Vor etwas mehr als 500 Jahren traten Komponisten (wie auch bildende Künstler) erstmals als selbstbewusste Persönlichkeiten in Erscheinung. Legendär sind die Worte, mit denen etwa Josquin Desprez beschrieben wurde: „Dass Josquin besser komponiert, ist richtig, aber er komponiert, wenn er es will und nicht, wenn man es von ihm erwartet.“ Der Herzog von Ferrara berief ihn trotzdem (vielleicht aber auch gerade wegen dieser Eigenart): Das blieb in der Musikgeschichte freilich die Ausnahme. Bachs musikalisches Wollen wurde in Leipzig durch die unzulängliche Sängerschar behindert (irgendwann wurde die gute Stimme eines Knaben aus dem Kriterienkatalog gestrichen), Mozart wurde mit einem ordentlichen Tritt in den Allerwertesten aus den Salzburger Diensten entlassen. Zumindest letzterer war offenbar nicht institutionalisierbar, Beethoven hat es erst gar nicht versucht …

Reihe 9 in der Isarphilharmonie München. Foto: mku
Reihe 9 (#100) – Harmonielehre
Damit war gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Wende erreicht: Gehörte es bis dahin zur unausgesprochenen Stellenbeschreibung eines Hofkapellmeisters, eines Kantors oder Director musices, das jeweilige Orchester oder den Chor mit neuen Werken zu versorgen, so zog nun allmählich die moderne Arbeitsteilung ins Musikleben ein – wenn auch, je nach biographischer Station, mit unterschiedlicher Gewichtung. Max Reger etwa widmete sich, nachdem er Hofkapellmeister in Meiningen geworden war (und als unkonventioneller Dirigent den Klangkörper entscheidend weiterentwickelte), vor allem neuen größeren Orchesterwerken. Im weiteren 20. Jahrhundert, als es immer mehr um geschlossene Studiengänge ging, setzte dann eine Professionalisierung ein. Die Schnittmenge zwischen Komponieren und Dirigieren, zwischen Dirigieren und Komponieren ist zwar noch vorhanden, aber auch selten geworden. Ohne die Möglichkeit von großformatigen Tonaufnahmen blieb Mahler vor allem als Komponist präsent (bzw. erlebte eine Renaissance), Furtwänglers Werke sind fast vergessen, Bernstein schaffte mit seinen Musicals (nicht nur mit der West Side Story) den Spagat fast bis zur Popularität; fast alle seiner Interpretation auf Tonträgern strahlen noch immer eine unglaubliche Energie aus.
Komponisten sind bekanntlich nicht immer die besten Anwälte ihrer eigenen Werke. Auch heute noch finden sich zahlreiche Zeitgenossen, die vor allem mit auf Neue Musik spezialisierten Ensembles in einer Doppelfunktion präsent sind. So entstehen scheinbar auktoriale Interpretationen, wo doch aber eine fertige Partitur in die Welt entlassen werden sollte, um weite Kreise zu ziehen und auch immer wieder neu gedeutet zu werden. Bei bekannten Repertoirestücken ist dies sogar die Erwartungshaltung des Publikums, bei neueren Partituren hält man sich hingegen zurück. Neuerdings touren aber gefeierte Altmeister durch die Säle. Ich denke an John Williams, der seine Filmmusiken mit den renommiertesten Orchestern musiziert hat (und dies auch noch umfänglich dokumentiert wurde), während seine „freien“ Kompositionen kaum Gehör finden, dann aber auch an den Konzertabend in der Isarphilharmonie mit dem bald 80-jährigen John Adams und den Münchner Philharmonikern. Tempus fugit, und doch glaubt man es kaum. Wer sich allerdings neue Einsichten erhofft hatte, wurde nach dem eröffnenden Short Ride in a Fast Machine enttäuscht. Die orchestrierten Debussy-Lieder verklangen glanzlos, nach der Pause wirkte die dreisätzige Harmonielehre (1984/85) geradezu um ihren eigenen Drive und aller wunderbaren Farbwechsel beraubt. Mit der Ersteinspielung von Edo de Waart seit Jahrzehnten im Ohr erschien die Interpretation sowohl im Tempo wie auch dynamisch unausgewogen – so als ob der große Klangkörper sich ein wenig selbst überlassen blieb. Dem Jubel der Fans tat dies keinen Abbruch.
PS. Ein Wort in eigener Sache. Seit nun schon 100 Monaten erscheint die Reihe 9 regelmäßig und bei Wind und Wetter – zunächst in der Schweizer Musikzeitung, seit Anfang 2023 in der neuen musikzeitung. Ohne Pia Schwab wäre sie nicht entstanden und auch nicht zu dem geworden, was sie jetzt ist. Heute wird die Kolumne von Martin Hufner und Mathis Ubben betreut. Euch allen ein herzliches Dankeschön!
Reihe 9
Immer am 9. des Monats setzt sich Michael Kube für uns in die Reihe 9 – mit ernsten, nachdenklichen, manchmal aber auch vergnüglichen Kommentaren zu aktuellen Entwicklungen und dem alltäglichen Musikbetrieb. Die Folgen #1 bis #72 erschienen von 2017 bis 2022 in der Schweizer Musikzeitung (online). Für die nmz schreibt Michael Kube regelmäßig seit 2009.
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