dieses Begehrens zu hinterfragen wirklich gelingen? Wozu ist der Kanon ursprünglich da? Kann er einfach global auftreten, ein Sammelplatz für verschiedenste Musiken der Welt sein? Wer möchte das überhaupt? Für wen ist dies ein tatsächliches Anliegen? Erste tastende Fragen verdeutlichen bereits, dass die Gefahr groß ist, statt einer gerechteren Ordnung weltweiter musikalischer Stile einzurichten, sich eine Ein- bzw. eine neue Unter-Ordnung aus Perspektive des überkommenen Kanons einstellt.

Musikhochschulen heute

Wo sind wir heute angelangt? Noch sind wir nicht da wo wir hätten sein können oder wollen. Zugleich sind wir nicht mehr die, die wir einst waren. Das heißt, um mit Darcy Ribeiro zu sprechen, die Welt hat mit der Kolonisierung eine bestimmte Unschuld verloren, nach der sie sich aber sehnt, heute mehr denn je.[25] Folgerichtig rührt das Unbehagen um den musikalischen Kanon, die Kritik am Hegemoniestreben einer dominierenden Kultur oder die Ablehnung der Fetischisierung einzelner Werke daher. Zugleich beobachten wir ein alltägliches gewolltes, oder auch ungewolltes Entzaubern von Musik und musikalischem Kulturerbe im Dienste der künstlerischen und wissenschaftlichen Arbeit. In diesem Spannungsverhältnis von Fetischisierung und Entzauberung lässt sich der Alltag an Musikhochschulen auch charakterisieren.

Wenn das erkannt ist, lässt sich womöglich besser am musikalischen Tun arbeiten, was nirgends so umfassend geschieht – bzw. geschehen sollte – wie an einer Musikhochschule. Im Augenblick wo die Wissenschaft in die Musikhochschule kam, hat sie aufgehört nur ein Konservatorium zu sein – wo tatsächlich vorrangig „konserviert“ wird – um den Status einer Universität anzunehmen.[26] Nur so kann der musikbezogene Beruf, der zu etwa drei gleichen Teilen die künstlerische Praxis, die Lehrberufe in Schulen und privat, sowie die wissenschaftlichen und bildungskulturellen Einrichtungen und den Musikmarkt einschließt, von der Ausbildung an deutschen Musikhochschulen bedient werden. Musikalisches Erbe wirkt sich in diesen drei Bereichen aus, hält zugleich den regen Austausch unter ihnen aufrecht.

Sich aller Musik an den Musikhochschulen öffnen heißt neben neuen „musikalisch-transkulturellen“ Fragen in die Lehrpläne einzubauen, zugleich einen grundsätzlich offeneren, vielfältigeren, daher auch zeitgemäßen und selbstverständlichen Ansatz anzunehmen. Wie Musik gemacht, aufgefasst, eingebunden, weiterverknüpft wird, vor allem wie sie uns als Menschen bereichert, unsere gesamtkörperliche Auffassung – nicht nur die auditiv-verstandesmäßige – involviert: das ist es was aus einem global vorhandenen, schier unerschöpflichen „Musikwelterbe“ immer wieder neu herausgeholt und verarbeitet werden kann.

Gemäß ihres universitären Anspruchs stehen Musikhochschulen für ein System, das den Umgang mit jeglicher Musik vorsieht. Dabei können sie allerdings nicht jede Musik im Portfolio haben, zumindest nicht in der professionellen Ausbildung, aber doch als Teil eines größeren Gesamtbildes von Musik.[27] Alles Musikalische in der Welt in der professionellen Ausbildung abdecken zu wollen wäre anmaßend.[28]
Der Raum für Öffnungen in die unterschiedlichsten musikalischen Welten ist klar vorhanden. Je nach Möglichkeiten kann er auch ausgefüllt werden. Erich M. v. Hornbostel und Curt Sachs haben es bereits 1914 mit ihrer Systematik der Musikinstrumente von 1914 vorgemacht: die Forscher wollten nicht alles was an Musik bekannt war klassifizieren, um sie sich damit stellvertretend für die deutsche Musikwissenschaft anzueignen, sondern haben eine Systematik geschaffen, bei der alles was an Musikinstrumenten auf der Welt möglich ist einen gleichberechtigten Platz in diesem System findet.[29] Die beiden Pioniere der vergleichenden Musikwissenschaft konnten tatsächlich Musikinstrumente vorsehen, von denen sie nicht wussten ob es sie gibt, allein deren Existenzmöglichkeit sie jedoch mitberücksichtigten. Auch an Musikhochschulen sollte die Existenzmöglichkeit jeglicher Form von Musik vorhergesehen und anerkannt werden.

Diesen Ansatz und das damit einhergehende Umdenken muss in einer berufsbildenden Institution wie unserer immer selbstverständlicher werden. Denn solange  – überspitzt formuliert – Bogenstriche und Fingersätze als Kern einer musikalischen Ausbildung gelten, wird diese Ausbildung zunehmend in Frage gestellt, wird sie dramatisch an sozialer Relevanz verlieren, wird die Gesellschaft bald daran zweifeln, dass in Deutschland überhaupt noch so viele Musikhochschulen nötig sind.

Unser professionelles Tun mit kritischen Fragen zu begleiten und daraus praktische und innovative Maßnahmen zu generieren stärkt das Bewusstsein um lebendiges musikalisches Kulturerbe. Schließlich geht es um die gesellschaftliche Relevanz dessen, was an Musikhochschulen praktiziert, gelehrt, experimentiert und entwickelt wird. Es geht mithin um nichts Geringeres als um die grundsätzliche Relevanz von 24 Musikhochschulen in Deutschland.[30]

Aus dem gesagten geht hervor, dass Musik

eine Reihe von Vorstellungen beinhaltet, die bestimmen, wie, wann und warum man Musik macht; die die jeweiligen kollektiven und individuellen Einstellungen und Wertmaßstäbe in Bezug auf bestimmte Formen klanglichen Ausdrucks prägen; die das Musizieren als lohnenswertes Tun charakterisieren; die ihm Sinn und Bedeutsamkeit verleihen; die ein Gefühl dafür definieren, was wahrhaftig ist und was falsch.[31]

So jedenfalls sehen es die Moken, ein kleines Volk von Seenomaden in Südostasien, in Thailand. Mit ihrer Musikauffassung stehen uns diese scheinbar so fernen Menschen unerwartet nahe. Es mutet geradezu an, als sprächen sie auch für unsere Musikhochschulen.

Die Institutionen in Leipzig und in Weimar, wo Fabien Lévy und ich lehren, forschen, künstlerisch aktiv sind und unsere Erfahrungen aus vielen Jahren des Umgangs mit unterschiedlichen historischen und zeitgenössischen, ebenso wie spezifisch kulturellen Manifestationen von Musik einbringen und weiterleben, bezeugen schon mit ihren Namensgebern Felix Mendelssohn-Bartholdy und Franz Liszt, dass sie dezidiert für ein musikalisches Kulturerbe stehen, das lebendig ist und offen für den Austausch mit der Welt.

Diesen hohen Anspruch tagtäglich zu erneuern obliegt uns allen, Lehrenden wie Studierenden aller Musikhochschulen in Deutschland.

Tiago de Oliveira Pinto (UNESCO Chair, Weimar)

[1] FAZ vom 9.3.2022, https://www.faz.net/aktuell/ukraine-konflikt/belagerung-von-kiew-auf-de…

[2] Anlässlich einer Tagung der AvHumboldt-Stiftung in Berlin, 2015.

[3] Dazu Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Leipzig 1930. Freud beschreibt in dieser Schrift die Grundlagen der Entwicklung „unserer“ (der abendländischen) Kultur. Damit verbunden ist für ihn das Anwachsen der Kultur mit dem Anwachsen eines grundlegenden Schuldgefühls.

[4] Eine allgemeinere Zeitberechnung des etablierten musikalischen Kanons erstreckt sich vom beginnenden 17. bis Ende des 20. Jahrhunderts.

[5] Dazu Christiane Wiesenfeldt: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/debatte-um-den-kanon-is…

[6] https://www.musikrat.de/musikpolitik/kulturelle-vielfalt, auf der Grundlage der UNESCO Konvention zur kulturellen Vielfalt von 2005.

[7] Andererseits ist das vielfach hervorgehobene Innovationspotential von abendländischer Musikkultur – begründet in ihrem Fortschrittsstreben – kein Alleinstellungsmerkmal. Musikalische Erneuerung geschieht auch andernorts. Wie und in welchem Grad sie sich vollzieht ist kulturspezifisch und wäre ein Thema für sich.

[8] https://www.youtube.com/watch?v=TVmTW0brkgc und die Deutsche Wochenschau Nr. 564, 25. Juni 1941: https://www.dailymotion.com/video/x31rtqv

[9] Manifesto Antropófago, São Paulo, 1928

[10] Verantwortung hierfür tragen die Orchester, die den dafür zu verwendenden Klang seit Musikergenerationen lebendig halten. 2018 wurde die „Orchester- und Theaterlandschaft“ in das Bundesverzeichnis des Deutschen Immateriellen Kulturerbes aufgenommen: https://www.unesco.de/kultur-und-natur/immaterielles-kulturerbe/immater…

[11] Aktuelles Beispiel dafür ist der Film „Phonograph und Gedächtnis“ zur Spurensuche afghanischer Musik in alten Schelllackplatten, von Markus Schlaffke, langjähriger Mitarbeiter bei den Afghanistan Projekten des Weimarer UNESCO Lehrstuhls: http://schlaffke.com/phonograph-und-gedaechtnis/

[12] Dabei ist ein archivalisches Bewahren des musikalischen Dokumentenerbes eine essentielle materielle Grundlage für die Beschäftigung mit Musik. Doch das Dokument an sich ist noch keine Musik. Finger- oder Tonleiterübungen ebenso wenig. Beides führt auf seine Weise nur darauf hin.

[13] Für den Musikmarkt bleibt diese strikte Unterscheidung jedoch bestehen, was sich in der diskrepant ungleichen Ausschüttung für Urheberrechte bei E- und U-Musik ausdrückt.

[14] Im Bereich der „Alten Musik“ ist es seit den 1990er Jahren Dank der „historisch informierten“ Aufführungspraxis zu Neuerungen in der Vermittlung „barocker“ Instrumental- und Gesangspraxis gekommen.

[15] Ivan Galamian: Grundlagen und Methoden des Violinspiels, 1983. Eine seiner Schülerinnen, Dorothy DeLay (1917-2002) lehrte als seine Nachfolgerin und bildete u.a. auch heute an deutschen Musikhochschulen tätige Professorinnen und Professoren aus.

[16] Auch das sachliche Erklären von und über Musik kann diese „entzaubern.“ Dieses Entzaubern erfolgt z.B. wenn gewisse zeitgenössische Kompositionen mit erläuterndem Apparat versehen den Zuhörenden den Sinn des Werkes nahe bringen sollen, weil sich dieser aus dem Werk selbst heraus nicht erschließt.

[17] Curt Sachs: Vergleichende Musikwissenschaft. Musik der Fremdkulturen, Berlin 1933.

[18] Der französische Sitar-Spieler und Experte für Musik und Tanz aus Indien Alain Danielou (1907-1994) war ein harscher Kritiker der wissenschaftlich begründeten Vorstellung von „ethnologischer Musik“ einerseits, und klassischer europäischer (kanonisierter) Musik andererseits. Für ihn war die Musik Indiens ebenfalls als klassisch zu werten und als solche zu anzuerkennen (Danielou, 1970).

[19] Die musikethnologischen Spezialisierungen nehmen tatsächlich einen immer größeren Raum ein in dem ohnehin kleinen Fach. Als Beispiel die akademische Selbstbeschreibung eines Senior Lecturer und Ethnomusikologen: „Spezialisiert auf turkophone und vorderorientalische Welten, interessiere ich mich für wirkungsbasierte Themen von Musik und Dekolonisierung, aufstrebenden Kosmopolitismus und Rassendiskurse in Musikszenen auf der ganzen Welt, mit dem Ziel, Marginalität durch die Linse der Intersektionalität zu verstehen.“

[20] Quilombola ist eine Bewohnerin, bzw. ein Bewohner eines quilombo, ein von geflüchteten Sklaven errichtetes Wehrdorf im Hinterland. Quilombos sind vielfach als Siedlungen und kleine Dörfer erhalten und werden von den Nachfahren ihrer Begründer bewohnt.

[21] https://www.youtube.com/watch?v=gLo9ZNdgJxw (ab 15‘15“).

[22] „Transculturation indicates foremost the addition of what is new to what might have been lost, both in the process of change and the development of something multi-faceted: something gained instead of something new replacing something older.” Tiago de Oliveira Pinto, in Music as Living Heritage. An Essay on Intangible Culture, Berlin, 2018, S. 46.

[23] Andererseits hat sich diese Kategorisierung als Vorteil für gewisse Seminare mit anderem Schwerpunkt herausgestellt. Zum Beispiel konnte mein Kurs „Musik und Schamanismus in Amazonien“ – Schamanismus als eine Jahrtausende alte Praxis in vielen Weltregionen – auch im Modul „Musik vor 1600“ angerechnet werden. Musik aus Amazonien ließe sich ansonsten nur für Module gutschreiben, die einen „musikethnologische“ Fokus haben, und diese sind an Musikhochschulen selten.

[24] Siehe: Der Kanon der Musik. Theorie und Geschichte. Ein Handbuch, herausgegeben von Klaus Pietschmann und Melanie Wald-Fuhrmann, München 2013.

[25] Darcy Ribeiro: Wildes Utopia. Sehnsucht nach der verlorenen Unschuld. Frankfurt am Main 1986, S. 32.

[26] In Österreich ist es bereits geschehen, in Deutschland nur vereinzelt: die Umbenennung von Musikhochschule in Musikuniversität, oder Universität für Musik.

[27] Mit dem Lehrformat „Künstlerisch-Wissenschaftliches Projektseminar“ (KWP) wird an der Hochschule für Musik Franz Liszt regelmäßig in das praktische Spiel der chinesischen Wölbbrettzither guqin, oder u.a. in das Spiel im südafrikanischen Marimbaensemble eingeführt. Es geht um das nähere Kennenlernen asiatischer, afrikanischer oder lateinamerikanischer Musikinstrumente mit den entsprechenden musikalischen Konzepten. In einem weiteren KWP, das „Caravan-Orchestra,“ hat es zudem seit 2017 einen regelmäßigen Austausch mit Studierenden aus Haifa, Israel, gegeben, zwecks Erarbeitung eines jiddisch-arabischen Konzertprogramms https://caravanorchestra.eu . Dazu Tiago de Oliveira Pinto: „Globale Kontexte, kulturelle Begegnungen. Elf Jahre Transcultural Music Studies am Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena, nmz Dezember 2020/Januar 2021 nmz 12/20-1/21 Seite 14; https://www.nmz.de/artikel/globale-kontexte-kulturelle-begegnungen.

[28] Der Studiengang „Schlagwerk“ kommt diesem Ideal in der Praxis in Musikhochschulen am nächsten. Entsprechend stehen Depots von großen Orchestern für die Vielfalt von Klangerzeugern aus aller Welt mit Instrumenten aus ihrer Perkussionsgruppe, mit unterschiedlichen Exemplaren aus Ostasien, dem Vorderen Orient, Afrika und Lateinamerika.

[29] E. M. v. Hornbostel und Curt Sachs: „Systematik der Musikinstrumente. Ein Versuch,“ Zeitschrift für Ethnologie (ZfE), 46. Jahrg., H. 4/5 (1914), S. 553-590.

[30] Noch wird Musik in der öffentlichen Bildungspolitik als notwendig erachtet: In Baden-Württemberg kostete vor einigen Jahren ein künstlerischer BA Studienplatz an den Musikhochschulen das Land ca. 76.000,00 Euro, ebenso viel wie zeitgleich für einen Medizin-Studienplatz veranschlagt wurde: https://www.staatsanzeiger.de/debatten-im-landtag/ueber-zukunft-der-mus…

[31] Christian Koehn: Music, Myth, and Ritual among the Moken Sea Nomads. On the Contiguity of Aesthetic and Religious Experience in the Life-World of a Maritime Hunter-Gatherer People, Phil.Diss., Institut für Musikwissenschaft Weimar-Jena, 2022.

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