Vor fast einem Jahr bekam ich eine E-Mail von einem Kollegen aus Polen, der mir anbot, einige meiner Stücke als „Score Videos“ ins Internet zu stellen. Da so etwas immer sehr viel Arbeit ist, war ich als Komponist sehr dankbar für dieses Angebot und nahm es gerne an.
Moritz Eggert.
Andere Wege
In der Folge produzierte er mehrere Videos und es entwickelte sich ein angeregter und regelmäßiger E-Mail-Austausch über verschiedenste Themen der Neuen Musik. Mein Kollege erwies sich dabei als äußerst eloquent und kundig sowie mit einem profunden Wissen über die Szene ausgestattet. Seine in hervorragendem Englisch geschriebenen Mails las ich gerne, daher war es für mich selbstverständlich, ihn irgendwann nach seinen eigenen Arbeiten zu fragen, denn ich war mir aus unserer Konversation inzwischen sicher, dass er selbst auch Komponist sein musste. Er schickte mir einige Partituren, die ich wirklich beachtlich und interessant fand. Sie waren auf hohem Niveau notiert und mit jeweils sehr originellen musikalischen Ansätzen versehen. Nach meiner Vorstellung hatte ich es mit einem etwas jüngeren, vielleicht mittelalten Kollegen zu tun. Aus ehrlicher Begeisterung bot ich ihm daher ein, ein paar Kontakte zu deutschen Festivals zu vermitteln, um seine Musik auch hier bekannter zu machen.
Es folgte die schüchterne Antwort, dass er gar nicht so richtig wüsste, wie man das anstellt, schließlich sei er ja erst 16 Jahre alt und noch nicht einmal mit der Schule fertig! Nach dieser erstaunlichen Info wollte ich mehr erfahren – über seinen Background und natürlich sein Umfeld. Die Antworten waren erstaunlich – bisher hätte er kaum Anschluss in Polen, eigentlich keinen Lehrer und plante jetzt gerade seine ersten selbstfinanzierten Konzerte als Pianist. Die Eltern – Fitnesstrainer von Beruf – hätten zwar keinerlei Ahnung, was er da musikalisch macht, würden ihn aber freundlich unterstützen und dabei ermutigen. Innerhalb der Familie gab es keinerlei Personen, die mit Musik zu tun hatten, auch nicht in den Generationen vorher. Aber dieser junger Kollege besaß schon mit 16 eine Sammlung von tausenden gedruckten Partituren, die er täglich studierte und arbeitete schon an gigantischen Projekten wie großen Opern, Orchesterwerken und stundenlangen Klavierzyklen von großer Komplexität. All sein Wissen hatte er sich selbst angeeignet, nachdem er als Kind fasziniert von einem YouTube-Video mit zeitgenössischer Musik gewesen war.
Ich erzähle diese Geschichte, weil sie mir Hoffnung macht. Wir mögen in Deutschland den Verfall von Bildung beklagen, wir mögen voller Angst an eine Zukunft denken, in der klassische Musik zunehmend marginalisiert wird und Institutionen an Unterstützung verlieren. Es ist wert, dafür zu kämpfen. Es ist auch wichtig, der Kommerzialisierung und Verflachung immer wieder Inhalte und Tiefe entgegenzusetzen, gerade in Zeiten von räuberischer KI-Musik.
Aber Musik findet auch in schwierigen Zeiten ihren Weg. Und diese Wege basieren auf den Möglichkeiten von heute. Das Internet ist in vielen seiner Auswirkungen Fluch und Geißel unserer Zeit, aber es eröffnete auch einem jungen polnischen Kollegen Möglichkeiten, die es zuvor in der Geschichte der Musik noch nie gab. Es gibt weitere ähnliche Geschichten wie die seine. Eine neue Generation wächst heran, die sich vieles selbst aneignet, weil es verfügbar ist.
Ihr Blick wird ein anderer sein als der in den Generationen davor. Ich bin schon jetzt gespannt darauf, wie das die Musik verändern wird.
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