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Fünfzig Jahre Förderung neuer Musik

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Björn Gottstein im Gespräch mit Rainer Nonnenmann über die Ernst von Siemens Musikstiftung
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Diese weltweit wohl potenteste Stiftung für neue Musik wurde 1972 durch Ernst von Siemens gegründet, dem Enkel des Gründers des heutigen Technologiekonzerns. Seit 1973 vergibt sie jährlich den mit 250.000 Euro dotierten Musikpreis sowie seit 1990 drei mit jeweils 35.000 Euro ausgestattete Förderpreise. Hinzu kommen jährlich zwei Ensemble-Förderungen und zwei Residenzen in der Casa Orfeo der Wilhelm-Kempff-Kulturstiftung in Positano. Ferner unterstützt die Stiftung Studierende, Musikschaffende aus der Ukraine sowie vor allem zahlreiche Einzelprojekte, Konzerte, Kompositionsaufträge, Symposien, Vermittlungsinitiativen und Publikationen. Für das Musikleben ist die Ernst von Siemens Musikstiftung längst unentbehrlich geworden. Seit Anfang 2022 ist Björn Gottstein Sekretär des Kuratoriums der Stiftung. Zuvor hat er als Redakteur für neue Musik des SWR und künstlerischer Leiter der Donau­eschinger Musiktage Sendungen und Konzertprogramme gestaltet. Nun ist er für die Vorbereitung, Durchführung und Umsetzung der Beschlüsse des Kuratoriums der Schweizer Privatstiftung mit Geschäftssitz in Zug zuständig. Die zehn Persönlichkeiten des Kuratoriums stammen aus den Bereichen Komposition, Interpretation, Veranstaltung und Musikwissenschaft. Sie schlagen die Haupt- und Förderpreisträger vor und entscheiden nebst Vergabe der Preise auch über alle anderen Förderprojekte.

neue musikzeitung: Warum haben Sie die Seite vom antragstellenden Veranstalter zu einem Veranstaltungen ermöglichenden Mittelgeber gewechselt?

Björn Gottstein: Ich hatte zusammen mit Christine Fischer zwei Jahre das Stuttgarter Festival Eclat geleitet und dann sieben Jahre die Donaueschinger Musiktage. Nach neun Jahren künstlerischer Leitung hatte ich das Gefühl, dass nun andere die kuratorische Gestaltung übernehmen sollten und ich im Alter von Mitte fünfzig nochmals die Perspektive wechseln wollte. Ich bin jetzt nicht mehr immer mit den nächsten Uraufführungen befasst, sondern kann mit größerer Distanz, Umsicht und langfristiger Perspektive auf das Musikleben blicken.

nmz: Welche andere Sicht hat sich Ihnen dadurch eröffnet?

Gottstein: Bei der Ernst von Siemens-Musikstiftung geht es uns darum, ein Gespür dafür zu bekommen, was die Kunst braucht, was notwendig ist, wo und wie wir helfen können, und ob wir dafür die richtigen Instrumente und Mittel haben. Das erfordert viele Gespräche mit Akteuren aus einer Position heraus, die eine gewisse Neutralität hat, weil ich selbst keine unmittelbaren Ziele umsetzen möchte. Zugleich habe ich während meines ersten Jahres bei der Stiftung festgestellt, dass wir auch selbst aktiv werden und auf potentielle Antragsteller zugehen müssen, um bei den Förderprojekten ein diverseres Profil zu erreichen. Unsere Förderungen konzentrieren sich sehr stark auf den deutschsprachigen Raum und Europa. Um mehr geografische Pluralität zu ermöglichen, haben wir daher ein Pilotprojekt in der Türkei gestartet, um dortige Akteure zu ermutigen, Projekte neuer Musik zu entwickeln und dafür auch Förderanträge zu stellen.

nmz: Die meisten Sammler und Stifter befassen sich mit bildender Kunst. Wie kam Ernst von Siemens dazu, die nach ihm benannte Stiftung der neuen Musik zu widmen?

Gottstein: Die Firma Siemens hatte eine unternehmerische Nähe zu Audio- und Unterhaltungselektronik, auch Anteile an großen Schallplattenfirmen, und in München auch ein eigenes Studio für elektronische Musik. Ernst von Siemens selber war ein leidenschaftlicher Liebhaber von Musik. In seinem Haus in den Bergen hatte er einen besonderen Abhörraum mit guten akustischen Eigenschaften und Geräten. Zur Musikstiftung musste er dann wohl ein bisschen überredet werden, zum einen durch Elsa Schiller, eine Produzentin der Deutschen Grammophon, zum anderen durch den Dirigenten und Mäzen Paul Sacher, mit dem er gut befreundet war, der selber im gleichen Jahr 1973 seine eigene Stiftung gründete und dann auch viele Jahre im Kuratorium der Ernst von Siemens Musikstiftung mitwirkte.

nmz: Zu den Organen der Stiftung gehören ein Kuratorium und ein Stiftungsrat. In welchem Verhältnis stehen diese?

Gottstein: Das ist ein bisschen wie die Gewaltenteilung in der Demokratie. Der Stiftungsrat ist das kontrollierende Gremium. Er hat die Obhut über die Stiftung, die Anlage und Verwaltung des Stiftungsvermögens, und er entscheidet darüber, wie viel Geld im Jahr ausgegeben werden kann. Der Rat besteht vor allem aus verdienten Persönlichkeiten der Finanzwelt, einem Mitglied der Familie von Siemens und einem der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, das ist momentan Peter Ruzicka. Der Rat benennt auch die Mitglieder des Kuratoriums, trifft aber selbst keine inhaltlichen Entscheidungen. Diese Kompetenz liegt beim Kuratorium.

nmz: Worin liegen Ihre Hauptaufgaben als dessen Sekretär?

Gottstein: Ich begleite alle Aktivitäten des Kuratoriums, bereite die eingehenden Anträge und die Sitzungen vor, bin dann auch bei den Sitzungen und Entscheidungen dabei, aber selber nicht stimmberechtigt. Das Kuratorium ist autark und hat auch einen eigenen Vorsitzenden, aktuell Thomas Angyan, der die Sitzungen leitet.

nmz: Welche programmlichen Akzente und Initiativen setzen Sie selbst?

Gottstein: Das sind eher perspektivische Dinge. Das Projekt in Istanbul geht beispielsweise auf meine Initiative zurück. Den Kulturbereich beschäftigt gerade sehr das Thema Nachhaltigkeit. Vom Sekretariat aus haben wir daher eine Arbeitsgruppe gebildet, unter anderem mit dem Goethe-Institut, dem Musikfonds und dem Kölner Netzwerk ON, um für Fördernehmer eine Workshop-Reihe anzubieten, wie man in der Kultur nachhaltig arbeiten kann. Das sind Themen, die wir vom Sekretariat aus setzen. Mein Vorgänger Michael Roßnagl hat beispielsweise die Residenzen in Positano und die räsonanz-Stifterkonzerte initiiert.

nmz: Anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens der Stiftung haben Sie 2022 eine Stiftungsprofessur ausgeschrieben, finanziert über fünf Jahre mit insgesamt 1,25 Millionen Euro. Den Zuschlag bekam nun das Musikwissenschaftliche Institut der FU Berlin.

Gottstein: Schon vor meiner Tätigkeit als Sekretär war ich gebeten worden, für die Aktivitäten zum Jubiläum der Stiftung so etwas wie die künstlerische Leitung zu übernehmen. Da kam die Überlegung auf, neben allen Konzerten, Gesprächsrunden, Publikationen und Feierlichkeiten auch im Bereich Musikwissenschaft etwas zu setzen, was das Jubiläum überdauert. Mit Hilfe vieler Leute konnte dann diese Stiftungsprofessur umgesetzt werden. Die Auswahl aus elf Anträgen traf dann eine kleine Arbeitsgruppe aus zwei Mitgliedern des Kuratoriums mit engem Bezug zu Hochschulen, Isabel Mundry, Kompositionsprofessorin in Zürich und München, und Ulrich Mosch, vormals Professor für Musikwissenschaft in Genf, sowie Imke List und ich aus dem Sekretariat.

Breiter Kenntnishorizont

nmz: Wie viele Fördermittel vergibt die EvS Musikstiftung jährlich?

Gottstein: Das sind circa dreieinhalb Millionen Euro, einschließlich aller Projektmittel, Preisgelder, Musikproduktionen für die Förderpreisträger*innen und den Initiativen.

nmz: Weil der Förderbedarf überall die verfügbaren Mittel übersteigt, muss man auswählen. Es geht also um Kriterien, auch bei Preisverleihungen. Nach welchen Maßstäben entscheidet das Kuratorium bei der Preisvergabe über „herausragende Leistungen“ in Komposition, Interpretation und Musikwissenschaft?

Gottstein: Wenn man auf die bisherigen Preisträger*innen zurückblickt, kann man bei allen „herausragende Leistungen“ feststellen, aber von Künstler zu Künstler anders gelagert. Bei Georges Aperghis ist es die Neudefinition von Musiktheater und des Verhältnisses von Interpret zu Stimme, Klang und Körper, die eine ganze Generation jüngerer Komponisten geprägt hat. Beim aktuellen Preisträger George Benjamin sind es vier große Opern, sein Dirigieren und ein stärker auf handwerkliche Souveränität ausgerichtetes Komponieren. Im Kuratorium wird immer diskutiert, wonach wir entscheiden und wie flexibel Kriterien sein können, weil es in jedem Land andere Ästhetiken und Voraussetzungen gibt. Deshalb ist es wichtig, dass wir einen möglichst breiten Kenntnishorizont von Musik haben.

nmz: Das Kuratorium hat also keine bestimmte Vorstellung davon, was neue Musik ist und wohin sie sich entwickeln sollte?

Gottstein: Nein, es gibt hierüber keinen ausgesprochenen Konsens. Aber wenn man die Auffassungen und Erfahrungen aller im Kuratorium zusammennimmt und sich auch die getroffenen Entscheidungen ansieht, kann man dennoch ein Einvernehmen feststellen. Die mit Preisen Ausgezeichneten erhalten Renommee, Aufmerksamkeit, Rezeption. Viele werden durch Aufführungen bei den von der Stiftung gemeinsam mit dem Lucerne Festival und der musica viva des Bayerischen Rundfunks veranstalteten räsonanz-Stifterkonzerten weiter gefördert.

nmz: Wo viel Geld ist, da ist auch viel Geltung. Wie bewusst ist sich das Kuratorium, dass es Einfluss darauf nimmt, was in Sachen neue Musik als wichtig gilt?

Gottstein: Wir treten selbstbewusst auf und wissen, dass die Preise eine hohe Aufmerksamkeit bekommen, und wir sind auch ein bisschen stolz darauf, dass sie ein so großes Renommee haben. Wenn wir auf die Menschen zurückschauen, die den Hauptpreis erhalten haben, dann sind das alles Persönlichkeiten, die die Musikgeschichte geprägt haben. Da die meisten den Preis eher in fortgeschrittenem Alter erhalten, ist das für sie nicht so sehr ein Karriere-Booster. Das ist viel mehr bei den Förderpreisen der Fall, die zur Stärkung der Laufbahn mit einer CD-Produktion, einer Broschüre und einem Videoporträt verbunden sind. Zugleich ist die Neue Musik sehr vielfältig und es gibt ja auch noch andere Institutionen, die ihrerseits Preise vergeben. Ob ein Preis bedeutender als der andere ist, ist daher vielleicht nicht so entscheidend. Wichtiger ist, dass es verschiedene Gremien und Preise gibt, so dass Pluralität entsteht.

nmz: Entsteht nicht eine Feedback-Schleife, wenn Mittel für Konzerte mit Werken von Komponistinnen und Komponisten beantragt werden, die die Stiftung mit Preisen und Förderungen ausgezeichnet hat?

Gottstein: Wir vergeben Preise, weil wir jemanden für unterstützenswert halten, und diese Wertschätzung bleibt ja bestehen. Weil die Musikstiftung ein hohes Fördervolumen hat, kommen solche Überschneidungen bei uns vielleicht öfter vor.

Interessenkonflikte

nmz: Es gibt immer das Dilemma, dass die nachhaltige Förderung bestimmter Karrieren auf Kosten der Durchlässigkeit und Diversität vieler anderer geht. Die Musikstiftung hat in der Vergangenheit auch immer wieder Mitglieder des Kuratoriums und Stiftungsrats mit Kompositionsaufträgen und Auftritten gefördert. Wie gehen Sie mit solchen Interessenkonflikten um?

Gottstein: Solche Interessenkonflikte sind unvermeidlich. Wenn man einen Komponisten wie Wolfgang Rihm im Kuratorium hat, dann bleibt es nicht aus, dass auch Anträge für Konzerte gestellt und bewilligt werden, in denen Werke von ihm zur Aufführung gelangen. Man will Mitglieder des Kuratoriums nicht dafür bestrafen, dass sie mitarbeiten, und man will auch nicht, dass sich jemand selbst Gelder bewilligt. Wie bei anderen Jurys und Gremien ist es daher auch bei uns übliche Praxis, dass bei Interessenkonflikten die betroffene Person den Raum verlässt, damit dann ohne sie diskutiert und entschieden werden kann. Es gibt auch durchaus Anträge für Aufführungen von Werken der im Kuratorium vertretenen Komponistinnen und Komponisten, die dann abgelehnt werden.

nmz: Zum Auftakt des Jubiläumsjahres 2023 veranstaltete die EvS Musikstiftung in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste eine Podiumsdiskussion, in der es auch darum ging, was die neue Musik heute am nötigsten braucht. Was nämlich?

Gottstein: Das Musikleben verändert sich fortwährend, im Moment aber gravierend, und alle Institutionen müssen darauf reagieren. Iris ter Schiphorst berichtete zum Beispiel davon, dass immer weniger Menschen, die sich für ein Kompositionsstudium bewerben, ihr Musikwissen und Interesse an kompositorischen Prozessen über den Klavierunterricht bekommen haben, sondern eher über YouTube und eigene elektronische Versuche am Computer. Wenn aber Klavierspiel zur Aufnahmeprüfung gehört, werden viele begabte Menschen ausgeschlossen. Darauf müssen Institutionen reagieren. Das ist auch für uns als Stiftung ein Aufruf, die eigenen Förderungen den veränderten Bedingungen immer neu anzupassen.

nmz: Steckt die neue Musik in einer Krise angesichts der fortschreitenden Delegitimierung von Minderheitenprogrammen und des Verlusts an Bedeutung, Wahrnehmung, Rückhalt in Öffentlichkeit, Institutionen, Medien, Politik? Was kann eine Musikstiftung daran ändern?

Gottstein: Im Kuratorium werden Probleme des Musiklebens und seiner Institutionen besprochen, zum Beispiel von Orchestern, die Unterstützung brauchen, um neue Musik zu programmieren. Die Rundfunkanstalten waren nach dem Zweiten Weltkrieg wichtige Förderer der neuen Musik, und da bricht jetzt tatsächlich einiges weg, aber nicht nur bei der Neuen Musik. Wir können als Stiftung keine dauerhaften Strukturprobleme beheben, dafür haben wir kein politisches Mandat und letztlich auch nicht die Mittel. Aber wir können in einzelnen Notsituationen helfen, zum Beispiel im vergangenen Jahr der polnischen Musikzeitschrift „Glissando“, die für das Musikleben des Landes sehr wichtig ist und der plötzlich die staatliche Förderung gestrichen wurde. Da sind wir mit einer Förderung beigesprungen, zumal bereits eine neue Finanzierung und Kooperation für „Glissando“ in Aussicht stand.

nmz: Wo will die Stiftung in Zukunft nicht nur fördernd, sondern selbst gestaltend aktiv werden?

Gottstein: Wir bringen ja eigentlich nicht selber etwas gestaltend hervor. Themen wie Nachhaltigkeit oder Diversität gibt es seit einigen Jahren überall und diese beschäftigen natürlich auch uns. Das sind große und wichtige Langzeitfragen, die auch mit weitreichenden Konsequenzen verbunden sind. Und diese werden uns sicherlich noch länger beschäftigen.


Die Preisverleihung am 26. Mai 2023 im Münchener Prinzregententheater an den 50. Preisträger der Stiftung, George Benjamin, ist dieses Jahr ein öffentliches Jubiläumsfest.

www.evs-musikstiftung.ch

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