Hauptrubrik
Banner Full-Size

Wenn das kulturelle Erbe zum Fetisch wird

Untertitel
Sind Musikinstitutionen Komplizen reaktionären und hegemonialen [1] Denkens? · Von Fabien Lévy [2]
Autor
Publikationsdatum
Body

„Hat der klassische Orchesterbetrieb ein Rassismusproblem?“, fragten wir auf Seite 3 der Februarausgabe der nmz. Zu Wort kam in diesem Artikel unter anderem der Komponist Fabien Lévy. Seine grundsätzlichen Gedanken zur Begrenztheit des ‚klassischen‘ Musik- und Ausbildungsbetriebs und zu dessen Ausgrenzungsmechanismen hat der Professor der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig für unsere Zeitung skizziert. Lesen Sie hier die Langfassung seines Denkanstoßes. Die gekürzte Druckversion ist hier nachzulesen.

Als Publikum und Steuerzahler*innen erscheint es uns normal, dass staatlich geförderte Institutionen der Kunstproduktion wie Theater, Tanzkompanien oder Museen versuchen, sich durch ihre jeweils eigenen Repertoires und Praktiken voneinander zu unterscheiden. Es erscheint uns normal, dass ihre Aufgabe, insbesondere weil sie öffentliche Gelder erhalten, darin besteht, den kulturellen Horizont ihres Publikums zu erweitern und ihre eigene Zeit samt ihrer Normen und Routinen grundlegend in Frage zu stellen, beispielsweise indem sie sich aktueller politischer Problematiken annehmen. Es erscheint uns normal, dass manche Produktionen Video und Technologie nutzen, ohne dass diese, in einer Zeit, in der fast jeder ein Handy und einen Computer besitzt, als „neue Technologien“ bezeichnet werden. Im Zeitalter einer globalisierten Weltordnung erscheint es uns normal, dass sich künstlerische Produktionen anderen Ländern, anderen Kontinenten, anderen Kulturen, anderen Traditionen und anderen Alter-Modernitäten [3] öffnen. Das Gleiche gilt für die Literatur. Es erscheint uns normal, dass in ihr als Spiegel der Gesellschaft eine gewisse soziale, ethnische und geschlechtliche Vielfalt herrscht. Es erscheint uns normal, dass diese Institutionen im Rahmen ihrer öffentlichen Aufgabe aktuelle Kunst und Kultur fördern müssen, dass sie sowohl das etablierte Repertoire verteidigen als auch neue Künstler*innen entdecken und sich um einen erneuerten Kanon bemühen, der unterschiedliche Epochen sowie geographisch diverse Ursprünge umfasst.

Ein Bereich entzieht sich jedoch dieser Logik: das Musikleben. Die Mehrzahl subventionierter Musikinstitutionen, das heißt die meisten großen Konzertsäle, Opernhäuser, Orchester und öffentlich-rechtlichen Sender produzieren und senden (bis auf wenige rühmliche Ausnahmen) in etwa dasselbe: ein auf ca. vierzig Komponisten und einige hundert Werke [4], die größtenteils zwischen 1750 und 1920 in Europa komponiert wurden, begrenztes Repertoire. Ihre Programmgestaltung ist wenig ambitioniert und orientiert sich praktisch weder am Experiment noch an Spezialisierung oder Differenzierung (eine Ausnahme bilden Opernhäuser, die sich durch ihre oft spektakulären Inszenierungen, also die nicht-musikalische Dimension der Produktion, auszeichnen; diese Art der Innovation wird als normal angesehen). Der Ruf der Hauptinterpreten ist oft wichtiger als die inhaltliche Programmgestaltung. Die Integration zeitgenössischer und experimenteller Werke und weniger bekannter Repertoires aus anderen Epochen oder Regionen ist selten, und selbst Uraufführungen sind oft nur ein Vorwand der Modernität, das heißt sie geben sich häufig experimentell und zeitgenössisch, entpuppen sich aber als Werke ohne große Hör- und Interpretationsherausforderungen.

Standardisierte Interpretationspraxis

Die Interpretationspraxis ist ebenso standardisiert: Auch wenn das Orchester größer geworden ist, haben sich seine räumliche Anordnung, seine Hierarchien und Verhaltensweisen, die unter dem „Ancien Régime“ mit Jean-Baptiste Lully [5] eingeführt wurden, bis heute nicht verändert: In Sinfonieorchestern sind die Streicher in fünf Gruppen unter Leitung einer Stimmführer*in aufgeteilt, wobei sie vor den Bläsern sitzen. Im Gegensatz zu Ensembles für Neue Musik spielt die Pauker*in vertraglich kein anderes Schlagzeug. Die erste Flötist*in spielt nie die Pikkoloflöte. Die meisten klassischen Musiker*innen werden sowohl während ihrer Ausbildung als auch ihrer Karriere nur selten mit elektronischen Technologien, mit neuen Spieltechniken oder der Einführung verwandter Instrumente - zum Beispiel aus anderen Kulturen - konfrontiert; auch improvisieren werden sie eher selten [6].

Opernsänger*innen praktizieren kaum andere Gesangstechniken als jene, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts von Manuel Garcia entwickelt wurden: Sie glätten Registerpassagen, sie entwickeln ein bestimmtes Vibrato, um ihre stimmliche Kraft zu stärken, sie vermeiden alles Geräuschhafte und setzen sich so gut wie nie mit Mikrophonen und Studiotechnik auseinander. Von Techniken wie Strohbass (fry) und anderen Kehlkopftechniken wird ihnen als stimmschädigend abgeraten, obwohl dieses Register von den Xhosa-Populationen Südafrikas bis zu den Inuit Alaskas (kattajak) oder den Ainu Japans (rekuhkara) sowie in einigen tibetischen (gyötö), papuanischen (dshambukware), tuvanischen (khöomei) oder burundischen Repertoires weit verbreitet ist.

Die meisten staatlich geförderten Musikinstitutionen haben somit eine stark kodierte und eng am westlichen kulturellen Erbe ausgerichtete Instrumental- und Gesangspraxis, was zur Folge hat, dass sie sich im Gegensatz zu Theatern ein eher konservatives bürgerliches Publikum heranziehen, das wenig geneigt ist, andere Repertoires, andere Autor*innen und andere Hörweisen zu entdecken.

Rückwärtsgewandte Ausbildung

Führen wir die Argumentation fort: Als Wähler*innen und Steuerzahler*innen erscheint es uns normal, dass eine öffentliche Hochschule, ob künstlerisch, wissenschaftlich oder auch praktisch, ihr Fachgebiet ebenso überdenkt und hinterfragt, als auch Theorien und Praktiken von einer Generation zur nächsten weitergibt, in Anlehnung an das Humboldt’sche Bildungsideal der Einheit von Lehre und Forschung. Es erscheint uns normal, dass Studierende mit den fortschrittlichsten Theorien und Praktiken in Berührung kommen, auch mit solchen, die im Mainstream noch umstritten sind, und dass Dozierende sie anleiten, die neuesten Werkzeuge und Praktiken zu meistern, anstatt nur das weiterzugeben, was sie selbst einst gelernt haben. Es erscheint uns normal, dass das Studium Repertoires und Praktiken aus verschiedenen Weltregionen und Epochen umfasst, von der Antike bis zur Gegenwart, von Afrika bis Japan. Es erscheint uns normal, dass Architektur- oder Ingenieurstudierende dazu ermutigt werden, die politischen und sozialen Implikationen ihrer Praxis zu hinterfragen: Stadtplanung für ältere oder behinderte Menschen, ethische und klimatische Konsequenzen ihrer Disziplin mitzudenken usw. Es erscheint uns nur normal, dass Auszubildende im Bäckerhandwerk über die neuesten Innovationen in Bezug auf Mehl und Triebmittel informiert werden und dass Friseurlehrlinge sich mit den fortschrittlichsten Schnitt- und Kolorationstechniken vertraut machen. Die Aufgabe jeder Ausbildung ist es, Studierenden zu helfen, ihren eigenen Weg zu gehen sowie die Zukunft der Disziplin zu denken und zu modifizieren.

Auch hier weichen die Musikhochschulen größtenteils von dieser zentrifugalen Mission ab. Abteilungen für Alte Musik, zeitgenössische Musik, Jazz oder Ethnomusikologie und außereuropäische Musik (zwei höchst fragwürdige Begriffe, weil sie auf das „Ich und die anderen“ reduzieren [7]) sind je nach Bundesland selten und fast überall am Rande des pädagogischen Hauptbildungsprojekts angesiedelt. Instrumentalstudierende werden nur selten mit Improvisation, Uraufführungen, elektronischen und Studiotechniken, organologischer Modifikation ihres Instruments und der Entdeckung ähnlicher Instrumente in anderen Kulturen konfrontiert. Flötist*innen kennen kaum die Technik, geschweige denn den Namen der Shakuhachi, Sushi hat dagegen jeder schon einmal gekostet. Darüber hinaus ermutigen die Musikhochschulen die Studierenden nur wenig dazu, auf ihre eigene Art und Weise ihr Repertoire weiter zu entwickeln. Vielmehr werden sie dazu gedrängt, beständig an einem festgelegten und begrenzten Repertoire zu arbeiten, um sich auf verschiedene Wettbewerbe vorzubereiten: die der Hochschulen, dann der nationalen und internationalen Wettbewerbe und schließlich der Orchestervorspiele. An der Musikhochschule, an der ich unterrichte, eine der besten in Europa, gibt es wie an vielen vergleichbaren Musikhochschulen (Hannover, Detmold, UdK in Berlin, etc.), keine feste Professur für elektroakustische Musik oder Akkordeon, und keinen Lehrer für außereuropäische Instrumente. (Andere Hochschulen haben auch keine Professur für Schlagzeug). Die benachbarte Hochschule für Bildende Künste (HGB) beschäftigt dagegen vier Professor*innen der Medienkunst sowie Spezialist*innen für Animation und Sounddesign.

Lehre und Praxis der sogenannten „ernsten“ Musik werden als kulturelles Erbe angesehen und gründen sich vor allem auf Virtuosität, vertiefte Kenntnisse eines begrenzten Repertoires und die Kontinuität einer bestimmten Aufführungstradition. Jede Praxis der Differenzierung, der Öffnung schon zu Beginn der musikalischen Erziehung, der Zeitgemäßheit, der Verwendung neuer Technologien oder der Infragestellung des eigenen Tuns, mithin alles, was in anderen Disziplinen als normal gilt, wird in der subventionierten Musik als experimentell abqualifiziert und bleibt randständig.

Sonderposition der Musik

Warum unterscheidet sich Musik so sehr von anderen Disziplinen, insbesondere von anderen künstlerischen Disziplinen? Wie kann sich eine Disziplin so sehr von anderen Disziplinen des Geistes unterscheiden? Dafür lassen sich meiner Meinung nach drei wesentliche Gründe anführen:

Der erste ist praktisch. Wie im Profi-Sport erfordert Musik eine virtuose technische Beherrschung des eigenen Instruments, die nur durch eine intensive Ausbildung bereits in jungen Jahren bei einem/r Meister*in des Faches erworben werden kann. Ohne strenge Disziplin kann weder das Instrument noch das entsprechende Repertoire richtig erlernt werden. Diese instrumentale Virtuosität manifestiert sich meist auch in der "klassischen" Musik anderer Kontinente. Die erforderliche Technik zur Beherrschung dieses Repertoires erklärt auch den begrenzten Umfang des gespielten Repertoires: Nur wenige Werke vereinen sowohl handwerkliche Meisterschaft im Schreiben für die Instrumente als auch Kreativität und ästhetische Perfektion, um die strenge Auswahl der Nachwelt zu bestehen.

Diese Erklärung, die die zentripetale Natur musikalischer Disziplinen aus der zu ihrer Ausübung notwendigen Virtuosität herleitet, reicht als mögliche Ursache jedoch nicht aus: Tanz ist ebenso virtuos und doch viel offener. Darüber hinaus scheint die Bedeutung der Virtuosität in der Musik sowohl Ursache wie auch Folge ihrer Musealisierung zu sein: Die Bedeutung von Virtuositätswettbewerben (wie im Sport, aber im Gegensatz zum Tanz) und die Entstehung eines Repertoires ab dem 19. Jahrhundert, in dem eben diese Virtuosität zum Ausdruck kommt (Paganini, Chopin, Liszt, Alkan) sowie der Konservatismus des Publikums förderten die Fetischisierung der Instrumentaltechnik. Mit anderen Beurteilungskriterien wäre wohl auch eine andere Kunst möglich gewesen.

Der zweite Grund ist historisch: Erst Mitte des 18. Jahrhunderts verlor die Musik in Westeuropa ihren Status als funktionale, sekundäre Kunstform. Bis dahin begleitete Musik Wörter, Feste, religiöse Rituale, Tanz oder Theater, oder diente als Hintergrund für Gelächter und Diskussionen. Reine Musikstücke dienten bis dahin allein der Lehre und Praxis der Musiker selbst (Bachs „Wohltemperiertes Klavier“). Übrigens scheint es mir so, als habe die Musik heute diese funktionale und sekundäre Rolle wiedererlangt, wenn wir das geringe wirkliche Interesse des Publikums, Intellektueller und Politiker*innen an absoluter Musik betrachten oder auch die „multimediale“ Tendenz in der heutigen E-Musik sowie das häufige Primat von Texten, Videos und visuellen Effekten in der populären Musik sehen.

Autonome Musik als bedeutende Kunstform trat für das nicht aus Musikern gebildete Publikum in Westeuropa erst um 1750 in Erscheinung. Um diese Metamorphose zu einem Theater des auditiven Sinns ohne Sprache, visuelle Form oder Drehbuch zu vollziehen, bedurfte es der Entwicklung der entsprechenden, uns bekannten Techniken: etwa der Sonatenform, die es ermöglicht, die eigene musikalische Sprache dialektisch zu entwickeln, großartige instrumentale Gattungen wie das sinfonische Orchesterwerk, das Streichquartett oder später das Klavier (polyphones Salon-Instrument im Dienste des Bürgertums, das im Unterschied zum Hofadel, wo die Unterhaltung zentralisierter organisiert war, gerne als Amateur und in intimen Interieurs musizierte).

Diese Veränderungen stehen sowohl in der Amateur- als auch in der Berufspraxis symbolisch für musikalische, aber auch politische und soziologische Umwälzungen: Bisher waren die Ensemblemusiker, die „Ripienisten“, Halb-Profis. Sie waren in den Hofhierarchien, Priestern, Schauspielern oder Solisten unterstellt und versahen neben ihrer musikalischen Praxis auch andere Aufgaben [8]. Ab 1710 professionalisierten sich die Ripienisten, beispielsweise in Versailles oder Dresden, wurden aber paradoxerweise einer gewissen interpretatorischen Autonomie beraubt: Man verlangte von ihnen weniger Ornamentik, weniger musikalische Freiheit [9], dafür aber eine größere Fähigkeit, immer komplexer und genauer notierte Werke zu lesen und präzis interpretieren zu können. Dies war die allmähliche Entstehung des Berufsmusikers und des Orchesters (z.B. das Leipziger Gewandhaus, 1743). Diese Periode markiert auch die Entstehung des Konzepts der „E-Musik“, einer von Autor*innen geschriebenen Musik mit universellem Anspruch [10] sowie die Gründung von Konservatorien (Paris, 1795; Prag, 1811; Wien, 1819; Leipzig, 1843).

Diese große Epoche der absoluten Musik, sei es in Bezug auf das Schreiben, die Kreativität, die Popularität, die Instrumentaltechnik oder die instrumentale Virtuosität, erreicht m.E. mit Beethoven ihren Höhepunkt. Er verwendet meist musikalisches Material, das auf schlichte Solfeggio-Gesten reduziert ist (ein Arpeggio, zwei Noten, ein Akkord), das er zu langen, ausgeklügelten und abwechslungsreichen Formen entwickelt, ohne dabei Langeweile oder Frustration zu verursachen. Beethoven verwandelt also das Wesen dieser Kunst, indem er festlegt, dass ein musikalisches Werk nicht mehr an der Qualität seiner Motive gemessen wird, sondern an der Strategie ihrer Entwicklung und Ausschöpfung, mit anderen Worten, dass Musik, losgelöst von anderen Ausdrucksformen, kein Was, sondern ein zeitliches Wie ist. Beethoven erhöht schlagartig den ästhetischen Anspruch dieser Kunst der Zeit und des Klangausdrucks. Er verherrlicht und verkörpert die Figur des autonomen, vom Publikumsgeschmack unkompromittierten Komponisten und grenzt endgültig die E-Musik von der populären Musik ab. Vor allem aber erschließt er eine transzendente Dimension der existenziellen Zeiterfahrung, die andere künstlerische Disziplinen nur schwer erreichen können.

So wurde nach Beethovens Tod (1827) einerseits der Status der autonomen Musik neu diskutiert (Erneuerung der Oper, Programmmusik, virtuose und wettbewerbsfähige Musik), ohne dabei die großen Formen zu verleugnen (Wagner, Mahler), und andererseits entstand das Bedürfnis, dieses Repertoire zum kulturellen Erbe zu erheben. Franz Liszt rief 1835 dazu auf, nach dem Vorbild der Kunstmuseen, „Museumskonzerte“ [11] zu schaffen, um von Zeit zu Zeit die Meisterwerke vergangener Repertoires aufzuführen und dadurch zu bewahren. Johann Nikolaus Forkel, Ferdinand Hiller und Felix Mendelssohn Bartholdy, und auch François-Joseph Fétis, Marie Bigot de Morogues oder Bonaventure Laurens entrissen für das große Publikum (d.h. für die nicht professionellen Musiker) die Johann-Sebastian Bachs Kompositionen dem Vergessen, der als der ultimativer Vertreter eines musikalischen Konstruktivismus erscheint: Endlich wurde das Genre „Musik“, wenn auch techniklastig und nicht zeitgenössisch, als nicht-sekundäre Kunstform vom Publikum entdeckt.

Die meisten Institutionen für das Lernen und die Verbreitung der E-Musik verharren so, und das nicht ohne Grund, in der Faszination für diese 170 Jahre öffentlichen Triumphs der absoluten Musik, die sowohl elitär als auch beliebt ist. Die Instrumente, die in den Musikhochschulen unterrichtet werden, sind auch heute noch meist jene, die es erlauben, das Repertoire dieser Zeit zu spielen. Das Akkordeon, das Cembalo, die Viola da Gamba, elektronische Instrumente oder das ’ud, bleiben dagegen am Rand, und die „alte“ oder „zeitgenössische“ Musik sowie die Musik anderer Regionen sitzen fast buchstäblich in der historischen bzw. geografischen Peripherie. Die große Mehrheit der subventionierten Orchester widmet sich dem Repertoire der glorreichen 170 Jahre. Uraufführungen werden dagegen immer seltener: Anfang des 19. Jahrhunderts machten sie den größten Teil eines Konzerts aus, zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es eine Uraufführung pro Konzert, heute sind sie eine Rarität. Schließlich bleibt dieses Repertoire die offensichtliche Referenz für das reguläre Publikum wie auch für Politiker*innen im „Westen“, wenn es darum geht, über Musik im Sinne von ernster Kunst und eines gemeinsamen Kulturerbes nachzudenken. Umgekehrt haben andere künstlerische Disziplinen und sogar alle geistigen Disziplinen das Glück, ihre Vorbilder und ihren öffentlichen Ruhm aus vielfältigeren historischen und geographischen Kontexten beziehen und schöpfen zu können. Sie sind nicht mit dem dreifachen Zwang konfrontiert, zugleich den Ansprüchen der Popularität, des virtuosen Schreibens und der Universalität gerecht zu werden, und können daher, vielleicht als Konsequenz, ihre Zeitgenossenschaft besser leben.

Der dritte Grund für diese historistische und eurozentrische Tendenz und die Behinderung bestimmter Entwicklungen scheint mir epistemologischer Natur zu sein: Die europäische E-Musik hat, im Gegensatz zu allen anderen Künsten und aller Musik anderer Kulturen, einen Sonderstatus zwischen Wissenschaft und Kunst, und das seit Pythagoras, mit einem ausgeprägten Interesse an der Eigenlogik ihrer Sprache (der Philosoph Jacques Derrida spricht von „Logozentrismus“). Dieses Interesse wurde je nach Epoche mehr oder weniger bekräftigt (im Quadrivium in Antike und Mittelalter, im Spätbarock, im musikalischen Strukturalismus nach 1945) und durch das Erscheinen einer autonomen und umfassenden Notation zwischen dem 9. und 13. Jahrhundert, die in den anderen Künsten nicht existiert, weiter gefestigt. So stellte der Anthropologe Jack Goody [12] fest, dass die „Verwissenschaftlichung“ einer Disziplin mit der Möglichkeit einer Verschriftlichung einhergeht, da die Transkription ermöglicht, Informationen objektiv zu fixieren und zu übermitteln, Abstraktionen und Abstraktionen von Abstraktionen zu schaffen (in der Musik: die Note, der Akkord, die Sequenz etc.). Das Schreiben ermöglicht auch die Priorisierung und Parametrisierung von Informationen. Dennoch generiert jede Schrift, wie Jacques Derrida [13] zeigte, ihren eigenen Logos, der wiederum seine eigene Weltanschauung erzeugt. Die europäische Tri-Parametrisierung des musikalischen Objekts in Rhythmus, Tonhöhe und Dynamik und deren jeweilige Zerlegung in endliche Zeichensysteme (7 Elemente mit ‚Akzenten‘ für die Tonhöhen, diskretes Alphabet für die Dynamik und den Rhythmus) bleiben zum Beispiel hochartifizielle Konstruktionen, die sowohl das Denken als auch die Wahrnehmung verengen [14]. Die meisten anderen Musikkulturen arbeiten mit musikalischen Elementen, die wesentlich transparametrischer und flexibler sind: Klangfarbenverwandlung, „Klangschatten“ (Komposition der Resonanz – Vibrato, Anschlagsarten, Glissandi – zum Beispiel in den Repertoires vieler asiatischer Saiteninstrumente), Mikrotonalität, Hinzufügung von Geräuschen, kontinuierliche Veränderungen, Komposition des Raums, der Zeit und der Jahreszeit der Interpretation, und der Symbolik des Konzerts, usw.

Die westliche Tri-Parametrisierung der Musik bleibt auch im Einklang mit der cartesianischen Ideologie (Dritte Methode von Descartes: Zerlegung eines Problems in einfachere Probleme). Die Zerlegung der einzelnen Parameter in ein diskretes Zeichensystem hat es der europäischen Musik ermöglicht, hochkomplexe kombinatorische Systeme (Polyphonie, Kontrapunkt, Serialität) zu entwickeln, die in anderen Musikkulturen und anderen künstlerischen Disziplinen ihresgleichen suchen. Die Schrift und ihr eigenes Alphabet erlauben diese Autonomie der Transkription, ermöglichen aber auch durch diese Grammatologien des Zeichens den Eindruck der Autonomie des Denkens. So entwickelte die Ars Nova des 14. Jahrhunderts unmittelbar nach der endgültigen Festlegung der Notation von Rhythmen und Tonhöhen im 13. Jahrhundert zahlreiche Techniken, die auf dem reinen Spiel der Schrift beruhen: Kanon, Talea, Color, Krebs, usw... Diese Techniken blieben über mehrere Jahrhunderte hinweg unverzichtbar, ebenso wie die Notwendigkeit einer ‚Logik des Schreibens‘, die immer noch sehr präsent ist. Komponist*innen wurden so ab dem 14. Jahrhundert in Westeuropa Komponist*innen von musikalischen Sinn wie auch von musikalischem Zeichen, und auch Denker*innen der musikalischen Sprache.

Dieses westliche logozentrische Paradigma, das durch eine explizite Musiktheorie gestützt wird, hat in anderen Kulturen oder in anderen künstlerischen Disziplinen keine Entsprechung. (Stellt nicht die Musiktheorie, obwohl sie zugegebenermaßen notwendig ist, eine eingeschränkte Art dar, Musik zu produzieren und über sie nachzudenken, gestützt von ihrem Propagandawerkzeug, der musikalischen Analyse?) Diese Fähigkeit einer musikalischen Darstellung zur Graphemologie (Transkription) sowie zur Grammatologie (Denken aus der Schrift) hat den elitären und gleichzeitig universalistischen Anspruch der europäischen klassischen Musik verstärkt. Gewiss, der Logozentrismus wurde nach dem strukturalistischen Exzess von 1948 bis ’68 und der Entdeckung, dass andere Haltungen, sogar rein orale Musik, komplex sein können, zunehmend in Frage gestellt. Allerdings halten sich viele logozentrische Haltungen hartnäckig, was weitere mögliche Entwicklungen behindert.

Und Heute?

Fast 200 Jahre nach Beethovens Tod und der Gründung der ersten Konservatorien, in einer Zeit der Globalisierung und Digitalisierung unserer Gesellschaft, haben sich die Aufgaben und die Organisation der meisten subventionierten Musikinstitutionen, vor allem der Konzerthäuser, symphonischen Orchester und Musikhochschulen, in mancher Hinsicht wenig verändert, trotz vereinzelter bemerkenswerter individueller und institutioneller experimenteller Initiativen. Die meisten Dispositive dieser „europäischen klassischen Musik“ kanonisieren und fetischisieren [15] weiterhin ein bestimmtes Paradigma sowie eine ihm korrespondierende Praxis.

Daher lassen die meisten dieser Institutionen augenscheinlich weiterhin die Musikgeschichte vieler anderer Kulturen außen vor und ignorieren, dass auch diese Kulturen ihre „klassische“ Musik haben (persisches Radif, japanisches Gagaku, koreanisches A.ak, chinesisches Yayue, vietnamesisches Nhã nhac, Hindustani Dhrupad, usw.). Sie verkennen, dass andere Repertoires auf der ganzen Welt ebenso komplex, transzendent, schön und universell sind und dass Komponist*innen und Theoretiker*innen ihre jeweiligen Musikgeschichten geprägt haben (Al Kindi, Zhu Zaiyu, Armir Khusrow, Matanga Muni, etc.). Wie viele Musikwissenschaftler*innen und Musiker*innen haben diese Namen schon gehört? Warum konzentriert sich der Unterricht in Musiktheorie an Konservatorien und Musikhochschulen immer noch so sehr auf die Vermittlung der europäischen tonalen Harmonielehre und des Kontrapunkts, die sicherlich notwendig sind, die aber sowohl E- als auch U- Komponist*innen heute kaum noch verwenden? Warum werden die Theorien der indischen Shruti und Taala, die Prinzipien der Kontrametrik und Polyrhythmik in der Pygmäen-Musik, Akustik, Studiotechniken u.v.m. nicht im regulären Unterricht in Musiktheorie und Gehörbildung behandelt? In welchen subventionierten Konzertsälen (die tatsächlich existieren, wenn auch in Deutschland so selten!) konnte man so bedeutende Interpreten wie Mamady Keïta, Alim Qasimov, Mohammad Reza Shadjarian oder Lakshmi Shankar hören, während in der ganzen Welt Mozart und Stockhausen gespielt werden? Fast unmöglich, Interpretationen von Pansori, Kecak oder Qawwali zu hören, während wir es normal finden, dass europäische klassische Musik von Tokio bis Buenos Aires unterrichtet und gespielt wird? Nicht einfach, sich in Ud, Dàn bau, Djembé oder Duduk zu perfektionieren, obwohl viele anerkannte Interpreten dieser Instrumente in Europa leben und dort große Gemeinschaften nordafrikanischer, vietnamesischer, malinker oder armenischer Herkunft leben [16]? Wann werden Sinfonieorchester versuchen, ihr Repertoire zu erweitern oder programmatisch sich voneinander abzuheben? Wann werden sie die Technologien ihrer Zeit nutzen, experimentellere Arbeitsweisen praktizieren, den reduzierten Pantheon des europäischen Klassik-Kanons dekonstruieren und uns dabei auch Komponist*innen wie Joseph Bologna de Saint-George, Johann Baptist Wanhal, Antoine Reicha, Lili Boulanger, Karl Goldmark, Mel Bonis oder Ruth Crawford Seeger vorstellen? Wann werden Technologie, experimentellere Ansätze und kritisches Denken in die subventionierten Konzert-, Produktion- und Musikausbildunginstitutionen eindringen, wo diese Haltungen in der populären Musik und jeder anderen Disziplin bereits tief verwurzelt sind?

Der amerikanische Ideenhistoriker Mark Lilla [17] konstruiert eine kluge Unterscheidung zwischen einem Konservativen, der Positionen der Vergangenheit dialektisch verteidigt, und einem Reaktionär, der sich bestimmten Fortschritten verweigert, indem er eine „Mytho-Geschichte“ als Argument konstruiert, ähnlich wie der Revolutionär. Subventionierte Musikinstitutionen, vor allem solche, die unterrichten, haben in ihrer Zurückhaltung – sei es in Bezug auf Forschung, kritisches Denken, den Einsatz neuer Technologien, sei es in Bezug auf geschichtliche, geografische und denkmalpflegerische Offenheit – oft das Argument vorgebracht, dass die Priorität auf der Arbeit an kanonischen Werken liegen sollte, um die Studierenden auf internationale Wettbewerbe vorzubereiten und das Angebot mit den Erwartungen eines scheuen Publikums in Übereinstimmung zu bringen, das sich nur für bestimmte Werke in Bewegung setzt. Diese beiden Argumente sind nur Vorwand für eine fetischistische Reaktion auf eine vergangene Epoche.

Einerseits müssen wir akzeptieren, dass die sogenannte absolute Musik für einen großen Teil des Publikums zu einer toten Sprache geworden ist [18]. Wir müssen erkennen, dass die Leidenschaft für aufmerksames Zuhören wieder einmal nur einer fast monomanischen Minderheit (mit der ich mich identifiziere) vorbehalten ist, die sich in ihrem Verhalten fast losgelöst von ihren anderen Sinnen zeigt. Seit dem 20. Jahrhundert verbreitete sich unvermeidlich durch neue Arten der Klangreproduktion im öffentlichen und privaten Raum – Aufzügen, Supermärkten, Computerspielen – eine akustische Verschmutzung durch einfache tonale Musik, die das Gehör indoktriniert, um es für die Produkte der Massenkultur zu konditionieren. Diese neuartige Situation muss mit der musikalischen Stille verglichen werden, die in vergangenen Jahrhunderten herrschte und die in gewisser Weise eine andere „Ansprechbarkeit“ des Ohrs ermöglichte. Und dennoch bzw. gerade deshalb sollten sich spezialisierte Institutionen, insbesondere Bildungseinrichtungen der Aufgabe widmen, ein Kulturerbe intelligent zu verteidigen und gleichzeitig die eigenen Disziplinen immer wieder in Frage zu stellen. Die Hochschulen für Musik sind sicherlich immer noch jene, die am weitesten vom Humboldt’schen Ideal entfernt sind.

Andererseits ist das Argument, die zeitgenössische Musik im 20. Jahrhundert sei spätestens seit Schönberg zu radikal und entferne sich immer weiter von ihrem Publikum, nicht stichhaltig. Neu in unserer Zeit ist vor allem nicht die zeitgenössische Musik, sondern die Musealisierung vergangener E-Musik. Vergessen wir nicht die Modernität und die Singularität, die die meisten Komponist*innen, die im heutigen musikalischen Pantheon figurieren, zu ihren Lebzeiten hatten [19]. Vergessen wir nicht, dass, als Heinrich Ignaz Franz Biber die „Rosenkranzsonaten“ [20] für Violine oder Wolfgang Amadeus Mozart sein Klarinettenkonzert komponierten, beide Instrumente erst vor kurzem das Licht der Welt erblickt hatten (die Bassettklarinette wurde 1788 erfunden, drei Jahre bevor das Konzert geschrieben wurde). Vergessen wir auch nicht die instrumentale und kompositorische Provokation des Trios für Violine, Klavier und (Natur-)Horn von Johannes Brahms. Mit anderen Worten: Noch nie war Musik so wenig zeitgenössisch wie heute.

Der musikalische Bereich, der staatlich subventioniert ist, ist gewiss nicht rassistischer als andere Bereiche. Aber die hier dargestellten Paradigmen, Orientierungen und Fetischisierungen führen zu extrem verzerrten und hegemonialen Darstellungen der Welt. Dies wird zunehmend deutlich, denn in letzter Zeit erscheinen immer mehr kritische Zeugnisse essentialistischer, rassistischer [21] oder geschlechtsspezifischer Diskriminierung. Vor allem ist das beschriebene Milieu, ohne es immer zu merken, an reaktionärem Denken mitschuldig geworden. Es verteidigt ein kulturelles Erbe, das angeblich nicht diskutierbar und anderen überlegen ist. Betreten Sie irgendeine nicht-musikalische Hochschule und Sie werden schnell feststellen, dass die aktuellsten Technologien, Interdisziplinarität und Infragestellung ihrer Disziplinen, insbesondere im Spiegel ihrer Zeit (Me Too, Black Lives Matter, Intersektionalität etc.) präsent sind. Gehen Sie anderseits an eine Musikhochschule und lassen Sie sich überraschen von diesem Kokon aus spezialisierten Kursen und Studierenden, die in einer zeitlosen Atmosphäre unermüdlich an ihrer Partitur üben, auch wenn immer mehr Akteure nach Veränderung streben.

Ich habe künstlerische Leiter*innen großer Konzerthäuser gefragt, warum zeitgenössische Kunstmusik oder klassische Musik aus anderen Traditionen in ihren Programmen so wenig vertreten sind. Insbesondere gegen das Erstarken rechtsextremer Vorurteile und in der Absicht, ein Publikum unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters zu gewinnen, wäre es dringend nötig, anders zu programmieren. Diese Programmdirektor*innen erwiderten mir, dass ihre Programmierung nicht politisch sein dürfe (?) und dass sie die Pflicht hätten, ihr Publikum zu erhalten, weil sie ihre Säle füllen müssten. (Angesichts solcher Antworten beneiden wir die neugierigen Theatergänger von heute zutiefst). Gleichzeitig verbreiten viele große Symphonieorchester weiterhin in der ganzen Welt ihre auf einige wenige berühmte, männliche, weiße, tote und kanonisierte Komponisten beschränkte Programmierung wie eine frohe Botschaft. Dass sie dabei ohne sichtbare Skrupel, mit 60+ Musikern für vier Tage nach Tokio oder Los Angeles fliegen, ohne jeglichen Gedanken über ihren ökologischen Fußabdruck, macht die Sache nicht besser.

Musik ist per definitionem eine lebendige Kunst, denn sie ist allographisch, und ihr Genuss kann nur im Moment ihrer Realisierung stattfinden. Musik ist auch ein Phänomen der Vermischung, denn kein Instrument, Genre, auch kein(e) Komponist*in ist ohne vielfache und manchmal zufällige Begegnungen zu dem geworden, was es, sie oder er ist. Die „klassische und romantische“ europäische Musik, die wir alle schätzen, war zu ihrer Zeit modern. Ihr universeller Anspruch war der ihrer Zeit: eine vielleicht westliche, eurozentrische, phallozentrische, und kolonialistische, wenn nicht sogar rassistische, aber auch utopische Welt, Produkt gewagter Experimente und vielfältiger Erfahrungen. Die Welt hat sich verändert. Es ist Zeit, vielleicht auch aus Loyalität dieser damals so zeitgenössischen Musik gegenüber, dass sich Bildungs-, Produktions- und Konzertinstitutionen radikal verändern und sich unserer Zeit stellen. Es ist an der Zeit, dass die Bundesländer und der Bund, die die großen Konzerthäuser, die großen Staatsorchester, die öffentlichen Sendeanstalten und die Musikhochschulen subventionieren, in diesem Sinne den Kulturauftrag klarer formulieren. Lasst uns eine weniger zentrierte Musikwelt aufbauen, ohne dabei das kulturelle Erbe zu verleugnen, indem wir uns aktiv für neue Erfahrungen und für vielfältigere geografische, historische und geschlechtsspezifische Horizonte interessieren, kritische Fragen stellen und uns vor allem auf ihre Zukunft konzentrieren.


Fußnoten

[1] Ein vielleicht passenderes Wort wäre suprematistisch gewesen, das im Deutschen einen anderen Begriffsinhalt hat (Malewitsch). Hier wird ein Begriff in seiner ursprünglichen Bedeutung eines Überlegenheitsgefühls einer Gruppe oder einer Kultur verwendet, die durch Machtmissbrauch, Strukturen oder Akten ein Wert- und Privilegiensystem aufrechthalten. Im Gegensatz zu Rassismus bedeutet dies nicht unbedingt bewussten Hass gegen eine Gruppe.

[2] Mein herzlicher Dank geht an Nicolas Donin François Picard, Fabien Roussel, Serge Weber und, für die deutsche Fassung, an Elisa Primavera-Lévy und Michael Zwenzner für das genaue Korrekturlesen und ihre Kommentare.

[3] Siehe unter anderem in Bezug auf bildenden Künste, Nicolas Bourriaud, „Relational Aesthetics“ (Les Presse Du Réel, Paris, 1998), und „Altermodern“, Tate Triennal (Tate Publishing, London, 2009). [zurück]

[4] Bach, Mozart, Beethoven stellen ungefähr 20 bis 25 Prozent der symphonischen Werke, die in der Welt von Orchestern gespielt werden; inklusive Brahms, Schubert und Tschaikowski sind es 33%; inklusive Haydn, Schumann, Händel, Ravel, Mendelssohn, Debussy, Rachmaninow, Chopin, Dvorak, Schostakowitsch, Johann Strauß Sohn, Vivaldi, Mahler, Richard Strauss und Stravinsky sind es 70%. Quelle: https://bachtrack.com/fr_FR/classical-music-statistics-2017 für ca. 32.000 Vorstellungen pro Jahr. [zurück]

[5] Lully verwirklichte 1664 auf Wunsch Ludwigs XIV. die Idee, während der „Fête des plaisirs de l’Isle enchantée“ in Versailles die Streichorchester der Inneren Gemächer – die Violons du Roy – und die Parade-Ensembles für Freilichtaufführungen - Bläser und Schlagzeug - zusammen spielen zu lassen, wobei die Parade-Ensembles hinter dem Streichorchester Aufstellung nahmen. Außerdem forderte er sie auf, sich nach dem Vorbild des Sonnenkönigs und des Hofstaats von einem stummen und mit einem Stab bzw. Stock ausgestatteten Quasi-Demiurgen geführt zu werden und ihre Bogenbewegungen zu synchronisieren. Die räumliche Anordnung wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen der Figur des Dirigenten durchgesetzt. [zurück]

[6] Eines der wenigen Sinfonieorchester in der Welt, das in besonderem Maße neue Interpretationsansätze praktizierte – Verräumlichung, neue Spieltechniken, Einsatz von Technologien – war das SWR Sinfonieorchester Freiburg, das 2016 aufgelöst wurde, ohne dass Politiker*innen oder die meisten klassischen Musiker*innen reagierten. [zurück]

[7] Die Musikethnologie (ursprünglich vergleichende Musikwissenschaft) geht im deutschsprachigen Raum auf das kulturwissenschaftliche Denken des 19. Jahrhunderts zurück, das zunächst versuchte, die deutsche Kultur in vielen Bereichen im Vergleich zu anderen Kulturen besser zu definieren. Siehe die Gründung des beeindruckenden Berliner Phonogramm-Archivs durch Erich von Hornbostel und Otto Abraham sowie die bahnbrechenden Arbeiten von Curt Sachs und anderen. Deutschland war zu Beginn des 20. Jahrhunderts führend in der Musikethnologie, doch leider hat dieses Interesse seit dem Aufstieg des Nationalsozialismus stark nachgelassen. Heutzutage sind in der Welt die ethno-musikwissenschaftlichen Forschungsansätze (die die musikalische Analyse in den Mittelpunkt stellen) selten, sie bevorzugen eher einen musik-ethnologischen Ansatz, d.h. eine Anthropologie der musikalischen Praktiken. [zurück]

[8] Zum Wandel des Status des Komponisten vom Hofdiener zum freischaffenden Künstler siehe Norbert Elias: Mozart, zur Soziologie eines Genie, Suhrkamp, 2005. Für Elias versuchte Mozart erfolglos, diese Rollenveränderung des Komponisten zu antizipieren, die die Emanzipation des Bürgertums vom Adel seit der Französischen Revolution vorwegnahm. [zurück]

[9] Kai Köpp: Handbuch historischer Orchesterpraxis: Barock, Klassik, Romantik, Bärenreiter, 2009. [zurück]

[10] Mattew Gelbart zeigt in The Invention of “Folk Music” and “Art Music”: Emerging Categories from Ossian to Wagner. (Cambridge University Press, 2007), dass das Konzept der ‚ernsten Musik‘ erst um 1780 konstruiert wurde, und zwar auf der Grundlage falscher eurozentrischer, geographischer und musikalischer Argumente: Populäre Musik sei lokal, während die E-Musik einen universalistischen Anspruch habe und Grenzen überschreite; allerdings hätten die verschiedenen populären Musikformen gemeinsame Merkmale, die sie von der E-Musik als weniger entwickelte Musik unterscheiden würden: eine anhemitonische (ohne Halbtöne), pentatonische Modalität, die das Fehlen bestimmter Töne und Intervalle beweist. Diese Volksmusiken (folk music) befänden sich zudem an der Peripherie der europäischen Zivilisation, von Schottland (zu dieser Zeit hochexemplarisch) bis nach China über den Balkan. Es ist anzumerken, dass zeitgleich zur Aufklärung mit ihrem universalistischen Anspruch der Begriff der Rasse entstand und dass beispielweise die weiße Reinheit der irischen ‚Rasse’ diskutiert wurde (siehe die Arbeit von Nell Irvin Painter). [zurück]

[11] Lydia Goehr, The Imaginary Museum of Musical Works, Oxford Univerity Press, rev. edition 2007, S. 205. [zurück]

[12] Jack Goody, The domestication of the savage mind, Cambridge University Press, Cambridge-New York, 1977, S.37–59. Lucien Lévy-Bruhl sprach bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der „prälogischen Mentalität“ in sogenannten „primitiven“ Gesellschaften, d.h. von der Koexistenz des logischen und prälogischen Elements im wesentlichen „synthetischen und nicht-analytischen Mentalitäten“ (Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures, Felix Alcan, Paris. 1910, S.111). [zurück]

[13] Jacques Derrida (De la grammatologie, Paris, Minuit, 1967, S.124) widerspricht Goodys Ausführungen, die Hierarchien zwischen schriftlichen, also rationaleren Kulturen und schriftlosen, offenbar auf Glauben basierenden Kulturen implizieren, mit dem Konzept der Archi-écriture, das auch in oralen Kulturen vorkommt. Neuere Arbeiten über die Komplexität des "Schreibens" in vielen oralen Kulturen haben diese Nuance bestätigt. Siehe z.B. die Arbeiten in der Musikethnologie und Ethnomathematik von Marc Chemillier oder Simha Arom. [zurück]

[14] Siehe Fabien Lévy, Notre notation musicale est-elle une surdité au monde?, Ethique et significations, La fidélité en art et en discours, Hg. Mathilde Vallespir, Lia Kurts und Marie-Albane Rioux, Bruylant, 2007; und „La musique occidentale et ses (ab)-surdités au monde: une autre consonance, venue de Bagdad“, Revue Filigrane, n°1, “Musique et globalisation: une approche critique“, Hg. Makis Solomos, Delatour, France, I/ 2013. Diese künstliche Tri-Parametrisierung führt z.B. zu einer falschen theoretischen Definition dessen, was ein Rhythmus ist (die Rhythmen von Akzenten und Dynamik werden im gleichnamigen Alphabet vergessen). Ein weiteres Beispiel: eine Frequenz ist akustisch eine Amplitudenänderung in der Zeit, also ein Rhythmus der Dynamik. [zurück]

[15] Theodor W. Adorno: „Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens”, Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 7: Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie, 1938. Der Begriff der Fetischisierung ist Karl Marx entlehnt, der 1867 den Fetischismus der Ware jenseits ihres einzigen Gebrauchswertes anprangerte, und zwar aufgrund des aufkommenden Konsumismus und der Fragmentierung der Arbeit, die es sowohl dem Arbeiter als auch dem Konsumenten nicht mehr erlaubte, die Produktionskette sozial und ethisch zu kontrollieren. Adorno greift in der Musik diese Kritik auf und wendet sie gegen die Vergötterung der Interpreten (Toscanini) und einen fetischisierten und regressiven Konsum von Musik, bei dem nichts verstanden und nicht richtig zugehört wird. Zahlreiche Beispiele bestätigen diese Analyse, vom auffälligen Konsum bestimmter Repertoires zu Distinktionszwecken (vgl. Bourdieu), über die Reduktion von Werken auf Ausschnitte oder Klingeltöne, bis hin zu Werken, die von ihrer Konzeption her auf eine merkantile Nachfrage reagieren wollen, bis hin zur Bedeutung, die der Werbung oder der quantitativen Erfolg (Verkaufszahlen, Einschaltquoten, Konzertauslastung) beigemessen wird. [zurück]

[16] Einige Musikschulen (u.a. Basel, Romans, Berlin/Kreuzberg) entwickeln Unterrichtsformate für außereuropäische Instrumente, aber solche Initiativen bleiben selten. [zurück]

[17] Mark Lila, The Shipwrecked Mind: On Political Reaction, New York Review Books, 2016 [zurück]

[18] Vgl z.B. Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie (Schott Music, Mainz, 2012). Lehmann verbindet das Ende der autonomen Musik und die De-Institutionalisierung der Musik mit der Digitalisierung der Musik in all ihren Aspekten: digitale Produktion (mit synthetischen Instrumenten), digitales Publizieren (im Web), digitale Promotion und Distribution (einschließlich Internet und soziale Netzwerke), digitale Kritik (Forum). Musik würde dann „relational“ zu anderen Medien und konzeptioneller werden. Ich stelle hier jedoch nicht die „autonome“ Musik der Musik gegenüber, die andere Medien begleitet, sondern beschwöre die Zeitgenossenschaft der Musik, die von einigen Hörern in einer autonomen Weise betrachtet werden kann, auch wenn sie in Verbindung mit anderen Funktionen eingesetzt werden. Der Begriff der autonomen Musik ist, so scheint es mir, ein Problem der Rezeption und nicht der Produktion. [zurück]

[19] „Wir spielen Neue Musik aus allen Zeiten“ war der Slogan von François-Xavier Roth, als er an der Spitze des SWR Sinfonieorchesters Freiburg war. [zurück]

[20] Jede Sonate erfordert eine bestimmte Skordatur, also individuell umgestimmte Saiten der Violine, in der 11. Sonate verlangt sogar eine Kreuzung der mittleren Violinsaiten zwischen Saitenhalter und Steg. [zurück]

[21] Siehe z.B. in Bezug auf essentialistischen Rassismus in der Musik: George E. Lewis: “A Small Act of Curation“, in: on curating, Issue 44, Curating Contemporary Music, https://www.on-curating.org/issue-44-reader/a-small-act-of-curation.html (zuletzt eingesehen: 10.11.2020), sowie die Aussagen von Daniele G. Daude oder Eva Morlang. Siehe auch die kürzlich von Prof. Philip Ewell entfachte Kontroverse gegen die Music-Theory-Lehre in der USA: https://mtosmt.org/issues/mto.20.26.2/mto.20.26.2.ewell.html. Zahlreiche Arbeiten (Kofi Agawu, Georgina Born, Ellie Hisama, Nazir Ali Jairazbhoy, Loren Kajikawa, Tamara Levitz, Alexander Rehding, Margaret Walker, u.a.) haben sich mit der Frage der Diversität im Musikunterricht an Musikhochschulen und Universitäten beschäftigt. [zurück]

Autor
Print-Rubriken
Unterrubrik