Ein Landesjugendensemble schafft es nicht so häufig auf die Titelseite der neuen musikzeitung. Warum eben doch, legt Jürgen Oberschmidt im folgenden Text dar, nachdem er Gelegenheit hatte, eine denkwürdige, besser nachdenkenswürdige Arbeitsphase des baden-württembergischen Landesjugendensembles für Neue Musik zu besuchen. Er erlebte, wie junge Musikerinnen und Musiker dem Eigentlichen ihres Tuns so nah wie nie kamen und dieses Erleben ihren Zuhörern widerspiegelten.
Der Musik auf den Grund gehen
Wer einer Sache auf den Grund geht, der fragt nach dem „Warum“, dem „Woher“ und nach dem „Woraus“. Dieses Fragen nach Real- und Erkenntnisgründen, nach Ursachen und ihren Wirkungen stand im Mittelpunkt der Arbeitsphase des Landesjugendensembles Baden-Württemberg (LJE), die unter Anleitung vom sh|ft ensemble stattfand und mit einem Konzert im Esslinger Kulturzentrum Dieselstraße abschloss.
Was an jenem Freitagabend für das Publikum erlebbar wurde in dem Dazwischen von analog erzeugten und digital manipulierten Klängen, in der Ungewissheit, wo das Geschehen vorbestimmt sei, wo aus dem Moment geschaffen, in den irritierend ungewohnten, ja unbekannten Perspektiven auf die verschiedenen Instrumente – das hatten die jungen Menschen im Laufe der Woche nicht nur geprobt, sondern experimentell erforscht, ausgefeilt, verworfen und geschaffen.
Es sind gemeinsame Kompositionsprozesse, die Beziehungen stiften zwischen Wissen und Entdecken, Forschen und Gestalten, und dabei in ganz elementarer Weise der Frage nachgehen, wie ein daraus Folgendes bestimmt wird: Für Martin Heidegger sind wir „daran gehalten, Wege zu finden, auf denen das Denken dem Denkwürdigen zu entsprechen vermag, statt, behext durch das rechnende Denken, am Denkwürdigen vorbeizudenken“. Das ist für ihn „die Weltfrage des Denkens. An ihrer Beantwortung entscheidet sich, was aus der Erde wird und was aus dem Dasein des Menschen auf dieser Erde“ (GW, Bd. 10, S. 189).
Wenn das eigene Instrumentarium durch Sensoren, Motion Tracking, Licht und Transducer ergänzt wird, wenn experimentelles Musizieren zum Grund des Seins führt und zudem ein Stück erarbeitet wird, das sich mit Wirklichkeit und Täuschung auseinandersetzt, dann darf behauptet werden, dass hier junge Menschen einer Sache auf den Grund gehen. Gerade in unserer Zeit, die uns in vielerlei Hinsicht an einen Endpunkt historischer Zwangsläufigkeiten geführt hat, wo das „rechnende Denken“ uns täglich dazu auffordert, am „Denkwürdigen vorbeizudenken“, brauchen wir solche Momente des Innehaltens. Das berührt unser geschäftiges und stets auch von Optimierungsdruck bedrängtes Musizieren, das betrifft unser geplagtes Bildungssystem und unser gesellschaftliches Miteinander insgesamt.
Die von Hannes Brugger, Tom Goemare und Johannes Werner – allesamt sowohl Schlagzeuger, Performer, Klang- und Medienkünstler – geleitete Arbeitsphase kann also nicht nur in dieser hier beschriebenen Weise als „denkwürdig“ bezeichnet werden. Schließlich öffnen sich die jungen Musikerinnen und Musiker für die ganz wesentlich zum Menschsein gehörende Frage, wie wir immer neue Anfänge machen können: Im multimedialen Experimentieren zwischen analogen und digitalen Praxen erleben sich auch die auf dem Instrument versierten Musikbegeisterten als Neuankömmlinge, finden in einer gedanklichen Stunde Null immer wieder zu solchen Momenten der Neubesinnung, entwickeln dabei gemeinsame Kompositionsprozesse, arbeiten im Team.
Das Ergebnis ist eine musikalische Bildungsarbeit in gesellschaftlicher Verantwortung, die mehr Gehör finden sollte in einer Gesellschaft, in der einzig ein Loblied auf die Konkurrenz gesungen wird und die Logik von Wettbewerben und Exzellenz immer mehr in all ihre Bereiche einsickert, wo gewogen und gemessen wird, und wo selbst menschliche Beziehungen einem Zweck unterworfen werden, wo wir Menschen nicht mehr auf unsere innere Stimme hören, sondern nur noch als Tonabnehmer funktionieren.
Zwar wird die Beschäftigung mit experimentellen Musizierformen die „Weltfrage des Denkens“ nicht beantworten. Doch wenn wir uns dem stellen wollen, was aus der Erde und aus uns Menschen wird, wenn wir junge Menschen dazu befähigen wollen, mit ihren Ängsten, Erwartungen, Hoffnungen und Träumen ein selbstbestimmtes Leben zu führen, dann muss es mehr Initiativen wie diese geben.
Wir brauchen solch ein experimentelles Musizieren, um uns im Miteinander zu stärken und dabei gleichzeitig als Individuum zu spüren, wir brauchen solche neuen Wege, die Grenzen überschreiten und das Unerhörte hörbar machen, um nicht an den selbst auferlegten Zwängen zu ersticken und um zu begreifen, dass es auch eine gesellschaftliche Bewegung nach vorn gibt!
Jürgen Oberschmidt
Der Autor ist Professor an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und Präsident des BMU
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